4. Der Übergang des Wortes „Evangelium” zur Bezeichnung der Worte und Taten Jesu und ihrer schriftlichen Aufzeichnung.

Daß das Wort „evangelium” im christlichen Sprachgebrauch als dogmatischer und erbaulicher Terminus früh zurückgetreten ist, ist durch eine neue engere Bedeutung Verursacht worden, die zich ziemlich schnell aus der ursprünglichen entwickelte und in der es für alle Zeiten in der Kirche fortleben sollte. Wir beobachten, daß es seit dem 2. Jahrhundert als Bezeichnung der Worte und Taten Jesu, wie dieselben in der Missionswirksamkeit fortgepflanzt wurden, und fast gleichzeitig auch als Bezeichnung eben dieser Worte und Taten als schriftlich fixierter, ja sehr bald dann auch im Plural (= die Evangelienbücher) gebraucht wird. Dieser Sprachgebrauch setzte sich mit großer Kraft und Schnelligkeit durch und erfuhr seinen Abschluß in der Prädizierung der vier Herrn-Schriften des Matthäus,

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Marcus, Lucas und Johannes als τὸ εὐαγγέλιον τετράμορφον, bezw. als die vier Evangelienbücher, bezw. als die vier Evangelien.

Die Einschränkung des bedeutenden Begriffs „Evangelium” auf die Worte Jesu und die Erzählungen vom Herrn und sodann auf ihre schriftliche Fixierung ist eine kirchengeschichtliche Tatsache ersten Ranges. Sie wirft ihr Licht rückwärts und vorwärts. Rückwärts — in welchem Grade muß die Mitteilung der Herrn-Worte und -Taten den Hauptinhalt der Frohbotschaft von Anfang an gebildet haben, wenn sie terminologisch und exklusiv mit ihr identifiziert wurde1! Vorwärts — wie stark ist die Nötigung, die Evangelienbücher als Bücher der Evangelisation zu betrachten, wenn sie den Namen von ihr erhalten haben!

In unseren Evangelien selbst, bei Paulus im ganzen NT, bei 1 Clemens, Polykarp und Barnabas weist noch nichts deutlich darauf hin, daß „Evangelium” bald die uns geläufige Bedeutung erhalten solle. Zwar nahm man seit dem Ausgang des 2. Jahrhunderts in weiten Kreisen in der Kirche an, Paulus habe 2 Ko 8, 18 das Lucas-Evangelium gemeint (Orig., Hom. I in Lc, u.a.), und sogar die Stellen, wo er von seinem Evangelium spricht, wurden auf dieses Buch von Marcioniten und Katholiken bezogen (Euseb., h.e. III, 4). Allein diese Meinung bedarf heute keiner Widerlegung mehr; sie konnte erst aufkommen, nachdem der neue Sprachgebrauch in Bezug auf „Evangelium” sich durchgesetzt hatte2. Wenn man im ersten Jahrhundert sich


1) Hieraus folgt sofort, daß es unrichtig ist zu meinen, die älteste Verkündigung habe die Erzählung von Jesus gegenüber der Erzählung vom Christus vernachlässigt. Wie verbreitet ist aber jetzt diese Meinung!
2) Am nächsten scheint Paulus dem späteren Begriff von Evangelium zu kommen, wenn er 1 Ko 15, 1ff. die Korinther an „das Evangelium” erinnert, das er ihnen verkündigt hat, und dann die ➝

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auf Herrn-Worte bezog, brauchte man nie die Formel „Evangelium”, sondern schrieb: μνημονεύειν τῶν λὀγων τοῦ κυρίου Ἰησοῦ, ὅτι εἶπεν, oder ähnlich (s. AG 20, 35; 1 Clem. 13. 46; Apost. KO 8; Polyk. ad Phil. 2 1), und wenn man den Komplex von Taten und Worten Jesu bezeichnen wollte, so sagte man wohl mit dem Presbyter Johannes bei Papias τὰ ὑπὸ τοῦ Χριστοῦ ἣ πραχθέντα, bezw. auch τὰ λὀγια κυριακά (Euseb. III, 392) oder τὰ κηρυσσόμενα (vgl. Iren. III, 1, 1).

Wo findet sich nun zuerst die Bezeichnung „Evangelium” auf jenen Komplex angewendet, sei es als einen mündlich tradierten vorgestellt, sei es als einen schriftlichen? Bei Irenäus in Lyon steht der Sprachgebrauch bereits ganz fest, und zwar auf das εὐαγγέλιον τετράμορφον ausschließlich bezogen. Auch Theophilus in Antiochia um d.J. 180 bietet ihn3, Soter um d.J. 170 (2 Clemens, s.o.) in Rom folgt ihm und man kann beweisen, daß er ein geschriebenes Evangelium meint. Aber auch bereits dem Justin ist der Sprachgebrauch geläufig; er läßt Dial. 10 den


➝ Tatsachen des Todes, des Begräbnisses, der Auferstehung usw. Jesu aufführt. Allein bei näherer Betrachtung schwindet dieser Schein. Als „Lehrstücke” sozusagen hat er ihnen dieses überliefert (παρέδωκα ὑμῖν ἐν πρώτοις) d.h. als Hauptstücke der grundlegenden Missionspredigt, bei der es außerdem nicht nur auf das „Was”, sondern ebenso auf das „Wie” (die Deutung) ankam (τίνι λὀγῳ εὐηγγελισάμην ὑμῖν).
1) Im Brief des Polykarp kommt εὐαγγέλιον überhaupt nicht vor, wohl aber einmal der Ausdruck οἱ εὐαγγελισάμενοι ἀπόστολοι (c. 6), wie im Clemensbrief.
2) Daß letzteres so zu verstehen ist, kann hier nicht bewiesen werden. Ich stimme in dieser Auslegung Zahn bei.
3) Theoph. ad Autol. III, 12 schreibt: Ἔτι μὴν καὶ περὶ δικαιοσύνης, ἧς ὁ νόμος  εἴρηκεν, ἀκὀλουθα εὑρίσκεται καὶ τὰ τῶν προφητῶν καὶ τῶν εὐαγγελίων ἔχειν (man beachte den Plural). Dazu III, 13: ἡ εὐαγγέλιος φωνή, und III, 14: Ἡσαΐας ἔφη ... τὸ δὲ εὐαγγέλιον˙ Ἀγαπᾶτε, φησίν, τοὺς ἔχθρους κτλ.

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Trypho sprechen: ὑμῶν τὰ ἐν τῷ λεγομένῳ εὐαγγελίῳ παραγγέλματα θαυμαστά, und Dial. 100 sagt er selbst: ἐν τῷ εὐαγγελίῳ γέγραπται (folgt Mt 11, 27)1. Daß auch er geschriebene Bücher meint2, ist nicht nur nach dieser Stelle zweifellos3.

Die zeitlichen Grenzen, innerhalb deren der neue Sprachgebrauch aufgekommen ist, sind eng. Wenn er sich bei Clemens, dem Presbyter Johannes und Polykarp noch nicht findet, dagegen bei Justin um d.J. 150, so stehen höchstens 30-40 Jahre offen. In diese Zeit fällt — das dürfen wir mit Gewißheit sagen — die Entstehung des neuen Sprachgebrauchs, der also aufgekommen ist, nachdem die erste und wesentlich auch schon die zweite Generation vom Schauplatz abgetreten war und das höchste Interesse ich darauf konzentrierte, festzustellen und festzuhalten, was man von Jesus wußte. In diese Zeit fällt aber auch die Feststellung des Vier-Evangelien-Kanons. Die Aufschriften desselben, die in den ältesten Handschriften und Bezeugungen konstant sind, lassen keinen Zweifel darüber, daß die vier Schriften bereits bei ihrer Zusammenstellung den Gesamtnamen „Εὐαγγέλιον” erhalten haben und jede einzelne mit κατὰ (Ματθαῖον, κτλ.) die Bezeichnung ihres


1) Auf die Stelle Apol. I, 66: ἀπομνημονεύματα ἃ καλεῖται εὐαγγέλια, kann man sich nur mit Zurückhaltung berufen; denn die drei letzten Worte sind möglicherweise eine Glosse (Schleiermacher). Der Plural ist für diese Zeit auffallend. Aber da ihn Theophilus (s.o.) bietet, kann ihn auch schon Justin gebraucht haben.
2) Und zwar unsre vier Evangelien, wenn auch nicht ausschließlich (auch scheint es mit dem vierten Evangelium eine besondere Bewandtnis bei ihm zu haben).
3) Εὐαγγελίζεσθαι ist bei Justin stets in Beziehung auf Jesus gebraucht; Apol. I, 33 und Dial. 100 steht es vor der Engelsbotschaft an Maria, Dial. 136 von den ATlichen Propheten, sofern sie Jesum verkündigt haben.

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Urhebers empfing1. Hiernach ist nicht jede dieser Schriften „ein” Evangelium, sondern sie ist nach ihrem Verfasser bezeichnetet Darstellung des Evangeliums.

Aber wenn die vier Schriften gemeinsam so bezeichnet worden sind — und zwar höchst wahrscheinlich in Kleinasien zuerst —, so muß dieser Sprachgebrauch bereits vorhanden gewesen sein. Wo finden wir ihn zuerst bezeugt? Die Frage ist eigentliche eine Doppelfrage: wo werden τὰ ὑπὸ τοῦ Χριστοῦ λεχθέντα καὶ πραχθέντα zuerst „Evangelium” genannt, und wo erhält eine Niederschrift jenes Komplexes zuerst diesen Namen? Zur Beantwortung dieser Fragen sehen wir uns auf drei alte Quellen gewiesen, die sog. „Apostellehre”, den Brief der Gemeinde von Smyrna über den Tod des Polykarp und die Briefe des antiochenischen Bischofs Ignatius, die uns vielleicht Aufschluß geben.

In der sog. „Apostellehre”, die nicht sicher datiert werden kann, aber wahrscheinlich dem Ausgang der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts angehört, bezeichnet τὸ εὐαγγέλιον bereits eine (bestimmte) Niederschrift der Worte und Taten Jesu, die der Verfasser in de Hand seiner Leser weis. Wenn er 8, 2 diese ermahnt zu beten, wie der Herr in seinem2 Evangelium befohlen hat, und nun das Vater-Unser folgt, wenn er 11, 3 anordnet, sie sollen in Bezug auf das Verhalten gegenüber den Aposteln und Propheten nach der Anweisung (δόγμα) des Evangeliums verfahren, und wenn er (15, 3. 4) sagt, sie sollen einander nicht in Zorn, sondern in Frieden zurechtweisen, ὡς ἔχετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ, und ihre Gebete, Almosen und alles, was sie tun, so tun, wie sie es ἐν τῷ εὐαγγελίῳ τοῦ κυρίου ἡμῶν haben — so ist es zweifellos, daß ihm Evangelium das bedeutet, was wir heute so


1) Die Bedeutung von κατά im Sinne der Verfasserschaft steht nach den ältesten und einstimmigen Zeugnissen, den Ursprung der einzelnen Schriften betreffend, fest.
2) Man beachte hier wieder das αὐτοῦ bei εὐαγγέλιον (Genet. subj.).

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nennen und daß es in schriftlicher Form vor ihm und seinen Lesern lag. Die Stufe, auf welcher Evangelium den mündlich fortgepflanzten Komplex von Taten und Worten Jesu bedeutet, ist also in der „Apostellehre” schon überschritten. Wie das geworden ist, lernen wir nicht aus der „Apostellehre”. Sie bezeugt vielmehr lediglich den Zustand, der uns auch bei Justin und 2 Clemens entgegengetreten ist.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß das auch von dem Brief der Smyrnäer gilt. Zwar wenn es hier heißt, daß Polykarps Martyrium κατὰ τὸ εὐαγγέλιον bezw. κατὰ τὸ εῦαγγέλιον Χριστοῦ1 sich ereignet habe (1, 1; 19, 1), so braucht nicht an ein schriftliches Evangelium gedacht zu werden. Wenn aber (4) gesagt wird, οὐκ ἐπαινοῦμεν τοὺς προσιόντας ἑκουσίους [zum Martyrium], ἐπειδὴ οὐχ οὕτως διδάσκει τὸ εὐαγγέλιον, so setzt das eine schriftliche Fixierung voraus; denn ohne die Voraussetzung einer solchen bei den Lesern konnte die Gemeinde nicht darauf rechnen, daß diesen eine so detaillierte Bestimmung2 bekannt sei. Die drei Stellen, an denen εὐαγγέλιον in diesem Schreiben steht, haben aber noch eine besondere Bedeutung, die man jedoch nur im Lichte der späteren Entwickelung des Begriffs „Evangelium” zu erkennen vermag. Das Wort ist an jenen Stellen mit dem Martyrium verbunden; außer dieser Verbindung kommt es in dem Buch nicht vor. Daß das Martyrium dem Evangelium entsprechend verlaufe und verlaufen sei, ist das höchste Anliegen und der größte Triumph der Verfasser. Daß diesem Interesse die Vorstellung zugrunde liegt, das höchste, aber darum auch das eigentlichste Ziel des Christen sei, um des Glaubens willen das Martyrium zu erleiden, wie Christus es erlitten hat, und diese Passio sei daher der


1) Εὐαγγέλιον Χριστοῦ kann hier Genet. obj. sein, aber nötig ist diese Deutung nicht.
2) Zu denken ist an Mt 10, 23.

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tiefste Inhalt des Evangeliums selbst, das ist den Stellen zu entnehmen. Der Märtyrer ist derjenige, der das Evangelium befolgt. Diese Determinierung des Begriffs tritt in der Folgezeit noch viel deutlicher, ja erst in ihr mit voller Deutlichkeit uns entgegen.

Also „Apostellehre” und Smyrnäerbrief führen uns auch nicht zum Ursprung des Sprachgebrauchs; anders aber steht es mit den Ignatiusbriefen. Hier können wir den Übergang des Worts von der Bedeutung, die es ursprünglich hatte, zu der späteren — und zwar sowohl zu dem mündlichen als auch dem schriftlichen Komplex von Herrn-Taten und -Worten — belauschen. Das ist auch nicht wunderbar; denn die Ignatiusbriefe fallen noch in die Zeit Trajans1.

Nur in zweien seiner Briefe hat Ignatius von dem „Evangelium” gesprochen (Philad. und Smyrn.), in ihnen aber wiederholt. Faßt man die Stelle Philad. 9, 2 ins Auge, so muß man urteilen, Evangelium habe dem Ignatius ungefähr dasselbe bedeutet wie dem Paulus. Nachdem er gesagt, daß der Hohepriester höher sei als der Priester, er, dem Gott das Verborgene anvertraut habe, und der die Türe zum Vater sei, durch welche die Patriarchen, die Propheten und die Kirche (zum Vater) hineingehen —, fährt er fort: Πάντα ταῦτα εἰς ἑνότητα θεοῦ˙ ἐξαίρετον δέ τι ἔχει τὸ εὐαγγέλιον, τὴν παρουσίαν τοῦ σωτῆρος, κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, τὸ πάθος αὐτοῦ καὶ τὴν ἀνάστασιν. οἱ γὰρ ἀγαπητοὶ προφῆται κατήγγειλαν εἰς αὐτόν˙ τὸ δὲ εὐαγγέλιον ἀπάρτισμά


1) Darin besteht auch sonst die höchste Bedeutung der Ignatiusbriefe, daß sie den großen Übergang der Gedanken und Einrichtungen von der ältesten Zeit zur altkatholischen als Mittelglieder bezeugen. Bei flüchtiger Betrachtung erscheinen sie durchaus als altkatholisch — daher auch immer wieder die Versuche, ihre Echtheit anzutasten —; aber bei genauerer Betrachtung zeigt es sich, daß sie überall eine Übergangsform darstellen.

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ἐστιν ἀφθαρσίας1. An ein schriftliches Evangelium (Evangelienbuch) kann hier natürlich nicht gedacht werden; aber auch an den mündlich tradierten Komplex von Herrn-Taten und -Worten (Herrn-Geschichte) ist nicht zu denken, sondern nur an das Evangelium im weitesten Sinn als die Verwirklichung des Heilsratschlusses Gottes durch Christus; denn nur in diesem Sinn kann von dem Evangelium ausgesagt sein, daß es ἀπάρτισμα ἀφθαρσίας sei. Es tendiert aber das Wort, wie es hier gebraucht ist, allerdings bereits auf die evangelische Geschichte, wie die besondere Hervorhebung von Parusie, Leiden und Auferstehung beweist.

Ähnlich ist über die Stelle Philad. 5, 1f. zu urteilen. Ignatius sagt hier von sich, auf seine Bekehrung zurückblickend, daß er geflohen sei zum Evangelium als zu dem Fleische Jesu und zu den Aposteln als zu dem Presbyterium der Kirche (προσφυγὼν τῷ εὐαγγελίῳ ὡς σαρκὶ Ἰησοῦ καὶ τοῖς ἀποστόλοις ὡς πρεσβυτερίῳ ἐκκλησίας). Und, fährt er fort, „laßt uns die Propheten lieben διὰ τὸ καὶ αὐτοὺς εἰς τὸ εὐαγγέλιον κατηγγελκέναι καὶ εἰς αὐτὸν ἐλπίζειν”2. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, hier sei die zwei- bezw. dreiteilige Bibel gemeint (die Propheten = das AT, das Evangelium = die Evangelien, die Apostel = die Briefe usw.). Es wird in der Tat hier ebenso sein wie bei der vorigen Stelle: wir haben hier eine Vorbereitung, eine embryonale Anlage, die dann zu jener Zusammenstellung geführt hat, und weitere Stellen werden das beweisen (s.u.). Aber der Sinn, den Ignatius absichtlich gewollt hat, ist es nicht; denn wenn er das Evangelium (nach dem hier schlecht angewendeten eucharistischen Sprachgebrauch) „das Fleisch


1) Ἀπάρτισμα ist ein höchst seltenes Wort (bei Passow fehlt es); 1 Reg 7, 9 (Symmachus) findet es sich im Plural.
2) Der Mangel an formaler Logik, der sich in diesen Sätzen offenbart, tritt bekanntlich auch sonst in den Briefen hervor und erweist vielleicht den Verfasser als Semiten.

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Jesu” nennt, so kann nur das Evangelium, sofern es den sichtbaren und hörbaren Jesus (im Unterschied vom Χριστὸς ἄσαρκος) enthält, gemeint sein1. Das wird durch den anderen Satz bestätigt: „Die Propheten haben auf das Evangelium hin verkündet”. Hier ist auch unter „Evangelium” einfach Christus selbst gemeint, und das wird zum Überfluß durch den folgenden Satz bestätigt: καὶ εἰς αὐτὸν ἐλπίζειν (nicht αὐτό). Also ist Evangelium für Ignatius an dieser Stelle der (gepredigte) Jesus Christus. Die Stelle aber hat bereits eine Tendenz auf das Evangelium, wie es (als schriftliches) zwischen AT und Apostel tritt.

An der dritten Stelle in diesem Brief ist der Sinn von Evangelium sicher die Verkündigung von Jesus Christus im vollen und weitesten Sinn wie bei Paulus (also auch wie 9, 2), vielleicht doch als schriftlich fixierte; denn wenn es Philad. 8, 2 heißt: ἤκουσά τινων [christliche Judaisten] λεγόντων, ὅτι „ἐὰν μὴ ἐν τοῖς ἀρχείοις [ so nennen sie das AT] εὕρω [nämlich diese und diese Lehre], ἐν τῷ εὐαγγελίῳ οὐ πιστεύω”˙ καὶ λέγοντος μου αὐτοῖς, ὅτι „γέγραπται”, ἀπεκρίθησάν μοι, ὅτι „πρόκειται”, so ist nur so viel gewiß, daß bei „Evangelium” die Verkündigung von Jesus Christus in dem weitesten Sinn gemeint ist; denn das bestätigt sich durch das folgende: ἐμοὶ δὲ ἀρχεῖτά ἐστιν Ἰησοῦς Χριστός, τὰ ἄθικτα ἀρχεῖα ὁ σταυρὸς αὐτοῦ καὶ ὁ θάνατος καὶ ἡ ἀνάστασις αὐτοῦ καὶ ἡ πίστις ἡ δι᾽ αύτοῦ. Die Hinzufügung von ἡ πίστις macht es klar, daß er nicht nur an historische Berichte bei „Evangelium” denkt. Immerhin aber ist es möglich, ja liegt es nahe, daß sowohl die Judaisten als er selbst das schriftliche AT mit dem Evangelium als einem


1) Größere Schwierigkeiten macht der Satz: καὶ τοῖς ἀποστόλοις ὡς πρεσβυτερίῳ ἐκκλησίας. Zunächst beweist er, daß Ignatius im vorhergehenden Satz einfach an Christus selbst gedacht und dies mit „Evangelium” recht unglücklich und geziert ausgedrückt hat. Das genügt für unsre Zwecke.

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schriftlichen Werk zusammenstellten; aber entscheiden läßt es sich nicht.

Im Brief an die Smyrnäer kommt Ignatius noch zweimal auf das Evangelium. C. 5, 1 sagt er von den Häretikern: οὓς οὐκ ἔπεισαν αἱ προφητεῖα οὐδὲ ὁ νόμος Μωσέως, ἀλλ᾽ οὐδὲ μέχρι νῦν τὸ εὐαγγέλιον οὐδὲ τὰ ἡμέτερα τῶν κατ᾽ ἄνδρα παθήματα. „Evangelium” scheint hier auf den ersten Blick, da es neben dem AT (Propheten und Gesetz) steht, auch als Buch verstanden werden zu müssen. Wahrscheinlich ist das auch das Richtige, obschon man um der letzten Worte willen auch an Evangelium im weitesten Sinne denken könnte. Diese erscheinen aber nur dann befremdend hinzugefügt, wenn man übersieht, daß das Leiden Christi den Hauptinhalt des Evangeliums für Ignatius bildet. Sobald man das erwägt, schwindet das Befremden und zugleich erhält „Evangelium” den Sinn: die in dem  Tode gipfelnde Geschichte Jesu Christi. Die disjunktive Frage aber, ob es als verkündetes oder als geschriebenes Evangelium zu verstehen ist, ist deshalb hier und auch sonst schwierig zu beantworten, weil ja auch das geschriebene Evangelium den Meisten nur als vorgelesenes d.h. als verkündetes nahe kam, so daß sie einen Unterschied gar nicht empfanden. Die zweite Stelle (7, 2) ist der eben behandelten sehr ähnlich (προσέχειν τοῖς προφήταις, ἐξαιρέτως δὲ τῷ εὐαγγελίῳ, ἐν ᾧ τὸ πάθος ἡμῖν δεδήλωται) und bestärkt die oben gegebene Auslegung: „Evangelium” ist die Geschichte Jesu, welche in dem Tode (und der Auferstehung) gipfelt.

So liegt in der Tat bei Ignatius der Übergang von Evangelium in dem weiteren Sinn zu jenem Sinn vor, der es auf die Geschichte Jesu, und zwar als festen Komplex gedacht, und daher auch auf die schriftliche fixierte Geschichte beschränkt. Daß Ignatius schon Evangelienbücher gekannt hat (vor allem den Mt), unterliegt ja keinem Zweifel. Daß er an sie bei „Evangelium” bereits mit gedacht hat,

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ist höchst wahrscheinlich. Der Übergang ist von Paulus angebahnt worden (aber Paulus beschränkt das Evangelium doch nicht in strenger Weise auf den Begriff „Evangelium von Christus”); Ignatius, ihm folgend, hat den Übergang gefördert. Die unbekannten Männer in Kleinasien, die entweder kurz vor der Zeit, da Ignatius schrieb, oder gleich nachher den Schriften des Mt, Mc, Lc und Jo das Wort „Εὐαγγέλιον” vorsetzten, haben ihn für alle Zeiten fixiert. Aus Ignatius aber sowohl als auch aus dem Brief der Smyrnäer folgt, daß sich neben der Bedeutung: Evangelium = die Worte und Taten Jesu, und daher auch die Bücher, welche dies enthalten, die andere, besonders von Paulus angegebene Bedeutung fortpflanzte: Evangelium = die Botschaft von dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, d.h. von dem gekreuzigten und auferstandenen Gott.


Harnack, A. (1910)