6. Zusammenfassung.
Der abgeschlossene mannigfaltige Sprachgebrauch seit dem Ausgang des 2. Jahrhunderts.
Ausblicke
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(1) Ob Jesus selbst über die Botschaft hinaus, daß sich Jes 61, 1 (לּבשֹּר עּנּוים) nunmehr erfülle, das Wort בּשֹרה (εὐαγγέλιον) für seine Predigt in zusammenfassendem Sinne gebraucht hat, ist, da Q schweigt, nicht ganz sicher. Sicher ist, daß er das Kommen des Gottesreichs verkündet hat und daß diese Verkündigung als

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Freudenbotschaft gemeint war, so gewaltig ihr Ernst war und so furchtbare Schrecken dem Kommen des Reichs nach eben derselben Verkündigung vorangehen mußten.

(2) Die Urgemeinde hat die Predigt vom Kommen des Reichs als בּשֹרה bezeichnet, und ihre hellenistischen Mitglieder in Palästina1 haben dafür das Wort εὐαγγέλιον gesetzt, obgleich sich dieses Wort bei den LXX nicht findet (sie schrieben ἡ εὐαγγελία). Marcus braucht das Wort bereits ohne jede Determinierung, also als ein bekanntes und geläufiges. An der einzigen Stelle, an der er es determiniert, erscheint es als Frohbotschaft von der Nähe des Reichs, sodaß es nicht gestattet ist, dem Begriff bei Marcus einen spezifisch christologischen Sinn beizulegen. Matthäus fügt „τῆς βασιλείας” ausdrücklich zur Bestimmung des Begriffs hinzu und hält damit den ursprünglichen Sinn bewußt fest, wenn er ihn auch insofern vertieft, als für ihn das innere Wesen des Reichs den Hauptinhalt der Frohbotschaft bildet.

(3) Paulus erhebt den Begriff εὐαγγέλιον zum formalen und materialen Zentralbegriff seiner Predigt. Er faßt ihn als die Botschaft von dem durch die Propheten verkündeten, durch den Tod und die Auferstehung Christi verwirklichten Heilsratschluß Gottes. Daher kann er auch sagen (causa pro effectu), daß Christus der Inhalt des Evangeliums ist, bezw. sein Leiden und Auferstehen. Aber wenn er von dem εὐαγγέλιον Χριστοῦ spricht, meint er das nicht anders, als wenn er das Evangelium als εὐαγγέλιον θεοῦ bezeichnet. Dennoch kann nicht


1) Da Paulus, Marcus und Lucas (in einer Petrusrede) das Wort εὐαγγέλιον bieten, dazu der in Palästina schreibende Matthäus (wenn er auch Marcus vor sich hatte), da Paulus durch nichts verrät, daß er das Wort eingeführt habe und da der Name „Evangelist” bis nach Palästina zurückreicht (s.o.), so ergibt sich der palästinensische Ursprung.

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verkannt werden, daß Paulus so verstanden werden mußte, und es auch wesentlich so gemeint hat, daß die Botschaft von Christus und das Evangelium sich decken. Das war eine ungeheure Wendung! Der Gegensatz von Evangelium und Gesetz findet sich in bestimmter Entgegensetzung nirgendwo bei Paulus; er denkt nicht an das Gesetz, wenn er von Evangelium spricht, sondern an die Erfüllung der Verheißung. Der ihm so wichtige Gegensatz der neuen Religion zum Gesetz ergibt sich in seiner Lehre an einem anderen Punkt. Dagegen denkt er Evangelium und „Heil” (σωτηρία) untrennbar zusammen und zwar Heil für den Einzelnen. Der Einzelne, der dem Evangelium Glauben schenkt, wird gerecht. Das ist die zweite große Wendung! Sie ist in der Verkündigung Jesu deutlich vorbereitet, aber liegt noch in der Reichspredigt eingebettet.

(4) Lucas, der selbständige Genosse des Paulus, sieht aus für uns undurchsichtigen Gründen vom Gebrauch des Wortes εὐαγγέλιον ab (ebenso Johannes), ist aber so geschichtstreu, es dem Petrus und Paulus zu lassen und macht in seinen beiden Werken einen sehr umfangreichen Gebrauch von εὐαγγελίζεσθαι. Hierbei aber ist höchst charakteristisch, daß er Jesum konstant „das Reich” als Frohbotschaft verkündigen läßt, die Apostel aber ebenso konstant Jesum Christum. Nur einmal — und für die früheste Zeit der Mission — läßt er einen Missionar (Philippus) das Reich und Jesum Christum zugleich als Frohbotschaft verkündigen. Lucas verbindet also in höchst überlegter Weise den älteren Sprachgebrauch des Marcus mit dem des Paulus, indem er jedem sein Recht gibt. Auch von ihm kann man also lernen, daß sich innerhalb der Heidenmission sehr frühe das Evangelium vom Reich in das Evangelium von Christus gewandelt hat.

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(5) Das Wort εὐαγγέλιον = Inbegriff der Missionspredigt — abgelehnt von Lucas, Johannes und dem Verfasser des Hebräerbriefs, festgehalten vom 1 Petrusbrief — erlebt nun in der Kirche eine andere Geschichte als das Wort εὐαγγελίζεσθαι. Während dieses in der allgemeinen Bedeutung verharrt, stellt sich für „εὐαγγέλιον” in einem Prozeß, der oben nachgewiesen worden ist, ein vierfacher Sinn fest: Es bleibt (1) Gesamtausdruck für die christliche Verkündigung. Es erhält (2) den Sinn: Botschaft von dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, weil diese Verkündigung Kern und Hauptsache ist (daher bewährt sich nur der Christ im eigentlichsten Sinn nach dem Evangelium, der das Martyrium erleidet). Es erhält (3) den Sinn: „Evangelische Geschichte” (Taten und Worte Jesu), bezw. es bezeichnet die in einem viergestalteten Schriftwerk aufgezeichnete Geschichte Jesu (εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον, κτλ.), bezw. jeden einzelnen Teil dieses Schriftwerks („evangelii libri”; „Evangelium des Mt” usw; Evangelien). Endlich (4) bezeichnet Evangelium das Wesen und die Wirkung der neuen Religion als der Gnaden- und Freiheitsreligion im Unterschied von der alttestamentlichen Stufe des Gesetzes und der Knechtschaft. Den altkatholischen Vätern ist dieser vierfache Sinn des Wortes „Evangelium” bekannt und geläufig1.

Sämtliche heilige Schriften sind von zahlreichen Vätern „Herrnschriften” genannt worden2; sämtliche sind auch als prophetische Schriften und ihre Verfasser als Propheten bezeichnet worden3; sämtliche erhielten endlich auch den


1) Auch die Adjektiva εὐαγγέλιος (so zuerst Theophilus), εὐαγγελικός (Irenäus), evangelicus (Tertullian) kommen jetzt auf. Auch εὐαγγελισμός findet sich bald. Die Lateiner (Itala, Tert.) bilden „evangelizare”.
2) S. Zahn, Kanonsgeschichte I S. 96ff.
3) Die Bezeichnung ist selten.

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Titel „lex” (so namentlich in Afrika) — aber „Evangelium” sind sie m.W. von niemandem bezeichnet worden (obgleich der Satz galt, daß die Schriften des Moses, David usw. Christi Schriften seien; so Irenäus IV, 2, 4; IV, 9, 1;  Tert., de carne 20 etc.). Die oben aufgeführte vierte Bedeutung des Wortes hat das verhindert. Umgekehrt findet sich aber auch lex und evangelium als Bezeichnung der beiden Teile der Bibel nicht eben häufig. Dagegen wird die Neutestamentliche Schriftensammlung nicht nur zweiteilig als Evangelium und Apostolus, sondern auch einfach als Evangelium1 bezeichnet2.

Die spätere Geschichte des Wortes „Evangelium” in der Kirche ist noch nicht geschrieben — eine merkwürdige Vernachlässigung! Es seien zum Schluß fünf Punkte hervorgehoben, die eine künftige Untersuchung besonders ins Auge zu fassen hat:

(1) Novatian und seine Bewegung. Das „Evangelium” ist hier besonders akzentuiert worden, und beide Hauptgegner Novatians, Cornelius und Cyprian, bezeichnen ihn daher höhnisch als „adsertor evangelii et Christi”3. Die Bekenntnispflicht und die dem Bekenntnisse zugesagte Verheißung waren dem Novatian das Evangelium.


1) Doch auch als „apostoli” (s. das Murator. Fragment und Tertull. adv. Hermog. 45; de pudic. 12).
2) Vielleicht hat schon Irenäus (IV, 31, 1; II, 27, 2) evangelium (evangelia) so gebraucht. S. Tertull. adv. Hermog. 20: „instrumentum vetus — evangelium”; adv. Prax. 20: „veteres scripturae — evangelium”; adv. Marc. IV, 1. 8; V, 3: „lex — evangelium”; Scorp. 2: „lex — evangelia”. Zahn (a.a.O. S. 101) meint, daß schon Theophilus τὰ εὐαγγέλια im Sinne vom NT gebraucht habe, aber das läßt sich nicht nachweisen. Dagegen ist dieser Sprachgebrauch bei Clemens und Origenes zu belegen.
3) S. meinen Artikel „Novatian” in der Protest. Real-Encylop.3 Bd. 14 S. 231. 239.

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Ob er aus dem Evangelium noch anderes hinzunahm und seinen Jüngern als „Evangelium” einschärfte, wissen wir nicht sicher. Aber das wissen wir, daß er eine Kirche von „Evangelischen” wollte.

(2) Augustin. Er ist der erste, der nach Marcion (und Irenäus) den Gegensatz von lex und evangelium in seiner Schärfe erkennt, herausarbeitet und namentlich in der Schrift „de spiritu et littera” an das Licht stellt. Das geht von ihm in die Scholastik und zu Luther über.

(3) Franciscus und die verwandten Richtungen. Evangelium als das Evangelium der Armut und Demut. Damit aufs nächste verwandt, daß nunmehr die alte Unterscheidung von praecepta und consilia zur Unterscheidung von praecepta und consilia evangelica wird. Die Bergpredigt wird zum Evangelium und Matth. 10.

(4) Luther, der die Erkenntnis des Paulus, Johannes, Irenäus und Augustin von dem Gegensatz des Gesetzes und des Evangeliums zur fundamentalen macht und dabei den Begriff des Evangeliums neu bestimmt.

(5) Entstehung der Bezeichnungen: „die Evangelischen”, „die Evangelische Kirche”. Geschichte des Begriffs „Evangelisch” an sich und im Verhältnis zu „Protestantisch” innerhalb der Reformationskirchen. Versuche innerhalb des Protestantismus, durch Usurpation des Begriffs „Evangelisch” Sonderrichtungen auszudrücken. Mannigfaltigste Bestimmung des Begriffs „Evangelium” z.T. gradezu im Gegensatz zu dem paulinischen. Ausspielen des „Evangeliums” gegen das apostolische Christentum.


Harnack, A. (1910)