Die Kirche als Transformation der Judenkirche und der Synagoge hatte eben dadurch auch den Antrieb zu gewissen Rechtsbildungen sowie zu den Formen, in den sie die Rechtsbildungen faßte, in sich, weil sie die Nachfolgerin einer in Rechtsformen verfaßten heiligen Gemeinschaft war (oder vielmehr sie enthüllte sich als die Vollendung eben dieser Gemeinschaft). Als das wahre „Volk Gottes” war die Christenheit „Theokratie”; es ist jedoch bewunderungswürdig, daß sie die theokratischen Formen des alten Volks fast ganz abwarf, um sie erst von der Zukunft zu erwarten, in der Gegenwart aber von dem Geist, dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe hauptsächlich lebte. Immerhin war sie aber doch latente und z.T. auch tatsächliche Theokratie, und damit war göttliches Kirchenrecht in ihr gesetzt. Eine Rechtsbildung war ferner, wie schon angedeutet, auch dadurch gegeben, daß die Kirche Beschlag auf das gesamte Leben und Denken ihrer Gläubigen legte (sowie auf ihr gesellschaftliches Verhältnis zueinander) und alles einer von der Religion bestimmten, von der Liebe ausgewirkten festen Ordnung zu unterwerfen suchte (vgl. z.B. die sog. „Haustafeln” in den paulinischen Briefen). Indessen sind dies nicht die stärksten Wurzeln der gemeinen Rechtsbildung. Sie liegen — abgesehen von den bereits nachgewiesenen
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verfassungsrechtlichen Bildungen — auf einem anderen Boden (s. meine Abhandlung „Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche” in der „Kultur der Gegenwart” 1905). Die Kirche sah sich einem hochkultiviertem Staate gegenüber, zu dessen Rechte sie aber von Anfang an ein eindeutiges Verhältnis nicht zu gewinnen vermochte. Hätte sie ihn in jeder Beziehung negiert, so wäre sie bald von ihm zertrümmert worden. Hätte sie einfach auf ihn eingehen können, so wäre es zu einer eigenen Rechtsbildung nur in sehr bescheidenem Umfang gekommen. Eben weil ihr Verhältnis zu ihm ein kompliziertes war, weil sie sich zugleich ihm unterordnete (Rö 13) und ihn bekämpfte (Jo-Apk, etc.), ihn sich unbewußt zum Vorbild nahm und ihn negierte, kam es zu dauernden, den profanen entsprechenden Rechtsbildungen in ihrer Mitte. Prinzipielle hat Sohm Recht: die Negation der Welt, die Überweltlichkeit, die brüderliche Gleichheit und das Bewußtsein charismatischer Leitung duldeten eigentlich überhaupt keine der profanen analoge und ihr gleichartige Rechtsbildung. Liest man z.B. Hermas, Simil. 1f. und verwandte Stellen, so muß man zu dem Glauben kommen, diese Kirche verwerfe mit dem Privatbesitz überhaupt jede Rechtsordnung; aber nicht einmal bei Hermas ist es so gemeint — Besitz plus Almosengeben ergeben auch nach ihm einen erlaubten Zustand —, und die Mehrzahl der Christen erkannte die gewordenen Rechte des Standes und Besitzes als gestattete Güter an (trotz aller Deklamationen gegen das von der Idololatria durchsetzte Saeculum) und bemühte sich sehr bald um eine schrittweise Verbesserung. Könnte man als grasfressendes und nacktes Tier in den Bergen leben, ruft Irenäus aus (IV, 30, 3) — nur dann wäre man berechtigt, mit dem Besit auch allen Handel und Wandel und die staatlichen Ordnungen des Friedens, welche das Recht schafft, als Unrecht zu genieren; aber ein Ideal ist ihm das nicht!
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Das kirchliche Recht (im weiteren Sinn und auf die natürlichen Lebensverhältnisse bezogen) entstand also hauptsächlich aus der Notwendigkeit, für die Rechte und Rechtsordnungen, die im Staate galten und die man nicht anerkennen konnte, andere analoge zu substituieren und die, welche man anerkennen konnte, zu verbessern. Es entstand durchaus nicht als ein prinzipielles Unternehmen, sondern entwickelte sich langsam, sozusagen von Fall zu Fall. In der ersteren Richtung ist schon Paulus tätig gewesen, wenn er es den Christen untersagt, vor den weltlichen Gerichten Recht zu suchen, und sie anweist, sich an befähigte christliche Brüder zu wenden (1 Ko 6). Aber die ganze Schöpfung der kirchlichen Verfassung mit ihren Beamten bis zur Entwickelung des monarchischen Episkopats in jeder Lokalgemeinde ist als eine Rechtsbildung aufzufassen, die auch darum entstanden ist, weil man die bestehenden Organisation mit ihren Beamten nur sehr bedingt und in engen Grenzen anzuerkennen vermochte. Die Kirche, von der Ordnung und Festigung des Hauses und der Bildung kleiner Gesinnungsgemeinschaften ausgehend, schreitet so — über das freie Vereinswesen hinweg — bis zur städtischen Verfassung vor und schiebt sich allmählich in diese ein. Die lokale Organisation: der Bischof, das Presbyterkollegium, die Diakonen usw. — wirkt sofort als Rivale der städtischen Verfassung, wenn sie auch ohne diese bewußte Absicht und nicht als Nachbildung entstanden ist. Aber daß sie der städtischen Verfassung so ähnlich wurde, ist doch kein bloßer Zufall1. Auf dieser Linie ist
1) Ich stimme Ramsay (The church in the Roman Empire, 1893, p. 361) völlig bei, wenn er schreibt: „The administrative forms in which the Church gradually came to be organised were determined by the state of society and the spirit of the age. In the conflict with the civil Government these forms were, in a sense, forced on it; but it would be an error to suppose that they were ➝
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die Entwickelung fortgeschritten zur Provinzialverfassung (s.u.) und weiter zur Reichsverfassung, immer halb negierend, halb zustimmend, aber eben deshalb durch Nachahmung oder Rezeption dieser Formen sie im und am Staate negierend — die sicherste Methode, um den Staat zugleich auszuhöhlen und zu unterminieren. Auf der anderen Linie aber (Verbesserung der sittlich-rechtlichen öffentlichen Ordnungen) geht die Kirche vielfach durch ihre moralische Praxis, die hin und her auch durch formierte Bestimmungen bekräftigt wird, der staatlichen Rechtsentwicklung des 2.-4. Jahrhunderts (Sklavenrecht, Schutz der Ehe, Verschärfung der Ahndung der geschlechtlichen Sünden und Verbrechen, Armengesetzgebung, Ausgleich der Stände usw.) voran und läßt ihn, seitdem sie selbst (Mitte des 3. Jahrh.) als große öffentliche Macht sich enthüllt hat, als rückständig erscheinen. Auch hier bringt also die Entwickelung des Rechts in der Kirche den Staat in eine Zwangslage, aus der er sich nur durch Anerkennung und Privilegierung der Kirche zu retten vermag. Das alles sieht man schon im 2. Jahrhundert sich anbahnen, in welchem die Kirche bereits sozusagen die Stadt erobert hat, die Eroberung der Provinz beginnt und dem Kaiser und dem Reich durch ihre Apologeten mitteilt, daß ihnen nichts übrig bleiben wird, als sich die geistliche und sittliche Herrschaft der Kirche gefallen zu lassen. — In die Zivilstandsgesetzgebung des Staates hat zuerst der römische Bischof Kallist scharf eingegriffen durch
➝ forced on it in mere self-defence against a powerful enemy. They were accepted actively, not passively. The Church gradually became conscious of the real character of the task which it had undertaken. It came gradually to realise that it was a world-wide institution, and must organise a world-wide system of administration. It grew as a vigorous and healthy organism, which worked out its own purposes, and maintained itself against the disintegrating influence of surrounding forces; but the line of its growth was determined by its environment.”
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die Bestimmung, die Hippolyt (Philos. IX, 12) so wiedergegeben hat: Γυναιξὶν ἐπέτρεψεν, εἰ ἄνανδροι εἶεν καὶ ἡλικίᾳ γε ἐκκαίοιντο ἀναξίᾳ ἢ ἑαυτῶν ἀξίαν μὴ βούλοιντο καθαιρεῖν διὰ τὸ νομίμως γαμηθῆναι [es handelte sich also um vornehme christliche Jungfrauen, die einen christlichen Mann gleichen Standes nicht bekommen konnten, einen heidnischen nicht nehmen, aber auch ihren Stand nicht durch eine Mesalliance verlieren sollten], ἔχειν ἕνα ὃν ἂν αἱρήσωνται σύγκοιτον, εἴτε οἰκέτην, εἴτε ἐλεύθερον, καὶ τοῦτον κρίνειν ἀντὶ ἀνδρὸς μὴ νόμῳ γεγαμμημένην. Der Bischof schafft also Ehen, die die Kirche anerkennt, während sie vor dem staatlichen Forum ungiltig sind!
Das kirchliche Recht (im engeren Sinn) = ius ecclesiasticum (s. meine Abh. i.d. Sitz.-Ber. d. K. Preuß. Akad. d. Wiss. 1903, 26. Febr.) geht in seinen Anfängen auch schon in das 2. Jahrhundert zurück. Die Vorstellung, daß die Kirche „iura” bezw. ein „ius” besitze, ist älter als der hierarchische Kirchenbegriff; sie is u.W. zuerst von Tertullian auf verschiedene Funktionen der Kirche, vor allem aber auf die potestas clavium angewendet worden. Diese ist der Kirche von Christus gegeben. Die spezifische Vorstellung eines „ius ecclesiae” ist an der Schlüsselgewalt erwachsen, und die Ausbildung des Bußverfahrens, welches dem Prozeßverfahren verwandt ist, hat naturgemäß diese Vorstellung zur Entwickelung gebracht und gekräftigt (die Priester erscheinen als iudices; also verfahren sie nach einem „ius”). In Afrika sowohl wie in Rom ist die potestas ligandi et absolvendi das ius der Kirche und wird auch so genannt (Tertullian, de pudic. 21). Außerdem braucht Tertullian das Wort „ius” „iura” von der Kirche, weil ihr genossenschaftlicher Charakter zukommt, sowie im Sinne des Beamtenrechts: Der Brudername, der „Friede”, die Gastfreundschaft sind „iura” in der Kirche (de praescr. 20). Die Kirchen „miscent (inter se) unius institutionis iura” (l.c. 27).
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Den Frauen kommt das ius docendi nicht zu (de bapt. 1). Das „ius baptizandi” haben der Bischof, die Kleriker bezw. auch die Laien (l.c. 17). Die Häretiker „nullum ius capiunt Christianarum litterarum” (de praescr. 32).