23. Verfassungsbildung und soziale Lage.

Die alten Christen in Palästina sind „Ebionim” genannt worden oder haben sich selbst so genannt, und daß die Kirche auch im römischen Reich zu einem großen Teil aus Armen bestand und in den unteren Klassen wurzelte, lehren die Zeugnisse bis Minucius Felix. Indessen tritt die Armut der Christen und ihre gedrückte soziale Lage in den Quellen keineswegs so deutlich hervor, wie man das erwarten sollte. Der Grund hierfür ist m.E. nicht bloß darin zu suchen, daß die alten alten Christen in ihrem religiösen Idealismus über die ökonomischen Schwierigkeiten sich hinwegsetzten und ihnen wenig Beachtung schenkten, sondern auch darin, daß die christliche Bewegung doch nicht vorherrschend in der niedrigsten Schicht ihrer Anhänger zählte, sondern in dem kleinen Mittelstand. Aus dem Hirten des Hermas scheint man dies schließen zu müssen, aber auch aus der ganzen ältesten christlichen Literatur, die bei den Adressaten eine gewisse Bildung voraussetzt. Sollte aber doch die niederste

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Volksschicht die stärkste in der Kirche gewesen sein, so wäre der Beweis geliefert, daß das Christentum diese geistig auf eine höhere Stufe gehoben hat, ohne doch ihre ökonomische Lage wesentlich zu ändern; denn die Signatur der Christengemeinden ist nicht proletarisch. Eine wesentliche Änderung der ökonomischen Lage der einzelnen Christen durch die Hilfe der Gemeinschaft ist nicht anzunehmen, da eine solche durch Gaben und Almosen nicht erfolgen kann und da das Christentum kein Interesse an einer solchen allgemeinen Hebung zeigt, auch augenscheinlich direkt und generell nichts für sie getan hat. Wohl aber wurden in patriarchalischer und brüderlicher Weise Vielen Hilfeleistungen zu teil in allen denkbaren Nöten des Lebens, und Verbesserungen im einzelnen mögen zahlreich stattgefunden haben; auch mag die Ermahnung zur Arbeit und das Pflichtgefühl, Arbeitslosen Arbeit zu schaffen, manchen Segen gestiftet haben. Die Frage, ob die Verfassungsentwickelung etwas mit der Rücksicht auf die ökonomische Lage der Gemeindebildung zu tun hat, kann man partikular und bedingt bejahen. Zwar ist das Amt der Episkopen und Diakonen zunächst höchst wahrscheinlich aus dem Bedürfnis des eucharistischen Gottesdienstes entstanden; aber eben mit diesem und der zu ihm gehörigen Gabendarbringung war von Anfang an die Sorge für die Armen, Kranken, Hilflosen usw. aufs engste verknüpft. Die Bischöfe erscheinen daher sofort auch als die Vorsteher der Armen und die Diakonen als die Pflegenden. Diese Funktionen sind ihnen wesentlich, und deshalb muß ihr Amt auch als ein charitativ-ökonomisches betrachtet werden. Jede Christengemeinde war prinzipiell auch ein Hilfsverein (zunächst für die eigene Gemeinde, aber weiter auch für die zureisenden Brüder und endlich auch für notleidende andere Gemeinden), und die Amtsträger in der Gemeinde waren ihrer Bestimmung nach auch Armenpfleger

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(Näheres darüber und speziell über die besonderen Leistungen der römischen Gemeinde s. in meiner Missionsgesch. I2, S. 127-172); aber eine organisatorische Entwickelung, die die weitere Entwickelung des Amts beeinflußt hätte, hat nicht stattgefunden. An die weiblichen Pflegerinnen (Witwen und Diakonissen) sei auch hier erinnert. Im allgemeinen ist Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirche (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1907, zu vergleichen.


Harnack, A. (1910)