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II. Die heidenchristlichen Gemeinden.

11. Allgemeines.
Die Voraussetzungen und Faktoren der heidenchristlichen Verfassungsgeschichte
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Auf das heidenchristliche Gebiet übergehend, müssen wir einige allgemeine Bemerkungen vorausschicken. A priori ist zu erwarten, daß die Kompliziertheit der verfassungsbegründenden Elemente, die schon auf judenchristlichem Gebiet von Anfang an groß war, hier noch gesteigert erscheinen wird; denn direkt oder indirekt, stärker oder schwächer wirkte von jenem Gebiet das meiste auf dieses hinüber (die heidenchristliche Propaganda beginnt in den Städten, vorzugsweise in den Provinzialhauptstädten, mit starken Judengemeinden), aber neue Bedingungen traten noch hinzu. Man hat also zunächst für die Verfassungsgeschichte der Heidenkirchen das meiste von dem in Ansatz zu bringen, was in Bezug auf die der Judenkirchen ermittelt worden ist1. Dazu kommen die besonderen Organisationen


1) Von den Zwölf-Aposteln ist in der heidenchristlichen Missionspredigt den zu Bekehrenden stets erzählt worden. Paulus setzt in seinen Briefen die Bekanntschaft mit ihnen, vor allem mit Petrus, bei seinen Adressaten voraus. Justin behandelt die Sendung der Zwölf als ein Hauptstück des christlichen Kerygmas. Die „Didache” gibt sich als die durch die Zwölf-Apostel überlieferte Herrenlehre. Aber aus den Briefen des Paulus ergibt sich ferner noch, daß die heidenchristlichen Gemeinden auch über die Kirche in Jerusalem orientiert waren.

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in dem Reiche: die Art der Familienorganisation, die freien Vereine, die Mysterien- und Kultvereine, die Verfassung der Schulen, die Stadtverfassung, die Provinzialverfassung und die Reichsverfassung. Sie alle müssen von einem bestimmten Punkte an unwillkürlich auf die Kirchenverfassung eingewirkt haben; denn es ist eine unverbrüchliche Regel der Verfassungsgeschichte jeder neu aufstrebenden und sich universal entwickelnden öffentlichen Gemeinschaft, daß sie nicht nur nicht indifferent bleiben kann gegenüber den Gemeinschaften, die sie vorfindet, sondern daß sie auch, latent oder offen, bewußt oder unbewußt, mit ihnen rivalisierend, ihnen ein Element nach dem anderen nachbildet und damit zugleich zu entziehen sucht. Aber auch damit sind die Bedingungen noch nicht erschöpft, unter denen die heidenchristlichen Kirchenverfassung sich gebildet hat. Vielmehr steht bei dem großen Umgang des Materials, das wir hier besitzen, zu erwarten, daß sich auf diesem Boden Spannungen deutlich beobachten lassen werden, die wir auf dem judenchristlichen nicht oder so gut wie nicht beobachtet haben, weil die Quellen zu spärlich sind. Da ist erstlich die Spannung, die in der Geschichte einer jeden größeren Organisation eine ungeheure Rolle spielt, zwischen einer Evolution vom Ganzen zum Teil und einer Summation der Teile zum Ganzen. Das Ganze ist immer schon vorhanden: also müssen die Teile ihm gegenüber unselbständig bleiben. Das Ganze ist andererseits Produkt der Teile: also kann und soll es nicht vielmehr als eine „Idee” sein. Zentralorganisation und Lokalorganisation sind in stetem Streit wider einander, eben weil beide sich fordern, und der Tod der einen auch den Verfall der anderen nach sich ziehen muß. Man kann die ganze Verfassungsgeschichte der Kirche im Rahmen des Widerstreits dieser beiden Mächten zur Darstellung bringen. Da ist zweitens die Spannung von „Geist” und Amt, von Charisma und Rechtsordnung, die Spannung

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der Pneumatiker und der Beamten, der persönlichen Träger und Virtuosen der Religion einerseits und der berufsmäßigen Repräsentanten andererseits. Jene können Spiritualen, Propheten, Asketen, Mönche, auch Lehrer und Theologen sein und heißen, und diese Presbyter, Bischöfe, Superintendenten, Päpste. Die Spannung ist letztlich immer die gleiche, und nicht um einfache Gegensätze handelt es sich, sondern um Elemente, die sowohl auseinander streben, als auch sich verbünden, ja sogar in einander übergehen können. Es ist ferner eine ähnliche Spannung, die sich in dem Gegensatz von Geist und Buchstabe, religiöser Freiheit und Bekenntnis ausspricht. Auch in dem Rahmen des Widerstreits zwischen Geist und Amt kann die ganze Verfassungsgeschichte der Kirche zur Darstellung gebracht werden. Da ist endlich die Spannung von Laien und Klerus, von Demokratie und Aristokratie (Monarchie), die vielfach mit der vorigen verschlungen, doch ihre besondere Eigenart besitzt.

Als Elemente, die von Anfang an als Faktoren der Organisation wirksam gewesen sein müssen, kann man (1) die Autorität der Geistträger als λαλοῦντες τὸν λόγον τοῦ θεοῦ (Apostel, Propheten und Lehrer), (2) die Autorität der „Alten” gegenüber den „Jungen”, (3) die Administrations- und Exekutivgewalt gewählter Beamten unterscheiden. Die ersten gehören dem religiösen Gebiet im eigentlichen Sinne an, die zweiten haben ihr Feld in der sittlichen Erziehung und der Disziplin, die Dritten in der Dienstleistung und Verwaltung und sehr frühe auch im Kultus. Auf Charismen beruhen alle diese Tätigkeiten; aber im eigentlichen Sinn, d.h. als Personen, sind nur die Wortverkündiger Pneumatophoren. Die anderen sind Brüder, die zu ihren Dienstleistungen die nötige Gabe empfangen haben.

Ferner ist bei Untersuchungen über den Ursprung altkirchlicher Verfassungsformen daran zu erinnern, daß es auf

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jüdischem und auf griechischem Gebiet einige wichtige Elemente und Formen gab, die sehr ähnlich waren und sogar im Titel zusammentrafen (Presbyter, Vorsteher, Bischöfe), ferner daß eine neue Gemeinschaft auch spontan Organisationen und Ämter hervorbringt, die mit schon vorhandenen sich decken. Unter solchen Umständen ist es häufig nicht mehr möglich, mit Sicherheit zu sagen, woher die betreffende Einrichtung gekommen ist, ob sie eine Analogiebildung nach jüdischem oder nach griechischem Muster war oder ob ihr Originalität zukommt.

Endlich ist daran zu erinnern, daß bei beschickter Behandlung die Quellen, seien sie auch noch so spärlich, auf jede Rechtsfrage Antwort geben, die man an sie stellt, da man ja auch ihre unbeabsichtigten und irrelevanten Nebenzüge sowie ihr Schweigen benutzen kann und dazu durch formalistische Kombinationen und Ausspinnungen immer neues Material zu gewinnen vermag. Aber eben diese Methode, die Todfeindin der geschichtskritischen, hat bereits das größte Unheil auf den Gebieten des alten Kirchenrechts und der ursprünglichen Kirchenverfassung angerichtet. Beide haben durch das Zuviel-Wissen-Wollen (vgl. z.B. die jüngste große Monographie von Leder über die Diakonen, 1905) und die kanonistische Methode mehr gelitten als durch oberflächliche Behandlung. Auch Rückschlüsse von späteren Zuständen und Ordnungen auf die frühesten sind auf diesem Gebiet nur mit großer Vorsicht gestattet; das Recht zu ihnen ist in jedem einzelnen Fall, auch wenn es sich um dieselben termini technici handelt, immer erst zu erweisen.


Harnack, A. (1910)