5. Die Antithese von Evangelium und Gesetz bei Marcion und ihre Folge.

Das Verdienst, den Gegensatz von Evangelium und Gesetz aus den Briefen des Paulus herausgezogen und für alle Zeiten formuliert zu haben, gebührt dem Marcion. Bei Paulus liegt er nur implizite vor (s.o.); Johannes, der ihm schon entdeckt hat, hat ihn doch nicht unter den Titel „Gesetz und Evangelium” gestellt; die sog. apostolischen Väter haben ihn nicht erkannt; die Gnostiker, soviel wir wissen, haben auch nicht diese Formulierung gefunden — nur Marcion fand sie. Daß er eben in dem Gegensatz von Gesetz und Evangelium den Unterschied der alten und der neuen Religion zum Ausdruck gebracht hat, daran kann nach Tertull. adv. Marc. I, 19. 21; IV, 1. 4; Iren. IV, 9ff. usw.1


1) Tert. adv. Marc. I, 19: „Separatio legis et evangelii proprium et principale opus est Marcionis ... hae sunt „Antitheses” Marcionis, ➝

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kein Zweifel sein. Deutlich ist auch, daß er das Wort sowohl für das schriftliche Evangelium gebraucht hat, das er sich aus Lucas zurecht gemacht hatte und das er einfach Εὐαγγέλιον überschrieb1, als auch für den ganzen Inhalt der neuen Religion im Unterschied von allem Gesetzlichen. Wie bei Paulus muß auch bei ihm „Evangelium” und „Heil” in der engsten Beziehung gestanden haben; noch bei Apelles klingt das nach. Der von Paulus entdeckte prinzipielle Unterschied der auf dem Glauben sich gründenden Religion und der ATlichen war nun auf den Ausdruck „Evangelium und Gesetz” gebracht.

Dieser Gegensatz, einmal gefunden und formuliert, nötigte die Kirche, Stellung zu ihm zu nehmen. Sie konnte ihn nicht im Sinne Marcions akzeptieren, aber sie konnte ihn auch nicht überhören. So sah sie sich genötigt, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das ist bereits von Irenäus und Tertullian geschehen. Einerseits wurde die Einheit des Urhebers des Gesetzes und des Evangeliums konstatiert und damit auch eine letzte Einheit in den Absichten dieses und jenes behauptet. In diesem Sinne — weil Gott bezw. Christus in beiden geredet hat — konnte man Gesetz und Evangelium gradezu identifizieren und hat sie sogar terminologisch identifiziert (s.u.): das Gesetz ist Herrn-Wort, Herrn-Schrift und, wenn auch in der Form des Symbols und der Verheißung, selbst Evangelium; umgekehrt ist das Evangelium Gesetz Gottes und Christi. Aber andererseits — das lernte man nun von Paulus und Marcion — ist das


➝ quae conantur discordiam evangelii cum lege committere, ut ex diversitate sententiarum utriusque instrumenti diversitatem quoque argumententur deorum.” I, 21: „ostendimus notitiam dei haeretici ex evangelii et legis separatione coepisse.” IV, 1: „Opus [Marcionis] ex contrarietatum oppositionibus „Antitheses” cognominatum et ad separationem legis et evangelii coactum.”
1) S. Zahn, Kanonsgesch. I S. 619.

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Evangelium doch etwas ganz anderes als das Gesetz; es ist legisdatio in libertatem, nicht wie jenes legisdatio in servitutem; das Evangelium hat das Gesetz teilweise abgeschafft, teilweise ergänzt, teilweise vertieft; es ist durchaus eine Heilspredigt, steht als solche dem Gesetz gegenüber, richtet sich an den Glauben und verkündigt und schafft die Gotteskindschaft. Diese Gedanken hat namentlich Irenäus sowohl in seinem großen Werke als auch in dem neuentdeckten mit Energie durchgeführt. Seitdem sind sie in der Kirche nie ganz untergegangen. Sie blitzen immer aufs neue auf, bis sie Augustin mit Kraft wieder aufgenommen und, durch Pelagius gereizt, aufs neue dem Gesetz entgegengestellt hat. Es ist also ganz wesentlich Marcions Verdienst, daß das Wort „Evangelium” in der Kirche neben dem Sinn: „Geschichte Jesu” bezw. „Evangelienbuch”, und neben dem speziellen Sinn: „Botschaft von dem gekreuzigten und auferstandenen Gott”, die besondere Bedeutung bekam: „die im Gegensatz zum Gesetze stehende Botschaft Gottes durch und in Jesus Christus, welche freie Gotteskinder schafft”. Nachdem dies geschehen war, ist kein anderes Wort im gesamten Sprachschatz der Kirche in dem Grade zum Träger der höheren Gedanken der neuen Religion geworden, wie das Wort „Evangelium”.


Harnack, A. (1910)