Die christlichen Gemeinden in der Diaspora, die paulinischen und die anderen, haben sich entweder durch Abspaltung aus den Synagogen entwickelt oder doch so, daß
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jüdische Proselyten ihren ursprünglichen Kern gebildet haben. In beiden Fällen mußte die Synagoge mit ihrer Verfassung nachwirken, mag diese Nachwirkung auch in solchen Gemeinden bald abgenommen haben, in denen die „echten” Heiden nach kurzer Zeit die überwiegende Mehrzahl bildeten. Aber auch dann war die regelmäßige Verlesung des ATs nicht die einzige Reminiszenz an die Synagoge. Ferner, solange die neue Gemeinde noch klein war und familienhaft zusammenhalten konnte, muß die erste Organisation noch ganz von den besonderen Umständen abhängig gewesen sein, unter denen die Gemeinde entstanden war. Die Apostelgeschichte legt es an manchen Stellen nahe, daß am Anfang auch Frauen eine bedeutende Rolle in der Organisation gespielt haben, und die Paulusbriefe bestätigen das (Priscilla in Korinth, Ephesus, Rom; Lydia, Euodias und Syntyche [συνήθλησάν μοι] in Philippi, Phöbe in Kenchreä [προστάτις] u.a.).
Im allgemeinen empfängt man aus den Gemeindebriefen des Paulus das übereinstimmende Bild einer gleichmäßigen Selbständigkeit der einzelnen Gemeinde (s. die Nachweise bei Weizsäcker, Apost. Zeitalter) und gewinnt zugleich den sicheren Eindruck, daß die lokalen Ehrenpersonen und Amtsträger — wer und was sie immer gewesen sein mögen — damals als Leitende nur eine bescheidene Rolle gespielt haben können. Die Gemeinden stehen unter dem Worte Gottes (bezw. des Herrn) und unter der väterlichen Zucht des Apostels, der sie begründet hat; aber sofern der Geist sie regiert, ist dieser Geist der Gemeinde als ganzer und als einer Einheit geschenkt, und auch die Amts- und Ehrenpersonen stehen als Glieder in dieser Einheit und nicht über ihr. Das folgt aus der Natur der Gemeinden, die nicht nur den Namen (ἐκκλησία) mit der Gesamtgemeinde Gottes teilen, sondern von denen jede einzelne auch ihr geschlossenes Abbild und ihre Auswirkung ist (das
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Ganze ist in dem Teil; nicht nur ist der Teil in dem Ganzen). Ideell und religiös gibt es also, so paradox das scheinen mag, überhaupt keinen Unterschied zwischen Gesamtgemeinde und Einzelgemeinde — alles, was oben sub 3 von der Kirche gesagt ist, gilt auch hier —, aber faktisch konnte und sollte natürlich dieser Unterschied nicht aufgehoben werden, machte sich vielmehr immer stärker geltend. Die ideelle Einheit der beiden liegt in dem Wirken des Geistes und spricht sich z.B. noch sehr deutlich aus, wenn die römische Gemeinde von ihrem nach Korinth gerichteten Briefe sagt, er sei von ihr „durch den heiligen Geist” geschrieben (c. 63, ganz wie AG 15) und von seinem Inhalte behauptet, er sei von Christus durch sie kundgetan (c. 59). Auch die Art, wie Paulus den Fall des Blutschänders in Korinth behandelt wissen will, ist hier charakteristisch: die mit dem Apostel vereinigte Gemeindeversammlung ist kompetent und darf auf „die Kraft unseres Herrn Jesus” rechnen (von besonderen Befugnissen lokaler Amtsträger ist dabei nicht die Rede). Endlich sei als auf einen besonders bedeutsamen Beleg für das ideelle Wesen der Einzelgemeinde auf die Terminologie hingewiesen: ἡ ἐκκλησία τοῦ θεοῦ ἡ παροικοῦσα τὴν πόλιν (s. 1 Pt 1, 1; 1, 17; 2, 11; Hebr 11, 13; I Clem. 1, 1; Polyc. ep. 1, 1; Smyrn. ep. ad Philom. init., Dionys. Cor. bei Euseb. IV, 23; Ep. Lugd. l.c. V, 1; II Clem. 5 etc. und Lightfoots Note zu I Clemens, l.c.), aus der sich der Terminus „bischöfliche Parochie” (Apoll. bei Euseb. V, 18: ἡ ἰδία παροικία αὐτὸν ὅθεν ἦν οὐκ ἐδέξατο. Ep. Smyrn. ad Philom.: πάσαις ταῖς κατὰ πάντα τόπον τῆς ἁγίας [καὶ καθολικῆς] ἐκκλησίας παροικίαις; häufig im 3. und 4. Jahrhundert) entwickelt hat.1 Die Christenheit in jeder einzelnen Stadt ist nicht nur ἐκκλησία
1) Im 4. Jahrhundert kann „Parochie” auch den Sprengel des Bischofs im Unterschied von der bischöflichen Stadt bedeuten; s. Basilius ep. 240: ὁ κλῆρος ὁ κατὰ τὴν πόλιν καὶ ὁ ἐπὶ παροικίας. Seit ➝
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τοῦ θεοῦ, sondern sie gehört wie diese eigentlich in den Himmel; hier auf Erden ist sie nur in der Fremde und transitorisch. Sie ist also eine himmlische Größe d.h. im Grunde nicht Einzelgemeinde, sondern Erscheinung des Ganzen in dem Teil. Diese Betrachtung, die — auch für den einzelnen Christen — besonders eindrucksvoll bei Hermas (Sim. I u. sonst) ausgeprägt ist, ist noch dem Irenäus (IV, 30, 2f.) und namentlich dem Clemens Alexandrinus und Origenes ganz geläufig. Der Letztere richtet seine Aufmerksamkeit dabei auch darauf, daß es in den Städten zwei Arten von ἐκκλησίαι gibt, die profanen und die christlichen (der Name ἐκκλησία für die letzteren hat — das wird durch sein hohes Alter und den Gebrauch in der LXX bewiesen — seinem Ursprung nach nichts mit den profan-städtischen ἐκκλησίαι zu tun; es ist hier einer der zahlreichen Fälle zufälliger, aber dann für die Entwickelung nicht bedeutungsloser Übereinstimmungen zu erkennen); Orig. c. Cels. III, 29: αἱ τοῦ Χριστοῦ ἐκκλησίαι, συνεξεταζόμεναι ταῖς ὧν παροικοῦσι δήμων έκκλησίαις, ὡς φωστῆρές εἰσιν ἐν κόσμῳ, ibid. 30: ἐκκλησίας τοῦ θεοῦ [man beachte den Zusatz, wie er schon im 1. Clemensbrief steht] παροικούσας ἐκκλησίαις τῶν καθ᾽ ἑκάστην πόλιν δήμων.
Was man die pneumatische Demokratie innerhalb der ganzen Kirche und darum auch der Einzelgemeinde cum grano salis nennen kann, tritt sehr deutlich in der Art, wie Paulus sich in den Briefen an die Gemeinden richtet, zu Tage. Prinzipiell hat er jede von ihnen als ein in sich gleichartiges Ganze vor Augen, sie selbst Subjekt und Objekt aller Betätigungen. An ein verantwortliches lokales Amt über der Gemeinde denkt und wendet er sich zunächst nicht, vielmehr ist die Gemeinde überall als ganze
➝ dem Anfang des 5. Jahrhunderts endlich beginnt der Sprachgebrauch παροικία = Pfarrei, s. Hieron. c. Vigilant. 2; Concil. Chalc. canon 17.
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verantwortlich, und die Verschiedenheiten in ihr begründen nicht eine Über- und Unterordnung, sondern ein organisches Zusammenwirken, in welchem jeder Teil gleich wichtig ist. Dies ist auch eine Folge der contemplatio partis sub specie totius, die bei Paulus noch durch die Betrachtung jedes einzelnen Christen als eines Freien mächtig unterstützt wird. Man darf auch fragen, ob nicht die Entstehung der sog. „katholischen” Briefliteratur von hier aus zu begreifen ist. Es gibt Briefe mit spezieller Adresse, die katholisch gemeint sind (z.B. die sieben Briefe in der Apokalypse); es gibt Briefe mit katholischer Adresse, die sich doch zunächst an einen bestimmten Kreis gerichtet haben müssen (Jakobus-, Judasbrief); es gibt Briefe, die zugleich eine partikulare und eine katholische Adresse haben (Ep. Smyrn. ad Philom.); es gibt endlich absichtlich adressenlose oder mit einer bloßen Scheinadresse ausgestattete Schriftstücke, die sich doch zunächst auf eine bestimmte Gemeinde beziehen (Hermas; ep. Barn.). Diese Seltsamkeiten sowie der schnelle Austausch, die Sammlung und das allgemeine Ansehen von Briefen trotz ihrer lokalen Adressen bleiben unverklärt, wenn nicht die Einzelgemeinde die Gesamtkirche vertreten konnte und wenn nicht, mindestens ideell, der Gemeinde als Gemeinde und als einer in sich gleichartigen Schöpfung die geistliche Souveränetät zukam. In letzterer Hinsicht ist u.a. auch noch bemerkenswert, daß noch im 2. Jahrhundert die Gemeinden Briefe wechseln, ohne daß in ihnen irgend ein Amt erwähnt wird. Die Gemeinde schreibt an die Gemeinde, als gäbe es keine Bischöfe und keine Presbyter.