|16|

4. Die komplizierte Anlage der Urgemeinde, die Mehrheit der Autoritäten, der Ursprung heiliger Rechtsordnungen.

Lehrer und Schüler (wenn auch das Bewußtsein um dieses Verhältnis immer mehr abnahm) — eine anfangs fast familienhaft zusammenlebende Gemeinde — das wahre Israel, in dessen Mitte der Herr demnächst erscheinen wird und dem alle Rechte und Ordnungen des Volkes zukommen — eine himmlische Gemeinschaft, die nur für eine kurze Spanne Zeit in diesem Äon erschienen ist: alles das wogte von Anfang an ineinander. Reicher und komplizierter ausgestattet ist wohl nie in der Religionsgeschichte eine neue Gemeinschaft aufgetreten! Auch die Rechtsbildung, die sofort eintrat, zeigt schon in ihren embryonalen Stadien die komplizierteste Anlage. Die älteste Gemeinde wußte sich noch als jüdische d.h. sie empfand sich an die Autorität des Gesetzes und aller zeitgeschichtlicher Ordnungen, die mit ihm zusammenhingen, gebunden; aber im Konfliktsfalle sah sie sich genötigt, sich der Autorität des jerusalemschen Gerichtshofs zu entziehn (AG 5, 29: πειθαρχεῖν δεῖ θεῷ μᾶλλον ἢ ἀνθρώποις); denn sie mußte den Weisungen des „Geistes” und den Geboten Jesu unbedingten Gehorsam leisten. In und mit dieser zweiten und dritten Autorität neben dem AT und den väterlichen Ordnungen war ferner noch eine Autorität der Zwölfe unter der Führung des Petrus als Lehrer und Regierer gegeben (s.o. sub 1), und diese muß auch in dem Recht dieser Zwölfe auf solenne Sündenvergebung — unbeschadet des allgemeinen Rechts und der allgemeinen Pflicht der Sündenvergebung — hervorgetreten sein (Mt 16, 19; 18, 18; Joh 20, 23). Diese Gewalt, an und für sich nicht rechtlicher Natur, wurde doch zu einer förmlichen richterlichen Funktion. Aus der dunklen Geschichte AG

|17|

5, 1 ff. (Ananias und Sapphira) läßt sich mit Wahrscheinlichkeit entnehmen, daß Petrus als Haupt der Zwölf Strafgewalt ausgeübt bezw. den Strafvollzug des „Geistes” bewirkt hat („Große Furcht” in der Gemeinde, AG 5, 11). Aber auch die Gemeinde selbst konnte Strafgewalt ausüben bis zum Bann, wenn die brüderliche Vermahnung unter vier Augen und dann vor Zeugen nichts gefruchtet hatte (dieser Instanzenzug Mt 18, 15 ff.; er schließt: εἰπὸν τῇ ἐκκλησίᾳ· ἐὰν δὲ καὶ τῆς ἐκκλησίας παρακούσῃ, ἔστω σοι ὥσπερ ὁ ἐθνικὸς καὶ ὁ τελώνης). Neben diesen Autoritäten, deren Zusammenwirken uns dunkel ist und unter denen Einzelne (Petrus, Johannes) noch eine besondere Rolle spielten, gewannen schließlich noch die Verwandten Jesu als Verwandte, vor allem Jakobus, eine gewisse Autorität (s.u.).

Die Transformation der Judenkirche und Synagoge in die Ekklesia Gottes belastete und festigte die christliche Gemeinde von Anfang an und gab ihr Rechtsordnungen. Rechtsordnungen erwuchsen ihr aber auch aus der Überzeugung, die messianische Gemeinde der Endzeit zu sein; denn als solche mußte sie sich rein und heilig erhalten, was letztlich nur durch Strafen und Bann geschehen konnte. Endlich mußte sie neue Lebens- d.h. Rechtsordnungen ausbilden, weil sie das gesamte Leben und Denken ihrer Gläubigen sowie das gesellschaftliche Verhältnis derselben zueinander mit Beschlag belegte und alles einer neuen und festen Ordnung, auch in ökonomischer Hinsicht, zu unterwerfen suchte. Für die neuen Lebensordnungen sollte die in der Familie herrschende Brüderlichkeit als die der messianischen Zeit am meisten entsprechende Lebensform vorbildlich sein; aber man würde sich, wie unsere Andeutungen zeigen, ein falsches Bild von den Zuständen der Gemeinde von Jerusalem in den ersten Jahren machen, wenn man sie sich etwa wie einen Verein kommunistischer Quäker vorstellen wollte. Etwas davon und von einem sanften

|18|

pneumatischen Anarchismus war allerdings wohl vorhanden; aber mit ihm konkurrierten die gewaltigen, rechtsbildenden Kräfte der jüdischen Ordnungen, ferner das in der Verwirklichung begriffene messianische Reichsideal, weiter die Prärogative der „Zwölf” und die Gewalt der (durch die Leitung des Geistes) unfehlbaren Gemeinden. Dazu: zu der Autorität des ATs trat die Autorität der Herrnworte, denen man Gebot um Gebot entnahm. Das waren alles absolute Autoritäten, die die freie Bewegung des Einzelnen und auch die Selbständigkeit und „Gleichheit” in engen Grenzen hielten.


Harnack, A. (1910)