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Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten.

 

 

Einleitung.1

Auf keinem anderen Gebiete der Kirchengeschichte ist der Gegensatz der konfessionellen und der geschichtlichen Betrachtung so groß, wie auf dem der ältesten Verfassungsgeschichte der Kirche und des kirchlichen Rechts. Nach katholischer Lehre hat Christus die Kirche gestiftet, ihr Petrus zum Haupt gesetzt, an Petrus einen regierenden


1) Literatur: Die ältere bei Binterim, Denkwürdigkeiten, Bd. I, 2 (1825) S. 430 f.; G.J. Planck, Gesch. d. christl. kirchl. Gesellschaftsverfassung, 5 Bde, 1803ff.; R. Rothe, Die Anfänge d. christl. Kirche, 1837; J.B. Lightfoot, „The Christian ministry”, in seinem Komm. zum Philipperbrief, 1873; A. Harnack, Die Lehre der 12 Apostel, 1884; E. Hatch, Gesellschaftsverfassg. d. Kirche im Altertum (übers. v. A. Harnack), 1886, dazu im Expositor 1887, Mai; E. Löning, Die Gemeindeverfassg. d. Urchristent., 1889; C. Weizsäcker, Apostol. Zeitalter2, 1892; R. Sohm, Kirchenrecht I, 1892; W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, 1894; J. Réville, Les origines de l’episcopat, 1894; Dunin-Borkowski, S.J., Die neueren Forschungen über die Anfänge des Episkopats, 1900 [hier eine vollständige Übersicht über die neuere Spezialliteratur]; H. Bruders, Die Verfassg. d. Kirche bis z. J. 175 n. Chr., 1904; K. Lübeck, Reichseinteilung und kirchliche Hierarchie des Orients bis zum Ausgang des 4. Jahrh., 1901; A. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den drei ersten Jahrh., 2. Aufl., 1906; R. Knopf, Das nachapostoliche Zeitalter, 1905; P.A. Leder, Die Diakonen der Bischöfe und Presbyter, 1905. Dazu die Artikel „Ordines”, „Geistliche”, „Priester”, „Synoden” u.a. in der Prot. Real-Encyklopädie3, ferner die einschlagenden Werke von Hinschius, Friedberg, Kahl, Löning, Scherer, Duchesne, Probst usw.

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Apostolat angeschlossen, der sich in dem monarchischen Episkopat ebenso fortsetzen sollte, wie der Primat in den Nachfolgern des Petrus, und den Unterschied von Klerus und Laien als fundamental angeordnet. Auch die ganze übrige Kirchenverfassung, wie sie heute besteht, wird auf Christus selbst zurückgeführt, und nur darüber gibt es eine untergeordneter Kontroverse, wie viel er davon direkt und während seiner irdischen Lebenszeit befohlen, wie viel er als Erhöhter in den vierzig Tagen seines Verkehrs mit den Jüngern angeordnet hat, was die Apostel dann noch, von seinem Geiste geleitet, hinzugefügt haben und welche minder wichtigen und der Änderung fähigen Bestimmungen im Laufe der Kirchengeschichte hinzugetreten sind. Jedenfalls hat er die Kirche, als regnum externum, ausgerüstet mit einer ungeheuren Rechtsgewalt, die ihre Wurzel am Binde- und Löseschlüssel hat, gestiftet, und die päpstlichen und klerikalen Kompetenzen gehen auf ihn zurück. Er hat der Kirche das Recht und die Pflicht universaler Mission anvertraut und ihr eben damit die Enden der Erde zum Eigentum übergeben, und er hat ihr und ihren Beschlüssen in der Verheißung, daß er durch seinen Geist bei ihr sein werde alle Tage, Unfehlbarkeit verliehen: die Kirche ist so den weltlichen Reichen der Gegenwart und der Zukunft zwar als ein regnum sui generis, aber doch als ein Reich entgegengestellt, dem gegenüber die souveränen Rechte, die ihnen noch verbleiben, nur den bescheidensten Umfang haben können und in allen „gemischten Fällen” der Entscheidung der Kirche weichen müssen.

Aber auch nach altprotestantischer Lehre ist die Kirche eine absichtliche und direkte Stiftung Christi, und, obgleich die katholische Auffassung durch die Lehre, die Kirche sei die auf dem Worte Gottes sich gründende societas fidelium, einschneidend korrigiert ist, werden doch — im Calvinismus und in einem Teile des Luthertums — bedeutende

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theokratische und klerikale Elemente, wenn auch latent, konserviert.

Beide Betrachtungen haben die ganze Entwickelungsgeschichte des apostolischen und nachapostolischen Zeitalters gegen sich, und außerdem stehen und fallen sie bereits mit der Frage der Geschichtlichkeit einiger neutestamentlicher Stellen (namentlich im Evangelium des Matthäus). Sieht man von ihnen ab — und nach allen Regeln geschichtlicher Kritik ist man dazu gezwungen —, so ist jedes direkte äußere Band zwischen Jesus und der „Kirche” und ihren werdenden Ordnungen zerschnitten. Übrig bleibt das innere geistige Band, auch wenn Jesus die Kirche weder gestiftet noch auch gewollt hat.1 Übrig bleibt natürlich auch die Tatsache, daß es eben seine Schüler und Gläubigen gewesen sind, die die Kirche gebildet haben, und daß er Zwölf von ihnen als Verbreiter seiner Lehre und als künftige Richter über die Zwölfstämme eingesetzt hat. Alles aber, was wirklich geworden ist, ist nicht aus einem im voraus gefaßten Plane entstanden, sondern ist unter den gegebenen Zeitverhältnissen automatisch herausgewachsen aus der brüderlichen Gemeinschaft von Menschen, die durch Jesus Gott gefunden hatten, die sich darum vom Geiste Gottes regiert wußten und die, in der jüdischen Theokratie stehend, an die Verwirklichung derselben durch Jesus glaubten und dafür ihr Leben einsetzten. Gott gefunden hatten und — in der jüdischen Theokratie standen: eine


1) Die Kirche ist jünger und älter als Jesus. Sie bestand in gewisser Weise längst vor ihm. Sie ist von den Propheten gestiftet, zunächst innerhalb Israels; aber sie wies schon damals über sich hinaus. Alles, was nachher kam, sind Umformungen. Sie war in dem Momente vorhanden, als sich innerhalb Israels eine auf die Menschheit angelegte Gemeinschaft bildete, die aus dem Dunklen ins Helle, aus der Volks- und statutarischen Religion zu einer Religion des Geistes strebte un sich zu einer höhern Stufe des Menschentums geführt sah, auf der Gott und sein heiliges Sittengesetz regieren.

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in sich verschlungene duale Entwickelung mußte die Folge sein! In dem Samenkorn oder vielmehr in Samenkorn und Feld zusammen war doch nicht nur ein die Menschheit umspannender, in der Furcht Gottes atmender Bruderbund, sondern auch schon jene Kirche vorgebildet, wie sie sich im Katholizismus entwickelt hat und von ihm als die ursprüngliche vorgestellt wird.

Unter den verschiedenen kritischen Auffassungen der Entwickelungsgeschichte der kirchlichen Verfassung und des kirchlichen Rechts, welche im letzten Jahrhundert vorgetragen worden sind, ragt die von Sohm durch die richtige Wahl des Ausgangspunkts und durch Konsequenz hervor. Sie bezeichnet zugleich den denkbar schärfsten Gegensatz zur katholischen Auffassung („die Entstehung des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung ist der Abfall von dem von Jesus selbst gewollten und ursprünglich verwirklichten Zustand”). Ob sie haltbar ist, wird die folgende Darstellung, die streng analytisch verfahren wird, zeigen.


Harnack, A. (1910)