IV. Kritik der Theorie Sohms,
Schluß: Wesen und Ursprung des Katholizismus
.

Sohm hat seine Abhandlung „Wesen und Ursprung des Katholizismus” überschrieben; er sieht also in der Erkenntnis des Katholizismus, die er gewonnen hat, das abschließende Ergebnis seiner Untersuchung. Die Gleichsetzung der empirischen Kirche als Rechtskörper mit der Kirche Christi (mit der Kirche im religiösen Sinn) und die daraus entspringende Forderung, das Leben der Christenheit mit Gott durch das katholische (folgerecht als göttlich beurteilte) Kirchenrecht zu regeln — bezeichnet auch Sohm das Wesen des Katholizismus (s.o. S. 126ff.). „Die intellektualistische Art des katholischen Christentums kommt hinzu”, fährt Sohm fort; „der Glaube erscheint als das Fürwahrhalten einer bestimmten Lehre, die das Evangelium in untrennbare Verbindung mit einem aus der Vergangenheit stammenden Geschichtsbild und Weltbild darbietet”.

Diese Definition des Katholizismus ist nicht befriedigend. Zunächst muß man fragen, welcher Katholizismus gemeint ist? In seinen Ausführungen geht Sohm bis zum modernen Katholizismus (absolute Monarchie und Unfehlbarkeit des Papstes) herunter. So gewiß es aber richtig ist, daß eine Art von stetiger Entwickelung der Kirche bis zu diesem Endziel hin gewaltet hat, so gewiß darf man doch nicht ohne weiteres die Zeit um d.J. 200 und d.J. 1900 gleichsetzen. Die quantitativ veränderten Mischungen der stets vorhandenen Elemente haben, wie immer in der

|174|

Geschichte, Veränderungen hervorgerufen, die als qualitative erscheinen und es auch sind. Für den Katholizismus um d.J. 200 gilt es nicht, daß die Kirche als Rechtskörper in jeder Hinsicht bereits mit der Kirche im geistlichen Sinn identifiziert worden ist (selbst für Cyprian gilt das noch nicht), so sehr man sich der vollen Gleichsetzung bereits näherte1. Umgekehrt haben wir gesehen, daß eine gewisse Identifizierung der Kirche im geistlichen Sinn mit der empirischen Kirche von Anfang an stattgefunden hat; ja Sohm muß das, wie ebenfalls nachgewiesen worden, widerwillig zugeben; denn er behauptet ja, daß von Anfang an das Urchristentum den religiösen Begriff „folgeweise” auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit angewandt habe. Wir haben daraus schließen müssen, daß „das göttliche Kirchenrecht” von Anfang an vorhanden gewesen ist, wenn es auch noch nicht den Spielraum und die Fassung hatte, die es später erhielt.

Die Gleichsetzung der empirischen Kirche als Rechtskörper mit der geistlichen Kirche war um d.J. 200 noch keineswegs vollständig vollzogen; umgekehrt, eine gewisse Identifizierung beider hat schon im Urchristentum stattgefunden: also kann das Wesen des Katholizismus hier nicht ohne weiteres gesucht und gefunden werden. Will man aber doch auf diesem Boden zwischen Urchristentum und Katholizismus unterscheiden — und das ist durchaus berechtigt —, so muß man sich an sachlich bestimmtere


1) Auch das gilt für die Zeit Tertullians und Cyprians noch nicht, daß der einzelne Christ sein Leben mit Gott ausschließlich durch das katholische Kirchenrecht zu regeln habe; es gilt das für jene Zeit um so weniger, als sogar im heutigen Katholizismus dieser Satz noch nicht zur völligen Herrschaft gekommen ist. Auch ist der Begriff „regeln” ein sehr weitschichtiger; die Regelung kann eine direkte oder indirekte, eine formgebende oder nur eine grenzbestimmende sein.

|175|

Maßstäbe halten und von einem zweckmäßig gewählten Punkte in der Entwickelungsreihe an den gewonnen Zustand „katholisch” nennen. Dieser Punkt scheint mir dort gegeben zu sein, wo die Apostel, Propheten und charismatischen Laienlehrer aufgehört haben und dafür die Norm der apostolischen Glaubenslehre, die Norm des apostolischen Schriftenkanons und die Unterwerfung unter die Autorität des apostolischen bischöflichen Amtes eingetreten ist. Diese Größen hatten zwar schon im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter, wie ich in meinem Lehrbuch der Dogmengeschichte gezeigt habe, gewisse Vorstufen, so daß das in ihnen enthaltene „katholische” Element embryonal schon vorhanden war; aber sie waren noch keineswegs formiert; die Vorstufen sahen noch sehr anders aus und waren außerdem in ihrer Geltung durch andere Mächte sehr beschränkt. Erst zu Tertullians Zeit sind sie — in Rom und Nordafrika — wirklich nachweisbar; daher ist es zweckmäßig, erst von dieser Zeit an den Terminus „Katholizismus” zu brauchen. Die etablierte Herrschaft jener drei Normen bezeichnet aber nichts anderes als die Fixierung der Tradition samt der Fixierung der Traditions-Garantie unter dem Titel des „Apostolischen”. Statt dieses Titels hätte auch — ja dies sollte man eigentlich a priori erwarten — der Name Christi selbst eintreten können; allein da Jesus außerhalb Palästinas nicht missioniert hatte, so beurteilten die Heidenchristen die Apostel als die letzten Instanzen, eine Beurteilung, zu der sie auch andere Erwägungen führten. So erhielt die Tradition das Kennzeichen „apostolisch”. Mit der Aufrichtung dieser apostolischen Tradition war ihr Charakter als Recht und zwar als höchstes göttliches Recht ohne weiteres gegeben; denn nach ihr konnte nunmehr bestimmt werden, wer zur Kirche gehört und wer aus derselben zu verbannen ist, ferner wie das religiöse Leben in der Kirche einzurichten sei. Nun erst deckte sich die

|176|

Kirche in geistlichem Sinne mit dem also bestimmten Rechtskörper, wenn auch die volle Identität immer noch nicht gewonnen war. Das Primäre ist somit die Aufrichtung der apostolischen Tradition mit ihren festen äußeren Maßstäben. Die sichere, weil reflektierte Beurteilung der empirischen Kirche als die geistliche und wahre ist eine Funktion jener Aufrichtung; denn der Satz mußte sich mit scheinbarer Folgerichtigkeit ergeben: Wo das Apostolische in Kraft erhalten wird, da ist die Wahrheit und die wahre Kirche. Der religiöse Begriff der Kirche blieb noch immer als der einzige bestehen — in dieser Hinsicht ist im Katholizismus überhaupt kein Wandel eingetreten —, aber er wurde auf die empirische Kirche, weil sie in allen Stücken die apostolische Tradition besitzt und ihr die Herrschaft einräumt, mit der Sicherheit eines logischen Schlusses bezw. eines logischen Rechtsurteils übertragen1. Die katholische Kirche ist die Kirche der als Gesetz fixierten apostolischen Tradition. Das Manko in Bezug auf die Wahrheit und Legitimität der Kirche, welches sich daraus ergibt, daß das Gesetz von den Gläubigen häufig übertreten wird, wird durch die Gnaden- und Strafgewalt der Kirche immerfort ersetzt.

In dieser Weise wird die von Sohm gegebene Definition des Katholizismus (Identität der Kirche als Rechtskörper mit der geistlichen Kirche) vertieft und determiniert werden müssen. Allein auch so ist die Begriffsbestimmung m.E. noch sehr unbefriedigend; denn im Grunde ist mit ihr noch immer etwas Allgemeines und nur Formales zum Ausdruck gebracht. Haben nicht alle höheren Religionen ohne Ausnahme das erlebt, was hier vom Christentum als Katholizismus ausgesagt wird? Man mag auf das Judentum, den Islam, den Buddhismus blicken — überall ist die


1) S. Tertullian, de praescript. haereticorum.

|177|

Tradition gesetzlich fixiert und als göttliche Rechtsordnung aufgerichtet worden; folgerecht wurde dann stets die Gesetzeskirche mit der Kirche der lebendigen und wirklichen Gläubigen identifiziert. Man kann hier gradezu von einem religionsgeschichtlichen „Gesetz” reden, denn hat nicht z.B. sogar der Protestantismus dasselbe erlebt? Ob man die Fixierung „Apostolische Tradition” oder „Bekenntnis” nennt, ändert an der Sache sehr wenig, und selbst wenn man einräumt, daß die Gesetzlichkeit im Protestantismus niemals so strikt geworden ist, wie im Katholizismus und man sich dort immer wieder ernstlich bemüht hat, die Unterscheidung der empirischen und der wahren Kirche aufrecht zu erhalten, bedeutet das angesichts des orthodoxen Protestantismus keinen prinzipiellen Unterschied, zumal da man nicht wissen kann, was für ihn noch kommen wird. Somit besagt die oben gegebene Definition des Katholizismus nur, das er die kirchen-gesetzliche Ausprägung der christlichen Religion bedeutet, die auch die anderen Religionen in ihrer Entwickelung mutatis mutandis erfahren haben1.

Eine Definition, d.h. die Wesensbestimmung einer Religion und Kirche, darf nicht nur formal sein. Was gesetzlich bestimmt worden ist, darauf kommt es an, wenn man das Charakteristische erfassen will. Sohm ist von dieser Erkenntnis nicht ganz unberührt, hat ihr aber einen sehr unvollkommenen Ausdruck gegeben. Während er an vielen Stellen die Definition, die ihm die entscheidende ist, einfach wiederholt, erweitert er sie nur an einer Stelle seiner


1) Warum es zu dieser Art von Ausprägung stets kommen muß, darüber hat Sohm S. 19f. seiner Abhandlung (s.o. S. 128) das Richtige bemerkt: „das Verlangen des natürlichen Menschen ist, das Religiöse zu veräußerlichen.” Er verlangt die Rechtsordnung, die Autorität. Nicht die Priester führen sie über die unschuldigen Laien, sondern die Laien schaffen die autoritativen Priester und die kirchliche Rechtsordnung.

|178|

Abhandlung durch den beiläufig ausgesprochenen Satz: „Die intellektualistische Art des katholischen Christentums kommt hinzu. Der Glaube erscheint als Fürwahrhalten einer bestimmten Lehre, die das Evangelium in untrennbare Verbindung mit einem aus der Vergangenheit stammenden Geschichtsbild und Weltbild darbietet.” Hier hat er also die Notwendigkeit einer Ergänzung seiner Definition gefühlt1; aber nicht um eine Ergänzung handelt es sich, sondern um die materiale Bestimmung des Katholizismus als der gesetzlichen Entwickelungsstufe der christlichen Religion.

Nimmt man seinen Standort etwa am Anfang oder in der Mitte des 2. Jahrhunderts und hält sich das gesamte ungeheure Kapital vor Augen, das als „Überlieferung” und als „lebendige Kraft” sich den damaligen Christgläubigen darbot — die Sittensprüche Jesu, die Taten und das Geschick Christi, das Alte Testament, die jüdischen Apokalypsen, die die beiden letzteren begleitende jüdische exegetische und dogmatische Tradition, die Traditionen aus der jerusalemischen Urgemeinde, die Lehren des Paulus, die Sprüche, Lehren und Weissagungen christlicher Propheten und Lehrer, die bisher entstandene Organisation usw. —, so ist offenbar, daß a priori die Fixierung zu einer Fülle verschiedener Ergebnisse gelangen konnte, wie ja auch wirklich nicht nur in den gnostischen Kirchen, sondern auch in den Provinzen (man denke z.B. an Ägypten) zunächst recht verschiedene Formen sich entwickelt haben. Dennoch ist das Hauptresultat im wesentlichen identische geworden2, wenn auch die Gleichartigkeit nicht überall


1) Allerdings nur sehr unsicher; denn S. 6 seiner Abhandlung beurteilt er es als eine theologische Eigenart, daß man, um das Wesen und die Entstehung des Katholizismus zu ergründen, auf theologischem Gebiet, und zwar auf dem Gebiete der den Mittelpunkt des Christentums bildenden Gedanken, einsetzte.
2) Die Spielarten waren auch schon vorher, genau betrachtet, nicht so groß, wie sie, oberflächlich betrachtet, erscheinen.

|179|

gleich schnell hervorgetreten ist. Wie ist das möglich gewesen, und wie beschaffen war der Faktor oder waren die Faktoren, die im Materialen schließlich überall dieselbe Form der Kirche, den Katholizismus, hervorgebracht haben? Das ist die entscheidende Frage, die Sohm unbeantwortet gelassen oder nur gestreift hat.

Ein Fortwirken der in der damaligen jüdischen Religion wirksamen Hauptkraft auch im Christentum liegt nicht vor; denn diese war das Gesetz. Die Gesetzesbeobachtung als Kultus- und Lebensgesetz war der Angelpunkt der jüdischen Frömmigkeit und das Herzstück der jüdischen Tradition. Das Gesetz war auch primär die Lehre; was in der Lehre darüber hinausging, war schwankend und unsicher. Es bedarf keines Nachweises, daß dies für die alte Kirche nicht zutrifft; sie steht an diesem wichtigsten Punkte dem Judentum so fern wie möglich und ist ihm stets ferne geblieben.

Das Herzstück der ältesten Kirche war der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Christus und an den einigen Gott als den Vater Jesu Christi; dieses Herzstück ist der Kirche niemals verloren gegangen. Wer den Katholizismus materiell verstehen will, muß demnach hier einsetzen und die Frage so formulieren: Wie stellt sich der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Christus und an den einigen Gott als den Vater Jesu Christi im Katholizismus dar? Wenn sich der Katholizismus überhaupt von dem ältesten Christentum unterscheidet, so muß sich die Unterscheidung an diesem Punkte zeigen oder sie ist eine unwesentliche.

Nehmen wir unseren Standort wieder bei Tertullian, so finden wir eine christlich-kirchliche Glaubenslehre, deren Mittelpunkte der eine Gott und der gekreuzigte und auferstandene Christus sind. Diese Glaubenslehre ist

|180|

philosophisch und historisch zugleich. Sofern sie letzteres ist, unterscheidet sie sich nur unbedeutend von der urchristlichen, die zich als Rezeption und Umbildung der spätjüdischen sub specie Christi darstellt; sehr stark tritt das apologetische Moment dabei hervor, aber es ist schwerlich in der Urzeit geringer gewesen (Weissagungsbeweis für die Wahrheit Christi und der christliche Religion). Sofern die Glaubenslehre aber „philosophisch” ist, treten folgende Züge hervor: (1) formal, (a) sie ist ein wohlgefügtes Lehrganze, welches sich über Gott, die Welt, die Geschichte, das Heil erstreckt und gewußt und für wahr gehalten werden muß, (b) sie ist beweisbar, und zwar sowohl durch Gründe der Ratio als auch der Autorität; (2) material, (c) im Gottesbegriff treten die Züge, daß Gott der Schöpfer, weil die letzte Ursache der Welt ist, ferner daß er die absolute und undurchdringliche Macht und der Gesetzgeber ist, endlich daß er der Richter ist, zu dem jeder Einzelne in einem stipulierten Rechtsverhältnis steht, in den Vordergrund, und alle Heilsaussagen erscheinen in das kosmologisch-gesetzliche Wirken Gottes eingebettet. Die Verwandtschaft mit dem platonisch-stoischen Gottesbegriff wird dabei ebenso bemerkt wie nach Unterschieden von ihm gesucht wird; in der Idee der Schöpfung alles Seienden wird ein solcher Unterschied auch wirklich gefunden; (d) in der Christologie ist das eigentlich Messianische aufs stärkste verkümmert und reduziert; dagegen ist der Begriff des Logos der zentrale geworden, d.h. auch die Betrachtung der Person Jesu Christi vollzieht sich primär vom kosmologischen Gesichtspunkt aus, und sein erlösendes Wirken ist in seinem schöpferischen (als der Mittler) bereits angelegt; die Verwandtschaft mit der idealistischen Philosophie des Zeitalters wird auch hier bemerkt und unbefangener zugestanden als beim Gottesbegriff; aber die Idee der Menschwerdung des Logos scheidet die christliche

|181|

Anschauung von der philosophischen1; (e) in Bezug auf den finis religionis stehen die Gedanken der vollen Erkenntnis und des ewigen Lebens (als Hendiadyoin im Sinne der ewigen leidlosen Anschauung Gottes) so sehr im Vordergrund, daß die übrige urchristliche Eschatologie damit kaum mehr oder nur künstlich vereinbar ist; (f) in Bezug auf die gegenwärtige Heilsanbietung ist der Gedanke der unmittelbaren Bestimmung des einzelnen Christen durch den „Geist” ganz zurückgetreten; der einzelne Christ hat in dem Sakramente der Taufe eine einmalige Tilgung aller seiner Sünden erlebt; es kann ihm auch unter Umständen noch einmal eine große Vergebung auf Erden zu teil werden; aber auf diese darf er nicht rechnen; sonntäglich oder auch öfter wird ihm jedoch im Abendmahl ein Sakrament gespendet, welches ein Unterpfand des ewigen göttlichen Lebens und eine geheimnisvolle Umbildung seiner Seele und seines Leibes für die Unsterblichkeit bedeutet; (g) in Bezug auf das Verhalten des Getauften gilt, daß er durch Wissen und Tun des göttlichen Willens, d.h. des Guten, gerecht und der Seligkeit teilhaftig wird. Der Hauptinhalt des göttlichen Willens ist aber, sein Fleisch unbefleckt zu erhalten und der Welt samt allen ihren Gütern entschlossen zu entsagen (Askese), ja womöglich durch das Bekenntnis zu Christus den Tod für ihn zu erleiden, um durch dieses einzig sichere Mittel sicher in den Himmel einzugehen; kann die vollkommene Askese (der gegenüber das Liebesgebot durchaus zurücktritt) und der Märtyrtod nicht geleistet werden, so ist durch häufiges Beten, Fasten und Almosen ein Ersatz zu suchen, den


1) Das Bekenntnis zu Vater, Sohn und Geist hat nichts mit der griechischen Philosophie oder sonst einer Philosophie oder Kultweisheit zu tun; es gehört bereits der ältesten Kirche an und ist der Inbegriff der christlichen Religion in objektiver Hinsicht, wie es auch ihre Loslösung vom Judentum zum Ausdruck bringt (Näheres s. S. 187ff.).

|182|

Gott als nachsichtiger Gläubiger und Richter gelten lassen wird.

Das sind die Hauptzüge des Katholizismus am Anfang des 3. Jahrhunderts in materialer Hinsicht, und sie konstituieren sein Wesen als Religion. Alle diese Züge kündigen sich, wie wir aus den Urkunden beweisen können, schon im 1. Jahrhundert und in den Schriften des Neuen Testaments an1; allein sie kündigen sich — die einen stärker, die anderen schwächer — eben nur an. Nicht nur zeigt das Christentum des Paulus eine ganz andere Gesamthaltung, sondern auch „Johannes”, welcher der eben geschilderten Ausprägung der christlichen Religion viel näher steht, bietet doch im Grunde einen anderen Aufriß, und was wir über das heidenchristliche Gemeinchristentum des apostolischen und nachapostolischen Zeitalters vermuten können, ist zwar dem oben umschriebenen Typus noch verwandter, aber ist doch etwas sehr viel Einfacheres, Kräftigeres, Unreflektierteres und wiederum Glaubensstärkeres und Massiveres; dazu treten die eschatologischen, enthusiastischen und messianischen Züge und die Herkunft der neuen Religion aus dem Alten Testament und der jüdischen Religion noch viel deutlicher hervor.

Was ist nun dieser Katholizismus, wenn wir ihn richtig erfaßt haben, und woher stammt er? Die Antwort ist nicht schwierig. Er ist die alttestamentlich-christliche Verkündigung, übergeführt und eingetaucht in die hellenische Denkweise, d.h. in den Synkretismus


1) Der Katholizismus ist also, wenn man seine embryonale Form einbegreift, so alt wie die Kirche; kaum ein oder das andere seiner Elemente hat gefehlt. Aber das will doch nicht viel bedeuten; denn die katholischen Elemente konstituieren nicht das Wesen des Urchristentums. Es wäre daher irreführend, das Urchristentum „katholisch” zu nennen. Auch für das nachapostolische Zeitalter vermeidet man diese Bezeichnung besser noch.

|183|

des Zeitalters und in die idealistische Philosophie. Schon die Verkündigung im apostolischen Zeitalter selbst hat sich den allgemeinen Bedingungen nicht zu entziehen vermocht, auf die eine geistige Religion damals eingehen mußte, wollte sie verstanden und für wertvoll erachtet werden; aber diese Verkündigung behauptete doch ein sprödes Element und zeigte eine Tiefe und Höhe, an die auch die besten religiösen Zeitvorstellungen nicht heranreichten. Aber es gelang diesen, diese Tiefen und Höhen bedeutend zu nivellieren: das ist der Katholizismus! Er unterdrückt das Pneuma, wandelt den evangelischen Begriff Gottes als des Vaters und übersieht die Schlichtheit des Vertrauens zu ihm sowie die einfache Zuversicht auf „unsern Herrn Jesus Christus”. Dafür führt er den philosophischen Gottesbegriff ein, weiter den Logos und dazu die Autorität des „Mythus”, soweit er ihn nicht idealistisch umschmelzen kann und will1. Die Bestimmung des Wesens des Katholizismus, soll sie vollständig sein, kann sich also nicht mit der kurzen Definition begnügen, die Sohm gegeben hat — „Katholizismus ist Gleichsetzung der Kirche als Rechtskörper mit der wahren Kirche Christi” —, sondern sie muß ausführlicher sein und sowohl das Formale als auch das Materiale zu seinem Rechte kommen lassen:

Katholizismus ist die Verkündigung des einen Gottes und des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heilands Jesus Christus, übergeführt in die hellenische Denkweise und ausgeführt als ein philosophisches Lehrganze. Dieses Lehrganze unterscheidet sich aber von den idealistischen Lehrsystemen dadurch, daß er auch dort, wo es als rational erscheint, auf Offenbarung zu ruhen behauptet, ferner dadurch, daß es den geschichtlichen (christologischen) Stoff größtenteils konserviert, in die religions-philosophischen


1) Hier liegt der Unterschied vom Gnostizismus.

|184|

Lehrsätze einbettet und unbedingten Glauben für ihn verlangt. Auch diese eigentümliche Mischung philosophischer und offenbarungsgeschichtlicher Elemente, des Mythos und des Logos, entspricht dem synkretistisch-religiösen Geist des Zeitalters, und nicht weniger entspricht es ihm wie der Katholizismus die Sakramente als Vehikel des Göttlichen handhabt und was er über sie lehrt. Endlich entspricht ihm auch die Anweisung zur Askese, in welcher die ganze Moral gipfelt und in welche auch die Sprüche Jesu sich einordnen müssen.

Der Katholizismus als Religionslehre und als Anweisung für das Leben ist das Evangelium in einer fest bestimmten synkretistisch-hellenischen Erscheinungsform; aber jede gnostische Schulsekte war das, wenn auch in anderer Weise, ebenfalls. Also ist die Bestimmung des Wesens des Katholizismus noch unvollständig. Hier tritt nun das Element hinzu, das sich von Anfang an parallel entwickelt hat und welches Sohm allein ins Auge faßt. Die Lehre, die heilige Schriftensammlung und das Amt erscheinen als das apostolische Erbe; diejenigen, welche das apostolische Erbe bewahren, und sie allein, sind die Jünger Christi und bilden seine Kirche. Die objektive Aufrechterhaltung dieses Erbes sichert bereits die Legitimität und Wahrheit der Kirche, und das apostolische Amt der Bischöfe sichert die Unversehrtheit der Überlieferung von Generation zu Generation. Damit — eine nochmalige Ausführung des Tatbestandes und der Gedanken erübrigt sich — stellt sich die Schülergemeinde der synkretistisch-christlichen Lehre als ein Rechtskörper dar, für den der Unterschied von Amtsträgern und Laien fundamental ist und der, indem er von der geoffenbarten apostolischen Tradition bestimmt und regiert wird, unter göttlicher Rechtsordnung steht. Die Umschmelzung des christlichen Glaubens zu einer geoffenbarten, aus geschichtlichen und ideellen Elementen

|185|

bestehenden philosophisch-hellenischen Lehre, die als apostolisch prädiziert und durch heilige Weihen, durch die Autorität und durch den Gedanken überliefert wird, sowie die Gleichsetzung der empirischen, von dem „apostolischen” Episkopate geleiteten Kirche als Rechtskörper mit der Kirche Christi bezeichnen das Wesen des Katholizismus.

———

Worin liegt der Hauptfehler der Betrachtung Sohms, die ihn zu dem Urteil geführt hat, das Kirchenrecht bedeute an sich einen Abfall vom Wesen der Kirche und stehe mit ihm in vollem Widerspruch? Ich möchte Goethe die Antwort geben lassen; mutatis mutandis hat er das Problem, um das es sich hier handelt, in wenigen Worten gelöst. In der „Vorbetrachtung” seiner Schrift „Zur Naturwissenschaft” (Bd. 2, 1823) schreibt er: „Indem wir durch unsre Denk- und Empfindungsweise auch äußere Verhältnisse gründen, eine Gesellschaft um uns bilden oder uns an sie anschließen, so wird ein Inneres zum Äußerlichen; ein solches — wohl aufgenommen oder feindlich bestritten — muß erhalten, es muß verteidigt werden, und so sind wir auf einmal vom Geistlichen ins Weltliche, vom Himmlischen ins Irdische und vom ewigen Unwandelbaren in das zeitliche Wechselhafte zurückgezogen.” Wer diese einfachen und tiefen Worte richtig versteht, der weiß, warum die unsichtbare geistliche Kirche zur empirischen und zum Rechtskörper werden muß. Er wird dort keinen Abfall und Widerspruch erkennen, wo es sich um das Wirken zwingender Notwendigkeit handelt; wohl aber wird er urteilen, daß der Abfall und Widerspruch dann eintritt, wenn man Mittel und Zweck einfach identifiziert oder gar das Mittel an die Stelle des Zwecks setzt. Das katholische Kirchenrecht, welches von der Voraussetzung der Identität der geistlichen Kirche mit ihrer Erscheinung ausgeht und

|186|

alles Geistliche rechtlich regeln will, steht mit dem Begriff der Kirche als einer idealen Größe in Widerspruch, obschon auch die Urzeit in heiliger Begeisterung den Widerspruch nicht gelten ließ und durch ihr Heiligungsstreben überwinden zu können glaubte. Aber das Kirchenrecht, welches die Kirche als äußere Gesellschaft regelt, ist ein notwendiges Mittel; „denn das Innere muß erhalten, es muß verteidigt werden”. Über die Frage, wie denn nun das „Innere” zu fassen ist, wird man ewig streiten können; denn es ist fast ein Versuch mit untauglichen Mitteln, dieses Innere, Ewige zu beschreiben, während uns doch nur äußere Mittel zu Gebote stehen und man immer in Gefahr ist, die Grenzen des Historikers zu überschreiten, wenn man das Verhältnis des Innerlichen zu seiner Erscheinung erwägt. So mögen denn zum Schluß auch die Worte Goethes hier eine Stelle finden, die den angeführten unmittelbar vorhergehen: „Alles, was sich aufs Ewige bezieht und uns im Erdenleben als Bild und Gleichnis des Unvergänglichen vorschwebt, sollte sich von Rechts wegen außer Streit setzen, obgleich auch hier manches Hindernis obwaltet.”


Harnack, A. (1910)