2. Geschichte der Bezeichnung „die Schüler Jesu”.

Die Gesamtbezeichnung „die Schüler” hat sich nicht lange gehalten; denn sie konnte gegenüber der Anerkennung Jesu als des Messias nicht bestehen, weil sie einerseits zu wenig, andererseits zu viel zu besagen schien (schon in der Bezeichnung οἱ μαθηταὶ τοῦ κυρίου hebt sie sich selbst auf). Sie besagte zu wenig, weil der Auferstandene nicht mehr nur ein Lehrer und Prophet, auch nicht in jeder Hinsicht nur Messias designatus, sondern der Messias war; sie besagte zu viel, weil sie im Sinne persönlicher Jüngerschaft oder berufsmäßiger Nachahmung des Meisters verstanden werden mußte. Auf die Heidenchristen ist sie kaum übergegangen, und bereits Paulus hat sie als Gesamtbezeichnung aller Christen nicht gebraucht (wohl aber die Apostelgeschichte, was von Wichtigkeit ist). Der Name „Schüler” reduzierte sich allmählich auf die Zwölf und auf solche, die den Herrn noch persönlich gesehen hatten. Da er aber spezialisiert wurde, wurde er seit der Zeit der Verfolgungen auch solchen erteilt, die — weil sich Christus durch ihr Bekenntnis öffentlich zu ihnen bekannt hatte und weil sei seine Leiden fortsetzten, also seine Nachahmer wurden — in einem so engen Verhältnis zu Christus standen wie die einst persönlich berufenen Jünger. Wenn daneben im 2. Jahrhundert die Apologeten Christum wieder ihren Lehrer und sich die Christen überhaupt seine Schüler nennen, so

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ist das für den technischen Gebrauch des Wortes ohne jeden Belang. Daß damit das älteste Verhältnis, wie es zwischen Jesus und den frühesten Jüngern bestanden hatte, wieder aufzuleben schien, ist zufällig und nur scheinbar, da auch die Apologeten in ihm die Erscheinung eines himmlischen Wesens erkannten.1 Dagegen sind die bewußten Versuchte von Wichtigkeit, die nachmals gemacht worden sind, innerhalb der größeren Gemeinde oder ihr gegenüber, eine Gruppe von „Schülern” zu schaffen, die deshalb die Schüler Jesu sind, weil sie seine Nachahmer im strengen Sinn sind. Neben den Konfessoren kommen hier die wandernden und predigenden Asketen des 2. Jahrhunderts und sodann im 3. und 4. Jahrhundert die Mönche in Betracht. Aber schon vor der Entstehung des Mönchtums hat Novatian seine Reform der katholischen Christenheit durch Wiederbelebung des Begriffs des Schülers und Nachahmers Christi — freilich in sehr unzureichender, ja schwächlicher Weise — durchzusetzen versucht. Immerhin kommt in dem niemals in der Kirchengeschichte ganz erloschenen Gedanken, Jesus müsse „Schüler” haben und der Schüler müsse der Nachahmer Jesu (im Leben, im Wirken und im Leiden) sein, ein uraltes Element zum Ausdruck; denn nach den evangelischen Berichten kann darüber kein Zweifel sein, daß Jesus seine Schüler nicht nur als Lernende, sondern in und mit dem Lernen als seine imitatores d.h. als Verzichtende, Helfende und Leidende gedacht hat, so gewiß er daneben auch einen „dritten Orden” (Jünger, die in ihrem Beruf und Stand bleiben) — denn Franciskus hat ihn an diesem Punkte ganz richtig verstanden — gelten ließ. Indem die Gesamtgemeinde d.h. die Christenheit, die Selbstbezeichnung „die Schüler” aufgab, steigerte sie


1) In der „Apost. Kirchenordnung” gehört die Bezeichnung „der Lehrer” für Christus zur Fiktion: Die Anweisungen sollen als apostolische gelten.

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ihr religiöses Bewußtsein, dispensierte sich aber zugleich von der strengen Nachahmung Jesu. Diese Art der Entwickelung der Gesamtgemeinde ist nur ein Spezialfall ihrer charakteristischen Entwickelung auf allen Linien, und es ist hier wie überall bedeutsam, daß Paulus an diesem Prozeß besonders kräftig beteiligt ist. Wenn das Leben im Geist, wenn Glaube, Liebe und Hoffnung die Hauptsache ist, braucht die generelle Zumutung der imitatio nicht mehr zu bestehen. Damit fällt die Jüngerschaft im eigentlichen Sinn. Den Gewinn hat die bona libertas einerseits und die kirchlich reglementierte Laxheit andererseits.


Harnack, A. (1910)