13. Die Entwickelung des Ganzen zum Teil.
Der Apostel und die von ihm gestifteten Gemeinden
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Die Entwickelung geht zunächst vom Ganzen zum Teil. Darum spielen der Geist und der Apostel (auch der Prophet und Lehrer) eine so große Rolle; denn der Apostel gehört

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der Gesamtkirche an. Von hier aus gesehen war alles Mission, mußte alles in Fluß bleiben (bis das nahe Ende kommt), mußte alles, was sich lokal gestaltete und stabilierte, eben nur in den Kauf genommen werden, weil es eigentlich schon ein fremdes Element hineinbrachte, das durch die Fiktion der Identität mit dem Universalen doch nicht ganz beseitigt werden konnte. Von hier aus gesehen, wundert man sich, daß wir in ältester Zeit nichts von Versuchen hören, die Bekehrten aus den lokalen Verhältnissen und aus der von ihnen her drohenden Verweltlichung herauszuziehen und irgendwo zu sammeln, am Besten in der Wüste. Achtet man aber darauf, daß sich die Christusjünger ganz zuerst tatsächlich in Jerusalem gesammelt haben, und daß wir wieder seit der Mitte des 2. Jahrhunderts von Unternehmungen dieser Art — nun aber wird die Wüste oder das Land gewählt — hören (vgl. die ursprüngliche Absicht der phrygischen Propheten, ferner die Fälle aus Pontus und Syrien, welche Hippolyt im Danielkommentar erzählt, dann die Einzelfälle der ἀσκηταὶ μονάζοντες bis zum Mönchtum), so kann man vermuten, daß in der Zeit zwischen 35 und 150 nicht mangelnder Argwohn gegenüber dem Lokalen mit seiner unvermeidlichen Weltlichkeit, auch nicht mangelnde asketisch-sittliche Kraft solche Versuche hintertrieben hat, sondern die Überzeugung, daß bei der Nähe des Weltendes sich dergleichen nicht mehr lohnt. Allein konkurriert hat mit dieser Überzeugung die Gewißheit, daß sich in jeder noch so kleinen christlichen Genossenschaft die Kirche Christi selbst darstellen könne; diese Gewißheit gab auch dem „Lokalen” Recht und Bedeutung und wehrte apokalyptisch-tollkühne Unternehmungen ab. Gewiß ist die eschatologische Stimmung hier wie anderswo, ganz wider ihre Absichten eine konservativ wirkende Macht gewesen, und ihr hat es die lokale Organisation mit zu verdanken, daß sie sich überhaupt in der

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Christenheit zu entwickeln vermochte; aber andererseits schätzte man auch die irdische Gemeinschaft „in dem Herrn” als etwas Heiliges, als eine Stätte Gottes, und Paulus hat eine Höhe und Innerlichkeit der Betrachtung gewonnen und in Geltung gesetzt, die das Gegebene, also auch die lokale Zuständlichkeit, als eine Gottesordnung hinnahm. Andere müssen wie er geurteilt haben; jedenfalls hat die älteste Kirche kein Experiment, wie die Wiedertäufer zu Münster, gemacht.

Was Paulus als Apostel (sozusagen als Mandatar der pneumatischen Gesamtgemeinde) der von ihm gestifteten Einzelgemeinden gegenüber in Anspruch nimmt, ist nicht wenig. Er ist der Pädagog und der Vater zugleich; er verflucht jeden, der seinen Kindern ein anderes Evangelium bringt, und er kann verlangen, daß jede seiner Gemeinden die Ordnungen respektiert und aufrecht erhält, wie er sie in allen Gemeinden begründet und pflegt. 1 Ko 4, 17: καθῶς πανταχοῦ ἐν πάσῃ ἐκκλησίᾳ διδάσκω, 7, 17: οὕτως ἐν ταῖς ἐκκλησίαις πάσαις διατάσσομαι, 14, 37: ἐπιγινωσκέτω ἃ γράφω ὑμῖν ὅτι κυρίου ἐστὶν ἐντολή (ist es zufällig, daß Paulus seine apostolische Autorität in der Gemeinde am stärksten geltend macht, die als die demokratischte erscheint?). Andererseits und unbeschadet dessen setzt er voraus, daß der Geist die Gemeinde leitet. In dieser Hinsicht ist 1 Ko 12-14 der deutlichste Beweis seiner Anschauung und der wirklichen Zustände. Die Charismen bestimmen alles.


Harnack, A. (1910)