3. Die Selbstbezeichnungen der ältesten Anhänger Jesu und das sich in ihnen ausdrückende Selbstbewußtsein. Die Geschichte der Selbstbezeichnungen. Die Urgemeinde.

Die Zwölf, die Apostel und die übrigen (s. sub 1) zusammen bildeten in Jerusalem die messianische Gemeinde Jesu. Sie waren ein Kreis von Juden, der sich von seinen Volksgenossen zunächst nur dadurch zu unterscheiden schien, daß er den künftigen Messias, den alle als in des Himmels Wolken kommend ersehnten, bereits kannte und seine baldige Ankunft bestimmt erwartete. Aber eben dieses Moment barg eine Fülle neuer treibender Kräfte in sich; denn erstlich entstand so der Gegensatz von „Gläubigen” und „Ungläubigen”, der sich notwendig bis zur Auflösung jedes Bandes zwischen beiden Teilen steigern mußte, zweitens gab die Erinnerung an „alles das, was Jesus geboten hatte”, den Einzelnen und der Gemeinschaft bestimmte Richtlinien, die über die bisherige Gemeinschaft hinausführten, und drittens weckte „das Unterpfand des Geistes” eine heroische Zuversicht und Tatkraft und trieb zur Mission.

Das Selbstbewußtsein, welches die jugendliche Gemeinde besaß, spiegelt sich in den Selbstbezeichnungen. Während

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sie sich als „Galiläer”, „Nazaräer”, wohl auch als „die Armen” bezeichnet und verspottet hörte, nannte sie sich selbst „das Volk Gottes”, „den Samen Abrahams”, „das auserwählte Volk”, „die Erwählten”, „die zwölf Stämme”, „die Knechte Gottes”, „die Gläubigen”, „die Heiligen”, „die Brüder”, „die Kirche Gottes” und nannte ihre ungläubigen Volksgenossen, wenn sie hartnäckig der evangelischen Botschaft Widerstand leisteten und die Gläubigen verfolgten, „die Synagoge des Satan”. In jenen Bezeichnungen brachte sie zum Ausdruck, daß sie das Volk im Volke sei, dem allein alle Verheißungen gebühren. Dann war es nur eine Frage der Zeit, daß diese Christen die nicht christgläubigen Stammesgenossen, also das ganze übrige Judentum, als jeder Prärogative verlustig, ja als ihren wahren Gegensatz ansehen mußten.

Die Bezeichnungen „die Gläubigen”, „die Heiligen”, „die Brüder”, „die Kirche” (wohl auch schon frühe „die heilige Kirche”) sind diejenigen gewesen, welche an die Stelle der Bezeichnung „die Schüler” getreten sind. Alle vier sind schon im Judentum nachweisbar (zu „Bruder” s. AG 28, 21), aber waren dort nur von sekundärer Bedeutung gewesen.

„Heilige” nannten sich die Christgläubigen, weil Jesus sich für sie geheiligt hatte, weil sie durch die Taufe und den hl. Geist geheiligt waren und sich als Entsündigte und Teilnehmer der zukünftigen Herrlichkeit wußten. An den Charismen, an Wundern und Zeichen und an der Macht, die Dämonen auszutreiben, besaßen sie die tatsächliche und sinnenfällige Gewähr der Heiligkeit (diese hatte sowohl einen dinglichen als auch einen persönlichen Charakter; zum ersteren s. 1 Ko 7, 14 und im allgemeinen H. Weinel, Die Wirkungen des Geistes und der Geister usw., 1899). Die Bezeichnung hat sich als technische bis zur montanistischen Krise gehalten — die geistreiche Hypothese Manchots,

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„die Heiligen” hätten von Anfang an einen engeren Kreis innerhalb der Christenheit gebildet, bewährt sich nicht —; dann verschwindet der Name (aber nur allmählich), taucht aber in Verfolgungszeiten immer wieder auf. Dafür entstanden heilige Stände (Märtyrer, Konfessoren, Asketen, zuletzt — im Laufe des 3. Jahrhunderts — auch heilige Bischöfe; von den heiligen Aposteln spricht schon der Epheserbrief 3, 5, wenn die Stelle richtig überliefert ist), und die heiligen Mittel (Sakramente) schoben sich immer mehr in den Vordergrund, unter deren stoßweisen Einfluß die der Heiligung sehr bedürftigen Christen immer wieder geheiligt werden. Man wußte sich nicht mehr als heilig im Sinn von persönlich rein (Versuch Novatians eine Kirche von „Reinen” herzustellen), aber man besaß heilige Märtyrer, heilige Asketen, heilige Priester, heilige Handlungen, heilige Schriften und eine heilige Lehre.

Daß der Name „Brüder” so stark in den Vordergrund trat, ist die Folge der Verkündigung Jesu (Mt 23, 8). Er wurde noch vertieft durch den Beisatz: „in dem Herrn”, durch die Zusammenfassung der ganzen Verbindung unter der Bezeichnung: ἡ ἀδελφότης (1 Pt 2, 17; 5, 9 und sonst) und durch das von Jesus selbst erteilte, aber doch nur zögernd verwertete Recht, ihn selbst unter den Brüdern mit zu begreifen (Mt 12, 48; Rö 8, 29). Der Name „Brüder” ist also auch eine religiöse Bezeichnung und gehört nicht nur der Ethik an. Der Name ist später d.h. im 3. Jahrhundert mehr und mehr zurückgetreten (in der Predigt hielt er sich), teils weil die faktischen Verhältnisse ihm nicht mehr entsprachen — man war kein Bruderbund mehr — teils weil der Begriff sich unter dem Einfluß des stoischen Bruderbegriffs verflachte (Tertull., Apol. 39: „fratres etiam vestri sumus iure naturae matris unius”), teils weil er nunmehr ebenso für besondere Stände in der Christenheit reserviert wurde wie der Name Heilige: der Kleriker nannte

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den Kleriker, der Konfessor den Konfessor, der Konfessor den Kleriker „Bruder” oder „Herr Bruder”.

Der Name „die Kirche” („Kahal”) war der glücklichste Griff, den die Urgemeinde auf diesem Gebiet der Selbstbezeichnungen getan hat (daß er auf Jesus selbst zurückgeht, ist trotz Mt 16, 18; 18, 17 wenig wahrscheinlich). Paulus hat ihn schon vorgefunden, und zwar in dem dreifachen Gebrauche, sowohl als Gesamtbezeichnung der Christgläubigen (AG 5, 11 zuerst, s. auch 12, 1: οἱ ἀπὸ τῆς ἐκκλησίας), als auch im Sinne der Einzelgemeinde (AG 8, 1; GA 1, 22) und im Sinne der Zusammenkunft der Gemeinde. Die Urgemeinde hat den feierlichsten Ausdruck, den das Judentum für seine gottesdienstliche Gesamtheit brauchte, übernommen („Kahal” — in der LXX in der Regel mit ἐκκλησία übersetzt — ist die Gemeinde in ihre Beziehung zu Gott und ist daher feierlicher als das mehr profane „Eda”, welches von LXX stets mit συναγωγή übersetzt worden ist. Die Rezeption von ἐκκλησία ist also ebenso zu verstehen wie die von „Israel”, „Samen Abrahams” usw. Im praktischen Gebrauch der damaligen Zeit trat bei den Juden ἐκκλησία weit hinter συναγωγή zurück, und das was für die Christen sehr günstig). Der vielseitige Gebrauch zusammen mit der religiösen Färbung — die von Gott berufene Gemeinde — sowie die Möglichkeit der Personifizierung ließen den Begriff und das Wort rasch in den Vordergrund treten, und der verwandte Begriff: „ὁ λαός” konnte sich ihm gegenüber als technischer nicht halten. Eben weil man die Bezeichnung „ἡ ἐκκλησία” besaß, war es unnötig, den Namen „ἡ συναγωγή zu übernehmen, den man zwar nicht ängstlich scheute, (s. meine Anmerkung zu Hermas, Mand. 11), aber doch selten gebrauchte. Wie man keine bloße Schule war (den Zwölfen und den Aposteln gegenüber), so auch keine Synagoge, wie die der Libertiner oder Cilicier. Man war eine von Gott berufene, vom Geiste

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regierte Gemeinde d.h. etwas ganz Neues, aber eben damit die Verwirklichung des alten Ideals. Die Behauptung des Epiphanius (haer. 30, 18), daß gewisse Judenchristen den Namen Synagoge ausschließlich (mit Abweisung des Namens „Ekklesia”) bei sich angewendet hätten, ist entweder unrichtig oder bezieht sich nur auf eine spätere Fraktion dezidierter und der großen Kirche besonders feindlicher Judenchristen.

Dadurch, daß man die Bezeichnung „Synagoge” als technische nicht übernahm, hoben sich die Christen auch terminologisch scharf vom Judentum und seinen religiösen Versammlungen (namentlich in der Diaspora) ab, nachdem die innere Trennung eingetreten war. Als „Kirche” und als „Kirchen” haben die Heidenchristen die neue Religion von Anfang an kennen gelernt. Unter diesem Wort (wie unter dem Wort „Brüder” und „Heilige”) vermochten sie sich etwas zu denken, wenn auch nicht das, was man in Jerusalem darunter verstand. Ein autoritatives Element war ursprünglich im Begriff der Kirche nicht gegeben; aber jede geistige Größe, die sich als ideal-reale Gemeinschaft gibt, birgt ein solches von Anfang an in sich: sie ist „vor” dem Einzelnen; sie hat ihre Überlieferungen und Ordnungen, ihre besonderen Kräfte und Organisation. Diese sind autoritativ; dazu: sie trägt den Einzelnen und versichert ihm zugleich den Inhalt, den sie bezeugt. Schon Mt 18, 17 erscheint sogar die Einzelgemeinde als richterliche Autorität (s. darüber unten), und 1 Ti 3, 15 heißt es: οἶκος θεοῦ, ἥτις ἐστὶν ἐκκλησία θεοῦ ζῶντος, στῦλος καὶ ἑδραίωμα τῆς ἀληθείας. „Ecclesia mater” findet sich dann in der Literatur des 2. Jahrhunderts öfters (Tertull. ad mart. 1: „domina ecclesia mater”). Am wichtigsten aber wurde es, daß Paulus (war er der erste?) eine Christus-Kirchenspekulation eröffnete, der zwar die alte Vorstellung vom Ehebunde Gottes mit seinem Volke zugrunde liegt, die aber auch zeitgeschichtliche

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Äonenvorstellungen benutzen mußte (da Christus nicht Gott selbst, sondern ein göttliches Wesen war). In dieser Spekulation wurde die Kirche ein himmlisches und ein irdisches (weil „erschienenes”) Wesen zugleich und nahm an allen Aussagen teil, die man über Christus machte. Die Kirche ist im Himmel; sie ist vor der Welt geschaffen; sie ist die Eva des himmlischen Adam; sie ist die Braut Christi, der Leib Christi; sie ist gewissermaßen Christus selbst, mit ihm und an ihm vom Himmel in dieser Endzeit erschienen. Was Tertullian in die Worte gefaßt hat: „In uno et altero Christus est, ecclesia vero Christus. ergo cum te ad fratrum genua protendis, Christum contrectas, Christum exoras” (de paenit. 10), dieses Ineinander erhabenster Einfachheit und ausschweifender Mystik, das hat man mit größerer oder geringerer Klarheit in den weitesten Kreisen und fast von Anfang an so vorgestellt. Es war tröstlich, es war eine ernste Verpflichtung, und es war ein überschwenglicher Gedanke voll himmlischer Kraft: der Christ hat als Mitglied der Kirche nicht nur sein Bürgerrecht im Himmel, sondern ist auch ein Glieb am Leibe Christi; aber auch die Verantwortung wuchs damit, und die strahlende Krone konnte auch eine furchtbare Last sein.

De konkrete Natur der Gemeinschaft kam in der κοινωνία (technisch: s. AG 2, 42 und Ga 2, 9) und in den gemeinschaftlichen Mahlzeiten, die an dem Herrenmahle ihren Mittelpunkt hatten, zum Ausdruck. Die κοινωνία muß sich über den ganzen Bereich des Lebens erstreckt haben und machte die Bezeichnung „ἀδελφοί” zur Wahrheit; die gemeinschaftlichen Mahlzeiten besiegelten dieses Verhältnis. Daraus aber folgt weiter, daß, unbeschadet des Ansehens und der besonderen Rechte der Zwölf und anderer Geistträger, ideell bei der ἐκκλησία die Gewalt lag und eine gewisse Gleichheit aller Mitglieder geherrscht haben muß. Näheres wissen wir nicht, aber aus AG 15 ergibt sich, daß

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in großen Lebensfragen bei der ἐκκλησία (im Verein mit den Zwölfen resp. den Aposteln) die Entscheidung lag. Wie dabei die „Synode” d.h. die große Gemeindeversammlung (d.h. eben die ἐκκλησία in einheitlicher und aktiver Darstellung, sehr irreführend „Apostelkonzil” genannt) zu beurteilen ist, ob sie regelmäßig zusammentrat, wie sich innerhalb dieser „Synode” die Kompetenzen der Apostel (des Petrus) bezw. des Jakobus bezw. der Presbyter abgrenzten, endlich ob die jerusalemische „Synode” als stetige Einrichtung vorbildlich gewesen ist für die heidenchristliche „Synoden” (d.h. ursprünglich die solennen Versammlungen jeder einzelnen Gemeinde) wissen wir nicht sicher. Wenn die Formeln, die Lukas braucht (15, 22: ἔδοξε τοῖς ἀποστόλοις καὶ τοῖς πρεσβυτέροις σὺν ὅλῃ τῇ ἐκκλησίᾳ und V. 28: ἔδοξεν τῷ πνεύματι τῷ ἁγίῳ καὶ ἡμῖν), richtig und genau sind, so fungierte die Synode so daß sie sich dabei als Organ des hl. Geistes wußte. Der Modus war dieser, daß die Apostel und Presbyter sich besonders äußerten bezw. vorschlugen, und die Gemeinde (τὸ πλῆτος: AG 4, 32; 6, 2. 5; 15, 12. 30 [in Antiochia]; [21, 22]; fehlt bei Paulus) zustimmte oder ablehnte.

Das, was sich hier gebildet hatte, war keine Theokratie und doch eine Theokratie. Es war keine, weil man über das Irdische erhoben war, der Gedanke politischer Herrschaft so fern wie möglich lag, und im Hinblick auf die nahe herrliche Zukunft alles Gegenwärtige gleichgültig erschien; es war aber doch eine Theokratie, weil alles das, was nötig war, um überhaupt auf Erden als ein genossenschaftlicher Bruderbund zu existieren den Glauben verbreiten und die Jungen erziehen zu können, als Gottes Geist, Herrschaft und Anordnung betrachtet wurde.


Harnack, A. (1910)