Ι. Die Evangelien und die Apostelgeschichte.

Besäßen wir im Neuen Testament nicht vier Evangelien, sondern nur die des Lucas und Johannes, so würden wir nicht wissen, daß das Wort „Evangelium” zum Wortschatz der ältesten evangelischen Überlieferung gehört; denn es fehlt in jenen Evangelien vollständig1. Es fehlt aber auch in der dem Matthäus und Lucas gemeinsamen Quelle (Q), soweit sich dieselbe feststellen läßt. Das Fehlen des Worts im Lucas-Evangelium ist auffallend; denn in der Apostelgeschichte findet es sich (wenn auch nur zweimal, und es hat mit diesen Stellen eine besondere Bewandtnis), und das Wort εὐαγγελίζεσθαι ist sowohl dort wie hier häufig (im Ev. findet es sich 10mal und in der AG 15mal). Dagegen fehlt im Joh.-Ev. auch εὐαγγελίζεσθαι; es wird aber auch bei Marcus vergeblich gesucht und Matthäus bringt es nur einmal, wo er die Quelle Q wiedergibt, die es ebenfalls nur einmal aufweist (Mt 11, 5 = Lc 7, 22). Die Verteilung2 stellt somit folgende Tabelle dar:


1) Hieraus wird man schließen dürfen, daß sie selbst ursprünglich den Namen „Evangelium” schwerlich getragen haben.
2) Ich stelle Paulus und den Hebräerbrief hinzu.

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εὐαγγέλιον

εὐαγγελίζεσθαι

Q

+

Marcus

+

Matth. (ohne Q)

+

Lucas-Ev.

+

Apostelgeschichte

+

+

Paulus

+

+

Johannes

Hebräerbrief

+

(A) Das einmalige Vorkommen von εὐαγγελίζεσθαι in Q ist nicht gleichgültig, will aber doch an sich nicht viel besagen; denn es ist nicht technisch, sondern Jesus nimmt Jesaj. 61, 1 auf, eine Stelle, die in wörtlichem Zitat Lucas ihm noch einmal zugeschrieben hat (4, 18: „εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς”).

(B) Bei Marcus findet sich τὸ εὐαγγέλιον siebenmal1, fünfmal im Munde Jesu und zweimal braucht es der Evangelist selbst2. Für die Erklärung hat man von der Stelle 1, 14. 15 auszugehen. Marcus schreibt:

Καὶ μετὰ τὸ παραδοθῆναι τὸν Ἰωάννην ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς εἰς τῆν Γαλιλαίαν κηρύσσων τὸ εὐαγγέλιον3 τοῦ θεοῦ [καὶ] λέγων, ὅτι πεπλήρωται ὁ καιρὸς καὶ ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ˙ μετανοεῖτε καὶ πιστεύετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ.

Die Worte stehen im Evangelium des Marcus an hervorragendster Stelle; denn sie eröffnen es (c. 1, 1-13 ist Einleitung). Sie sollen den Hauptinhalt der Predigt Jesu thematisch angeben. Was das Wort „Evangelium” im Munde Jesu und im Sinne des Marcus hier bedeuten soll, scheint


1) Dazu einmal auch im unechten Schluß (16, 15: Κηρύξατε τὸ εὐαγγέλιον πάσῃ τῇ κτίσει). Es ist bemerkenswert, daß hier das Evangelium eben so wenig näher definiert ist, wie sonst bei Marcus.
2) c. 1, 15; 8, 35; 10, 29; 13, 10; 14, 9; 1, 1. 14.
3) Der Zusatz τῆς βασιλείας, den viele Handschriften bieten, ist Konformation nach dem Text des Matthäus; auch das folgende ἤγγικεν ἡ βασιλεία legte den Zusatz nahe.

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keinem Zweifel unterworfen zu sein. Daß die Zeit erfüllt und die Gottesherrschaft nahegekommen ist, muß der Inhalt des Evangeliums sein, und der Evangelist muß es ebenso aufgefaßt haben; denn das Wort kann an der ersten Stelle nicht etwas anderes bezeichnen als an der zweiten. Evangelium „Gottes” nennt der Evangelist es aber, um auszudrücken, daß die Botschaft an diesem selbst ihren Urheber hat, daß Jesus also in göttlichem Auftrag ihr Verkündiger ist. Glauben verlangt dieses Evangelium; denn die Botschaft wird durch den nächsten Augenschein nicht unterstützt. Sie hebt sich aber auch scharf von der Predigt des Täufers ab; denn dieser wird dadurch charakterisiert, daß er eine Bußtaufe verkündigt zur Sündenvergebung (1, 4), und daß er auf den Größeren hinweist, der nach ihm kommen soll (1, 7f.). Diese Größere ist jetzt erschienen und bringt die frohe Verkündigung, daß das Reich Gottes nunmehr nahegekommen ist. Aber diese Verkündigung erhält dadurch doch einen ernsten Charakter, daß sie eine innerliche Umkehr verlangt. Diese Forderung gehört natürlich nicht zum Inhalte der Frohbotschaft, sondern spricht die Bedingung für den Eintritt in das Reich aus1.


1) Wellhausen schreibt: „Wie kann die Bußpredigt als frohe Botschaft bezeichnet werden? Das Evangelium und der Glaube an das Evangelium setzen ganz plötzlich ein, ohne daß Jesus sich darüber expliziert. Für die Juden, zu denen er redete, mußten diese Begriffe völlig unverständlich sein. Sie gehören in die apostolische Predigt, hier sind sie verfrüht.” Hiergegen ist manches einzuwenden. (1) Die Bußpredigt wird keineswegs als frohe Botschaft bezeichnet, sondern diese ist von jener deutlich unterschieden. (2) Eine Explikation der Begriffe Evangelium und Glaube an dasselbe war nicht nötig, weil sie keineswegs unverständlich waren, vorausgesetzt daß Evangelium die frohe Botschaft von der Nähe des Reichs bedeutet — welchem Juden sollte der Sinn dieser Ankündigung dunkel gewesen sein? Zugestehen wird man Wellhausen nur, daß Jesus selbst sich nicht so kurz ausgedrückt haben kann: ➝

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Erst c. 8, 35 findet sich das Wort „das Evangelium” im Buch des Marcus wieder und sodann c. 10, 29. Da beide Stellen nahe verwandt sind, kann man sie zusammen behandeln:

Ὃς ἂν ἀπολέσει τὴν ψυχὴν αὐτοῦ ἕνεκεν ἑμοῦ καὶ τοῦ εὐαγγελίου, σώσει αὐτήν.
Οὐδείς ἐστιν ὃς ἀφῆκεν οἰκίαν ἢ ἀδελφοὺς ... ἕνεκεν ἐμοῦ καὶ ἓνεκεν τοῦ εὐαγγελίου, ἐὰν μῆ λάβῃ ἑκατονταπλάσια κτλ.

Wie in 1, 15 steht hier τὸ εὐαγγέλιον absolut, und nach dieser Stelle scheint auch der Sinn an unseren Stellen nicht zweifelhaft sein zu können. War in 1, 15 von dem, dem die Freudenbotschaft vom Reich gelten soll, die Umkehr verlangt, so wird diese Umkehr hier näher als ein Verzicht charakterisiert. Neu ist, daß dieser Verzicht nicht nur um des Reiches, sondern auch um Jesu selbst willen


➝ μετανοεῖτε καὶ πιστεύετε εἰς τὸ εὐαγγέλιον. Aber der Evangelist durfte in diese Kürze die Predigt formulieren, weil er ja unmittelbar vorher das Evangelium als die frohe Botschaft von der Nähe des Reichs gekennzeichnet hatte. (3) Wären die Worte: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium” abgerissen überliefert, so könnte man vermuten, daß sie in die apostolische Predigt gehören und hier verfrüht seien. Da ihnen aber die Worte: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen” vorangehen, dazu noch die Erzählung: „Jesus kam nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes” — so liegt kein Grund vor, an ein Hysteron-Proteron zu denken. Dazu kommt, daß die Formel: μετανοεῖτε καὶ πιστεύετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ bei genauerer Betrachtung gar nicht paulinisch ist, da die Zusammenstellung von μετανοεῖν und πιστεύειν dem Paulus ganz fremd ist und sich auch πιστεύειν τῷ εὐαγγελίῳ bei ihm nicht findet (ὑπακούειν Rö 10, 16 und 2 Th 1, 8, jedoch πίστις τ. εὐαγγ. Phi 1, 27). (4) Wäre Wellhausens Erklärung in Bezug auf „Evangelium” in v. 15 (= Apostolische Botschaft von Christus) richtig, so bedeutete dieses Wort in v. 15 etwas anderes als in v. 14; denn hier gibt Wellhausen natürlich zu (s. seine Bemerkung zu 14, 9), daß es die frohe Botschaft vom Kommen des Reichs ist.

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gefordert wird; aber den Sinn des Wortes „τὸ εὐαγγέλιον” deshalb zu ändern und ihn anders aufzufassen als in 1, 14 und, wie wir gesehen haben, auch in 1, 15, scheint mehr als gewagt. Dennoch ist Wellhausen dieser Ansicht. Er schreibt zu 8, 35: „Nicht um seines Evangeliums willen, sondern um des Evangeliums willen: Jesus ist auch hier bei Marcus nicht der Verkünder, sondern der Inhalt des Evangeliums. Ἕνεκεν τοῦ εὐαγγελίου bedeutet nahezu dasselbe wie ἕνεκεν ἐμοῦ, das Evangelium ist der von den Aposteln gepredigte Christus.” Diese Erklärung hat an dem Kontext keinen Anhalt (sofern sie sich auf c. 1, 1 stützt, wird sie unten zur Sprache kommen), ja der Kontext streitet mit ihr; denn eben in dem Reiche Gottes wird man seine Seele retten und und hundertmal mehr empfangen, als man hier verloren hat. Daß eine Tautologie zu ἕνεκεν ἐμοῦ (bezw. ein Hendiadyoin) beabsichtigt sei, ist um so unwahrscheinlicher, als an der zweiten Stelle das ἕνεκεν ausdrücklich wiederholt ist. Darin hat Wellhausen freilich Recht — man braucht dafür keine einzelnen Stellen anzuführen, da die ganze Anlage des Evangeliums und seine Ausführung es bezeugt —, daß für Marcus die Predigt vom gekreuzigten und auferstandenen Christus die Hauptsache ist; aber daß Marcus dieses sein Verständnis in das Wort „Evangelium” hineingetragen hat, wird durch 1, 14. 15 ausgeschlossen und kann durch 8, 35 und 10, 29 (ἓνεκεν τοῦ εὐαγγελίου) nicht bewiesen werden. Wohl aber kann man es in dem ἕνεκεν ἐμοῦ finden, dessen ausdrückliche Hervorhebung neben dem ἓνεκεν τοῦ εὐαγγελίου in diese Richtung weist, aber zugleich — eben weil es besonders hervorgehoben ist — den Begriff „Evangelium” in der Bedeutung „Evangelium des Reichs” schützt.

Die beiden Stellen, in denen „Evangelium” sich sonst noch im Munde Jesu bei Marcus findet (13, 10 und 14, 9) bringen es wiederum ohne jede nähere Bestimmung; aber

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eben deshalb ist man verpflichtet, auch sie nach der grundlegenden Stelle im Anfang (1, 14), wo das Wort völlig klar determiniert ist, zu verstehen, falls nicht zwingende Gegengründe geltend gemacht werden können.

Εἰς πάντα τὰ ἔθνη πρῶτον δεῖ κηρυχθῆναι τὸ εὐαγγέλιον.
Ὅπου ἐὰν κηρυχθῇ τὸ εὐαγγέλιον εἰς ὅλον τὸν κόσμον, καὶ ὃ ἐποίησεν αὕτη λαληθήσεται εἰς μνημόσυνον αὐτῆς.

Auch in 1, 14 ist von dem κηρύσσειν τὸ εὐαγγέλιον die Rede. Wenn dieses an unseren beiden Stellen wieder aufgenommen erscheint, so kann auch τὸ εὐαγγέλιον nichts anderes bedeuten als was es dort bedeutet. Wellhausen schreibt: „das Evangelium ist hier wie immer (außer 1, 14) die Verkündigung der Apostel über Jesus, besonders über sein Leiden, Sterben und Auferstehen.” Aber das „immer ist nur durch die drei Stellen 1, 15; 8, 35; 10, 29 gedeckt, und an ihnen bedeutet, wie wir gesehen, Evangelium dasselbe wie in 1, 14. An unseren Stellen eine andere Determinierung anzunehmen, ist durch nichts angezeigt.

Es erübrigt nunmehr nur noch eine Stelle, nämlich der Anfang des Buchs (1, 1f.): Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ1, καθὼς γέγραπται ἐν τῷ Ἡσαΐᾳ τῷ προφήτῃ˙ ἰδοὺ ἀποστέλλω τὸν ἄγγελόν μου κτλ. Hier haben außer Wellhausen auch andere Exegeten übersetzen zu müssen gemeint: „Anfang des Evangeliums von Jesu Christo”. Nach dem bisher Nachgewiesenen ist diese Übersetzung nicht wahrscheinlich; denn in dem ganzen Buch bedeutet Evangelium das Evangelium (Gottes, s. 1, 14) von der Nähe des Reichs. Wie kann man also nachweisen, daß es hier etwas anderes bedeutet? Man sagt, nur hier stehe Ἰησοῦ Χριστοῦ daneben, und dazu — das Marcus-Ev. zeige paulinisches Gepräge. Letzteres ist richtig; aber daraus folgt noch


1) Der Zusatz υἱοῦ (τοῦ) θεοῦ ist sehr stark, aber doch nicht genügend bezeugt.

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nicht, daß Marcus seine paulinische Theologie in den Begriff Evangelium getragen; zudem fragt es sich noch, ob bei Paulus „Εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ” als „Evangelium von J.Chr.” zu verstehen ist (s.u.). Wenn Marcus bei Evangelium an Christus als den Inhalt desselben gedacht und dies in der Aufschrift zum Ausdruck gebracht hätte, so müßte man erwarten, daß er auch im Buche selbst diese Auffassung bekundet hätte. Das ist aber nicht geschehen; vielmehr, wo er den Begriff nach wenigen Versen wieder aufnimmt, bezeichnet er Gott als den Autor, Christus als den Verkündiger und die Nähe des Reichs als den Inhalt des Evangeliums. Also ist es methodisch unzulässig, das Wort hier anders zu verstehen. „Anfang des Evangeliums Jesu Christi” muß daher im Sinne des Marcus paraphrasiert werden: „Es beginnt die von Jesus Christus verkündete Frohbotschaft von der Nähe des Reichs”. Übrigens ist es nicht ganz sicher, daß die worte Ἰησοῦ Χριστοῦ ursprünglich sind. Sie fehlen bei Iren. III, 11, 81 und Epiphan. 51, 62; Marcus braucht sonst τὸ εὐαγγέλιον (außer 1, 14 τοῦ θεοῦ) nur absolut, und der Zusatz, der ja bald noch durch „Sohn Gottes” erweitert wurde, erklärt sich sehr leicht3. Indessen läßt sich eine sichere Entscheidung nicht mehr treffen.

(C) Welchen Befund bietet Matthäus? Q lieferte ihm das Wort „Evangelium” nicht, und in den ihm


1) „Marcus vero a prophetico spiritu, ex alto adveniente hominibus, initium fecit: „Initium”, dicens, „evangelii, quemadmodum scriptum est in Esaia propheta”. Der in Catenen erhaltene griechische Text bietet die Worte Ἰησοῦ Χριστοῦ, was aber nicht ins Gewicht fällt.
2) Μάρκος ..... ἀπὸ τῆς ἐν τῷ Ἰορδἀνῃ πραγματείας ποιεῖται τὴν εἰσαγωγὴν τοῦ εὐαγγελίου καί φησιν˙ Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου, ὡς γέγραπται κτλ. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Epiphanius hier auf Hippolyt zurückgeht.
3) Lachmann, Weiße, Ewald und Wellhausen betrachten auch den 2. und 3. Vers als eine alte Interpolation.

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eigentümlichen Abschnitten hat er es auch nie gebraucht. Wie hat er aber die Stellen wiedergegeben, in denen es sich bei Marcus, seiner Quelle, fand? Die Stelle Mc 1, 14-15 hat er zweimal benutzt und also wiedergegeben (4, 17. 23): Ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς κηρύσσειν καὶ λέγειν μετανοεῖτε˙ ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν .... περιῆγεν ἐν ὅλῃ τῇ Γαλιλαίᾳ, διδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν καὶ κηρύσσων τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας und (9, 35): Περιῆγεν ὁ Ἰησοῦς τὰς πόλεις πάσας καὶ τὰς κώμας, διδάσκων ἐν ταῖς συναγωγαῖς αὐτῶν καὶ κηρύσσων τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας. Matthäus hat also Marcus so verstanden, wie wir ihn verstanden haben, und das Wort Evangelium durch den Zusatz τῆς βασιλείας bestimmt determiniert. Genau so ist er 24, 14 gegenüber Mc 13, 10 verfahren: er hat wiederum τῆς βασιλείας zu τὸ εὐαγγέλιον hinzugefügt. Dagegen hat er 26, 13 (zu Mc 14, 9) auf den Zusatz τῆς βασιλείας verzichtet, weil er τοῦτο hinzufügte1. Dieses sind alle Stellen, in denen sich bei Matthäus τὸ εὐαγγέλιον findet; denn an den beiden Stellen, an denen es bei Marcus noch steht (8, 35; 10, 29), hat Matthäus es fallen lassen2 und sich mit ἕνεκεν ἐμοῦ bezw. ἕνεκεν τοῦ ἐμοῦ ὀνόματος begnügt3. Ist dem so, so hielt Matthäus den doppelten Ausdruck für überflüssig; aber nicht ἕνεκεν ἐμοῦ hat er gestrichen, sondern ἕνεκεν τοῦ εὐαγγελίου, und damit bewiesen, daß ihm jenes wichtiger war als dieses. Aus Matthäus läßt sich also fast nur Negatives in Bezug auf den Begriff „Evangelium” lernen. Er fügt zu Marcus, den er richtig verstanden hat, nicht nur nichts hinzu, sondern er schränkt den Gebrauch von „Evangelium” noch etwas ein. Immerhin aber hat er den


1) Im Sinne „dieses gegenwärtig verkündete Evangelium”.
2) Mt 16, 25 und 19, 29.
3) Falls die Verse bei Mt und Mc nicht aus der in Q vorliegenden Überlieferung stammen und Mc einen Zusatz gemacht hat. Vgl. auch Lc.

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Ausdruck „das Evangelium vom Reich” geprägt oder eingeführt, der insofern etwas über Marcus hinausgeht, als nach diesem strenggenommen der Ausdruck lauten müßte: „Das Evangelium von der Nähe des Reiches”. In der Fassung des Matthäus kann (muß?) die Formel so verstanden werden, daß an die Verkündigung von der Natur und dem Inhalt des Reichs zu denken ist, und das entspricht in der Tat der Bedeutung, die Matthäus in seinem Buche der Beschreibung der Natur des Reiches (Seligpreisungen, Bergpredigt) gibt.

(D) Es gehört zu der besonderen Verwandtschaft, die das Lucas- und Johannes-Evangelium verbindet, daß sie beide den Ausdruck εὐαγγέλιον vermissen lassen. Wie aber hat sich Lucas mit den Stellen abgefunden, an denen er ihn bei Marcus las? Die erste Stelle (Mc 1, 14. 15) hat er also wiedergegeben (4, 43f. nach der Erzählung vom ersten Auftreten Jesu): εἶπεν πρὸς αὐτούς, ὅτι καὶ ταῖς ἑτέραις πόλεσιν εὐαγγελίσασθαί με δεῖ τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ, ὅτι ἐπὶ τοῦτο ἀπεστάλην. καὶ ἦν κηρύσσων εἰς τὰς συναγωγὰς τῆς Γαλιλαίας. Er hat also die Sache richtig wiedergegeben, aber das Wort εὐαγγέλιον fallen lassen. In Bezug auf Mc 8, 35 ist er (9, 24) wie Matthäus verfahren und hat sich mit ἕνεκεν ἐμοῦ begnügt; aber in Bezug auf Mc 10, 29 hat er (18, 29) umgekehrt ἕνεκεν ἐμοῦ entfernt und für ἕνεκεν τοῦ εὐαγγελίου sachlich richtig ἕνεκεν τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ geschrieben. Er hat also wiederum absichtlich das Wort εὐαγγέλιον vermieden und, wie 4, 43, das „Reich” sachlich richtig eingesetzt. Den Spruch, daß das Evangelium zuerst allen Völkern gepredigt werden müsse (Mc 13, 10), hat er überhaupt nicht aufgenommen, bezw. (21, 9) durch einen farblosen ersetzt (δεῖ ταῦτα γενέσθαι πρῶτον). Da endlich bei ihm die Salbung in Bethanien fehlt, fehlt auch Mc 14, 9 und die Erwähnung des Evangeliums dort.

In der Apostelgeschichte hat Lucas zweimal das Wort εὐαγγέλιον gebraucht. C. 15, 7 läßt er den Petrus auf dem

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sog. Apostelkonzil sagen, daß Gott ihn erwählt habe, damit durch ihn ἀκοῦσαι τὰ ἔθνη τὸν λόγον τοῦ εὐαγγελίου καὶ πιστεῦσαι. Was hier „Evangelium” genauer bedeutet, läßt sich nicht sagen. Es ist nicht gestattet, den paulinischen Begriff des Evangeliums einfach unterzuschieben. C. 20, 24 spricht Paulus zu den Presbytern von Ephesus und bezeichnet es als das ihm von dem Herrn Jesus übertragene Amt: „διαμαρτύρασθαι τὸ εὐαγγέλιον τῆς χάριτος τοῦ θεοῦ”. Das ist wirklich paulinisch empfunden. Nicht zufällig aber ist es, daß eben nur in zwei Reden, nicht aber in der Erzählung des Lucas selbst das Wort gebraucht ist. Man sieht hier wieder die Genauigkeit und Treue des Lucas in der Apostelgeschichte, die so oft frappiert und auch in den „Reden” nicht fehlt. Er selbst hält auch in diesem Buch an seinem Verzicht auf das Wort Evangelium fest; aber in den Reden des Petrus und Paulus wandelt er es nicht um, sondern behält es — in der Rede des Paulus charakteristisch determiniert — bei.

(E) Lucas vermeidet das Wort τὸ εὐαγγέλιον, aber εὐαγγελίζεσθαι hat er nicht weniger als 25mal gebraucht. Dieses Wort war ihm kein technisches im strengsten Sinn. Erstlich ist es bei ihm nicht auf Jesus, die Apostel und Missionare beschränkt, sondern es wird auch von Engeln (Lc 1, 19; 2, 20), ja sogar von Johannes dem Täufer gebraucht (Lc 3, 18). Sodann ist der Inhalt der Freudenbotschaft ein verschiedener. Zehnmal wird dieser Inhalt überhaupt nicht angegeben, also vorausgesetzt, daß der Leser ihn von selbst ergänzen werde (Lc 3, 18; 4, 18; 7, 22; 9, 6; 20, 1; AG 8, 25. 40; 14, 7. 21; 16, 10 [„Wirkstück”]). Dreimal steht nur das allgemeine τὸν λόγον bezw. ταῦτα daneben (Lc 1, 19; AG 8, 4; 15, 35). Je einmal ist ἡ χαρά (Lc 2, 20), bezw. ἡ εἰρήνη (AG 10, 36) der Inhalt der Freudenbotschaft, und einmal (AG 14, 15 folgt ein Finalsatz: εὐαγγελιζόμενοι ὑμᾶς ἀπὸ τούτων τῶν ματαίων ἐπιστρέφειν ἐπὶ θεὸν ζῶντα.

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Dreimal bildet ἡ βασιλεία das Objekt (Lc 4, 43; 8, 1; 16, 16), fünfmal Jesus Christus (AG 5, 42; 8, 35; 11, 20; 13, 32; 17, 18)1, und einmal ist sowohl das Reich als Jesus Christus der Gegenstand der Frohbotschaft (AG 8, 12).

Die letzteren neun Stellen sind die wichtigsten; es ist nämlich zu beachten, daß nur in dem Evangelium und nicht in der Apostelgeschichte das Reich Gottes als das ausschließliche Objekt der Frohbotschaft erscheint und daß umgekehrt nur in der Apostelgeschichte und nicht in dem Evangelium Jesus Christus das Objekt ist2. Die einzige Stelle, an der beides kombiniert ist, steht demgemäß auch in der Apostelgeschichte (8, 12: Φίλιππος εὐαγγελιζόμενος περὶ τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ καὶ τοῦ ὀνόματος Ἰησοῦ Χριστοῦ)3. Wie sorgsam und geschichtstreu ist hier Lucas wiederum verfahren! Er weiß und gibt es genau wieder, daß Jesus das Reich Gottes als frohe Botschaft verkündet hat, die Apostel aber den Herrn Jesus Christus! Warum er aber den Ausdruck „Evangelium” vermieden hat, während er εὐαγγελίζεσθαι so häufig braucht, und warum Johannes beide Worte vermieden hat, diese Frage vermag ich leider nicht befriedigend zu


1) AG 10, 36 kann man zu diesen Stellen nicht rechnen (εὐαγγελιζόμενος εἰρήνην διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ); denn hier erscheint Jesus lediglich als der Vermittler der Botschaft.
2) Die fünf Stellen sind folgende: C. 5, 42 heißt es von den Aposteln in Jerusalem: οὐκ ἐπαύοντο διδάσκοντες καὶ εὐαγγελιζόμενοι τὸν Χριστὸν Ἰησοῦν. C. 8, 35 von Philippus: ἀρξάμενος ἀπὸ τῆς γραφῆς ταύτης εὐηγγελίσατο αὐτῷ τὸν Ἰησοῦν. C. 11, 20 von den cyprischen und cyrenäischen Missionaren: ἐλάλουν καὶ πρὸς τοὺς Ἕλληνας, εὐαγγελιζόμενοι τὸν κύριον Ἰησοῦν. C. 13, 32 von Paulus im pisidischen Antiochia: ἡμεῖς ὑμᾶς εὐαγγελιζόμεθα τὴν πρὸς τοὺς πατέρας ἐπαγγελίαν γενομένην, ὅτι ταύτην ὁ θεὸς ἐκπεπλήρωκεν ... ἀναστήσας Ἰησοῦν, u. c. 17, 18 sagen die Athenienser von Paulus: τὸν Ἰησοῦν καὶ τὴν ἀνάστασιν εὐηγγελίζετο.
3) Vgl. dazu den Schluß des Buchs (28, 31): κηρύσσων τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ καὶ διδάσκων τὰ περὶ τοῦ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.

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beantworten1. Es fällt aber hier ein scharfes Licht auf den „Paulinismus” des Lucas: der Ausdruck, der dem Paulus ganz unentbehrlich war, fehlt bei Lucas, dem „Paulusschüler”! Es ist nicht die einzige Beobachtung dieser Art. Ich habe bereits in meinen Lucas-Studien gezeigt, wie stark die Vorstellungen von Lucas als einem Paulusschüler einzuschränken sind.


1) Als rein zufällig kann man den negativen Tatbestand unmöglich beurteilen. Auch daß Lucas und Johannes hier zusammengehen (wie so oft sonst), kann nicht zufällig sein. Also muß man den Grund in einer Erwägung suchen, die für beide zutrifft. Man kann an ein Doppeltes denken: Beide können das Wort εὐαγγέλιον vermieden haben, weil es bei den LXX fehlt (s.o.), oder sie können es vermieden haben, weil es für die Leser, für die sie zunächst schrieben, anstößig war (sei es, weil ihnen der Sinn „Botenlohn” feststand, sei es, weil das Wort durch den heidnisch-sakralen Gebrauch — s. die Inschrift von Priene — entweiht schien; aber beide scheuen sich doch sonst nicht vor solchen Worten). Da Lucas so konstant εὐαγγελίζεσθαι braucht und ebenso konstant, wenn er Jesum sprechen läßt oder selbst spricht, εὐαγγέλιον vermeidet, so kann die Schwierigkeit nicht im Begriff, sondern lediglich in der substantiven Form gelegen haben. Merkwürdig ist nur, daß Paulus unmittelbar vorher das Wort mit solchem Nachdruck eingeführt und zu einem Hauptwort in der Verkündigung der christlichen Religion gemacht hat! Merkwürdig, daß Johannes auch εὐαγγελίζεσθαι vermeidet. Non liquet!


Harnack, A. (1910)