III. Kritik der Theorie Sohms,
Fortsetzung: Die Kirche und ihre ursprüngliche Organisation
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Nach dieser unvermeidlichen theoretischen Erörterung kehren wir zur Geschichte zurück und prüfen, ob sich die Sohmsche Ansicht mit dem wirklichen Zustande und dem Verlaufe der Dinge verträgt.

Der geschichtliche Befund, wie er sich für Sohm darstellt, kann also zusammengedrängt werden: (1) Jesus Christus und die Urkirche kennen die Kirche d.h. die Christenheit nur als einen religiösen Begriff, als das Volk Gottes, als den Leib Christi, als einen durch Geist und Glauben

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zusammengehaltenen, schlechthin unsichtbaren Körper; alles Korporative und jeder Gedanke an einen Rechtsverband ist ausgeschlossen. Organisiert ist dieser Leib lediglich durch die Charismen, die sich als solche dartun und erweisen müssen und die im Liebesdienst für die Christenheit wirksam werden; der Christ gehört dieser Kirche an, die ihr Bürgerrecht im Himmel hat, ist damit als Christ der Welt entrückt und weiß sich jenseits jeder Staats- und Rechtsordnung. (2) „Christliche Ortsgemeinden” als Kultvereine, überhaupt als Örtlich-Korporatives, hat es für die alten Christen nicht gegeben, vielmehr überall, wo Christen zusammen sind, sei es in einer Stadt, sei es in einem Hause oder sonst, tritt für sie lediglich eben jene himmlische Kirche in die Erscheinung. Hat es aber keine Ortsgemeinde gegeben, so hat es natürlich auch keine lokale Organisation und kein lokales Amt gegeben. Alles, was heute als solches beurteilt wird, ist nichts anderes als Erscheinung der einen Kirche mit ihren Charismen in empirischen Größen. (3) Hier nun aber hat — und zwar von Anfang an und ohne Schwanken — bei der alten Christen ein eigentümlicher Irrtum gewaltet, eine naive Verwechselung, die in der noch unreflektierten, auf dem Gebiet des Begrifflichen unentwickelten Art des ältesten Christentums begründet liegt: man setzte von Anfang an die sichtbare Gemeinschaft der Christen, wie sie in den verschiedenen Ländern, Orten und Häusern hervortrat, mit der unsichtbaren Kirche (mit der Gemeinschaft der Heiligen, der Erwählten, der wahren Gotteskinder) gleich und beurteilte sie als das Volk Gottes, wie sich die Juden so beurteilt hatten. Schon die Übertragung des Namens „Ekklesia” beweist dies, und schon Paulus und die anderen ältesten Schriftsteller bezeichnen und behandeln die empirische Christenheit zu Korinth, Rom usw. als „Christi Leib und Glieder” und nehmen an, daß in der empirischen Versammlung Gott (Christus) anwesend

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ist, und daß das Wort und der Beschluß dieser Versammlung Wort und Beschluß Gottes selbst sei. Ein Gedanke an „Rechtliches” konnte dabei zunächst nicht aufkommen; man nahm ja die Erscheinung der Kirche einfach in das Wesen mit hinein und empfand, beurteilte und wertete Alles in jener eben nach diesem Wesen. (4) Aber doch war hier der Keimpunkt für die Mißentwickelung zum Katholizismus gegeben, die nach etwa fünf Jahrzehnten eintrat. Zwar wußte man sich nach wie vor der Rechts- und Staatsordnung entrückt; aber da man die Erscheinung der Kirche (in der Bewertung) in ihr Wesen aufgenommen hatte, die eucharistische Versammlung als die wichtigste Form der Erscheinung galt, diese eucharistische Versammlung aber ohne Ordnung undenkbar ist, die Ordnung Leitende verlangte und die Stellung der Leitenden befestigt werden mußte —, so kam die Vorstellung auf, die Leitenden seien kraft göttlichen Rechts unabsetzbar. Damit — im 1. Clemensbrief tritt dies zuerst hervor — waren der Katholizismus und das Kirchenrecht zugleich geboren; denn nun bekam ein Teil der von Gott durch das Charisma ausgezeichneten Personen die Qualität von Beamten, die einen Rechtsanspruch auf Gehorsam gegenüber der Versammlung (der Gemeinde) hatten. Damit ist das Kirchenrecht entstanden (welches sich nun folgerecht weiter ausgestaltete), und zwar als göttliches, d.h. katholisches Kirchenrecht; denn kraft göttlicher Anordnung, so lehrte man, sind die Beamten Beamte und als solche der Gemeinde notwendig.

Diese Darstellung des geschichtlichen Tatbestandes ist auf den ersten Blick höchst einfach und geschlossen; aber in Wahrheit ist sie an einem Hauptpunkte unklar, ja mit sich selbst im Streite, und läßt sich außerdem an den Quellen nur mit Gewaltsamkeit durchführen.

Der innere Widerspruch liegt am dritten Punkt. Angenommen, es wäre Alles richtig, was im ersten und zweiten

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Punkt ausgeführt ist, so ist es unbegreiflich, wie Sohm nicht erkannt hat, daß es durch die Ausführungen des dritten Punktes aufs stärkste modifiziert wird. Wenn Paulus, wenn schon die Urkirche vor ihm die Erscheinung der Kirche mit ihrem Wesen gleichgesetzt und demgemäß die Kirche von Jerusalem, Rom usw. als die wahre Kirche Christi angesehen hat, und wenn doch nach Sohm selbst die erscheinende Kirche als irdische Größe notwendig korporativ ist und als solche ohne „Rechte” nicht sein kann — wie kann man da leugnen, daß das Kirchenrecht, und zwar als göttliches Kirchenrecht, immer da war? Darin hat Sohm, wenn man seine Prämissen gelten läßt, Recht, daß es kein Gemeindekirchenrecht, kein „irdisches” Kirchenrecht, keine Lokalbeamten für die alten Christen gegeben haben kann; aber da die erscheinende Kirche eine Organisation als erscheinende stets besessen haben muß — denn, auch nach Sohm: ohne Organisation keine Genossenschaft —, so war sie doch dadurch als reale Lokalorganisation nicht aufgehoben, daß die alten Christen sie sich umdeuteten, indem sie Wesen und Erscheinung identifizierten; sie war vielmehr da und in das Göttliche erhoben. Das, was Sohm also als entschuldbare Voraussetzung der „Mißentwickelung” ansieht1, ist bereits diese Mißentwickelung


1) Wie Sohm die von ihm konstatierte verhängnisvolle Grundtatsache, daß die Urkirche von Anfang an den religiösen Begriff der Kirche auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit anwandte, eigentlich beurteilt, bleibt doch etwas dunkel. Er spricht zweimal von einer „folgenweisen” Anwendung (S. 43 u. 58 seiner Abhandlg.), als müßte es so sein; er sieht den Grund (S. 24) „lediglich” in der noch unreflektierten, auf dem Gebiet des Begrifflichen unentwickelten Art des ältesten Christentums. Soll das wirklich ausreichen, und wenn es ausreicht, warum soll dieses beneficium iuventutis nicht auch noch dem römischen Clemens und der Folgezeit zugute kommen? Unentwickelt waren die Verhältnisse auch damals noch! Aber in Bezug auf die Religion war die Art des ältesten Christentums nicht ➝

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selbst: das göttliche Kirchenrecht war bereits da. Der Schritt, den der 1. Clemensbrief tut (oder der für uns in diesem Brief zuerst hervortritt), ist zwar unleugbar ein weiterer Fortschritt in der Entwickelung, aber qualitativ bringt er nichts wesentlich Neues. Auch er schafft ja nicht ein profanes Kirchenrecht, sondern ein göttliches, da er behauptet, die Unabsetzbarkeit der Beamten sei göttlicher Wille und gehöre zur göttlichen Offenbarung. Prinzipiell unterscheidet sich das doch nicht von der Vorstellung, der Beschluß der jerusalemischen Synode (Act 15) sei göttliche Offenbarung! Wendet aber Sohm ein, dieser Beschluß sei deshalb für Offenbarung gehalten worden, weil die Kirche von Jerusalem als Kirche im religiösen Sinn vorgestellt wurde, die Kirche im religiösen Sinn aber stets aus dem Geiste Gottes spricht — was hindert anzunehmen, daß die Beamten deshalb für unabsetzbar zu halten sind, weil Gott sie durch seine Auswahl als eine dauernden Organe gewollt hat und sie diese seine Auswahl durch ihren Charakter und ihr Betragen bewährt haben? Eben in dieser Weise stellte aber aller Wahrscheinlichkeit nach sich Clemens die


➝ unentwickelt, wohl aber dachte es über „freie, geistige Religion” und über den „religiösen Begriff der Kirche” wesentlich anders als Sohm und der Protestantismus. Hierin liegt es begründet, daß das Urchristentum „folgeweise” den religiösen Begriff der Kirche auch auf die äußerlich sichtbare Kirche anwandte (s. darüber unten). Es dachte aber anders, weil es nicht durch eine generatio aequivoca, sondern aus dem Judentum entstanden ist. Auf S. 23 scheint Sohm selbst diese Erkenntnis zu kommen; denn er schreibt: „War doch das Volk Israel, das Volk Gottes (Kahal, Ekklesia), im alten Bunde eine für jedermann sichtbare Größe! Die Christenheit beurteilte sich als das neue, das wahre Volk Israel. So mußte unwillkürlich auch das neue Gottesvolk nach Art einer äußerlich sichtbaren Volksgemeinschaft gedacht werden.” Wäre Sohm doch diesem Gedanken, den er hier so glücklich trifft, näher nachgegangen! Seine Theorie wäre eine ganz andere geworden! Aber er läßt ihn, nachdem er ihn berührt, einfach fallen und gibt ihm schlechterdings keine Folge.

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Sache vor. Dort wie hier haben wir also göttliches Kirchenrecht! Behauptet aber Sohm weiter, daß sich der Beschluß von Jerusalem und ähnliche Bestimmungen des apostolischen Zeitalters stets an die freie Zustimmung der Christen gerichtet, also im Grunde stets eine Approbation seitens der Brüder nötig gehabt hätten, so gilt dasselbe von den Beamten, deren Bestallung die freie Approbation der Gemeindeversammlung voraussetzt. Übrigens stellt sich Sohm das Charisma im Sinne der alten Kirche viel zu weich und sanft-anarchistisch vor. Der Charismatiker (s.o. Seite 146 Note) ist unter Umständen dazu berufen, die Anderen zu unterwerfen und zu richten. So hat Jesus seine zwölf Jünger zu Richtern eingesetzt; so wird den Heiligen das Gericht gegeben; so kann der Apostel Gehorsam von den Brüdern verlangen, strafen und richten. Die Lebenslänglichkeit endlich der Beamten, die vielleicht früher nicht die Regel war — Sicheres wissen wir darüber nicht —, kann einen spezifischen Unterschied um so weniger begründen, als auch die Apostel, Propheten und Lehrer „lebenslänglich” solche waren1, sofern sie nicht durch ihr Betragen ihre Würde ipso facto verloren. Aber dasselbe gilt auch von den Beamten; denn an einen durch die Einsetzung zum Bischof usw. erlangten „Character indelebilis” dachte noch Niemand. Das göttliche Kirchenrecht ist also


1) Man muß hier auf eine merkwürdige Tatsache aufmerksam machen. Nach Mt 23, 8 hat Jesus seinen Jüngern (und damit überhaupt) verboten, sich „Lehrer” nennen zu lassen. Nach den apostolischen Zeugnissen ist es eine der sichersten Tatsachen, daß die Urkirche von Anfang an „Lehrer” besessen, sie auch so bezeichnet und Gehorsam ihnen gegenüber verlangt hat. Kann man verkennen, daß hier nicht nur eine terminologische Abweichung vorliegt, sondern daß die absolute Gleichheit der Brüder, die Jesus im Verkehre sehen will, durch eine Organisation aufgehoben ist, in der sich das Charisma zu einer art von Rechtsstellung des Charismatikers verdichtet hat?

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so alt wie die Kirche selbst. Daß die Vergesetzlichung und Formalisierung des religiösen Lebens die größten Fortschritte gemacht hat — und zwar sehr bald —, wer wollte das leugnen? Ferner, daß der „Geist”, der zum Wesen der Gesamt-Ekklesia gehört, erst im Fortgang der Dinge „sichergestellt” wurde durch die festen „militärischen” Formen der Einzel-Ekklesia, bestreitet Niemand. Aber da Sohm selbst die verhängnisvolle Inkonzinnität anerkennt, daß die Urzeit keinen Unterschied zwischen der Christenheit (Kirche) im religiösen Sinn und der sichtbaren Christenheit gemacht hat, so hätte er notwendig einen Schritt weiter gehen und anerkennen müssen, daß damit auch schon das „göttliche” Kirchenrecht gesetzt war, mag es sich jene Zeit auch selbst verborgen haben. A priori ist es doch bereits wahrscheinlich, daß sie, wenn sie jene Gleichung vollzog, auch sonst zwischen dem charismatisch-Geistlichen und dem empirisch-Rechtlichen nicht klar zu unterscheiden vermochte. Aber Sohm lehnt diese Konsequenz ab; er zieht vielmehr exklusiv die Folgerung, daß von den Urchristen die Kirche (nämlich die sichtbare) in allen Stücken und in jeder Hinsicht geistlich aufgefaßt und organisiert worden sei, so daß ihnen die freie, geistliche Organisation die allein mögliche Organisation der sichtbaren Christenheit gewesen sei. Aber wie konnten sie es dabei vermeiden — wenn sie es überhaupt vermeiden wollten —, die notwendig sich einstellende, ja von Anfang an irgendwie gegebene Organisation der Einzelgemeinde in das Geistliche einzutauchen, d.h. göttliches Kirchenrecht zu schaffen? Haben sie, wie Sohm annimmt, das Gesetz des religiösen Lebens zum Gesetz des Gemeinlebens machen wollen und, soweit möglich, gemacht, so war die Theokratisierung des irdischen Gemeinlebens damit gesetzt, d.h. es war das göttliche Kirchenrecht gesetzt. Die Entschlossenheit, die Formen des örtlichen kirchlichen Lebens durch die Grundgesetze

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der Gesamtkirche zu bestimmen, also die göttliche Ordnung der Gesamtkirche in der Organisation und dem Leben der empirischen Einzel-Kirche vollständig und ganz durchzusetzen, heißt ja nichts anderes, als empirisch-notwendige Ordnungen ins Geistliche erheben1, bedeutet also die Etablierung des göttlichen Kirchenrechts.

Aber wie steht es mit den ersten beiden Sätzen Sohms (S. 155f.), d.h. mit dem Kern seiner ganzen Anschauung, der die Prämisse zu dem soeben beleuchteten dritten (und vierten) Satze bildet? Die ersten beiden Sätze lassen sich in das eine Wort zusammendrängen: Die älteste Christenheit kannte nur den religiösen Begriff der Kirche. Ich unterschreibe dieses Wort; denn es läßt sich in der Tat an den Quellen sicher erweisen und in seiner Ausführung hat Sohm Bedeutendes geleistet; aber die Differenz wurzelt in der Bestimmung des „Religiösen” im Sinne der ältesten Christenheit (s.o. S. 158, Note). Sohm faßt es einseitig als die Geistesgaben, den Glauben, die erlösenden Kräfte, die Neubildung des inneren Lebens, die Kindschaft, die Freiheit usw., aber er übersieht vollständig, daß es im Sinne der ältesten Christenheit auch Gottesherrschaft, Theokratie ist.

Der abstrakte Charakter der Sohmschen Untersuchung und die unwillkürliche Beeinflussung durch den Kirchenbegriff Luthers tritt hier deutlich hervor. Demgegenüber ist Folgendes festzustellen:


1) S. 57 seiner Abhandlung bestreitet Sohm meinen Satz, daß durch das Kirchenrecht der pneumatische Faktor und die Gesamt-Ekklesia ausgeschaltet werde; allein hier liegt nur ein Mißverständnis vor. Daß man sich der Illusion hingab, der pneumatische Charakter und die Identität der Gemeinde mit der Gesamt-Ekklesia eis durch das Recht vollends sichergestellt, bestreite ich nicht, behaupte aber, daß sie faktisch durch das Recht allmählich ausgeschaltet worden sind.

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(1) Die Kirche ist als Volk Gottes von Anfang an kein rein geistliches Gebilde (in unserem Sinne), sondern sie ist auch das wahre Israel d.h. das rechte Abrahamsvolk. Das ist im Sinne der Urchristen kein bloßer Vergleich, sondern eine reale Tatsache. Somit haben auch für die Kirche wesentliche Züge des Volkes Israel eine fortwirkende reale Bedeutung. Freilich sind einige (wie die leibliche Zugehörigkeit zu Abraham) abgetan (doch gab es bekanntlich in der Urzeit viele Christen, die sie keineswegs für abgetan hielten; sie hielten also als Juden ihre Rechte, d.h. das jüdische Kirchenrecht, fest) und andere sind jetzt latent und kommen erst bei der Wiederkunft Christi und der irdischen Aufrichtung seines Reiches zu Erscheinung; aber andere bestehen auch jetzt fort. Welche fortbestehen, welche ganz aufgehoben sind und welche bis zur Erscheinung Christi latent sind, darüber gab es keine einstimmige Meinung, zumal die Frage, wie sich denn die Zeit, in der man sich jetzt befindet, zu der Vergangenheit und zu der demnächst hereinbrechenden oder schon angebrochenen Endzeit verhalte, verschieden beantwortet wurde. Man halte nur solche Unterschiede, wie sie bei Paulus im Vergleich zu Johannes (Apokalypse) gegeben sind, neben einander! Es ist also ganz unrichtig, dem Urchristentum, weil es nur den religiösen Begriff der Kirche gekannt hat, den des Paulus oder gar den Luthers unterzuschieben. In der Kirche war die Theokratie (im jüdischen Sinn) teils latent vorhanden, teils in die Zukunft geworfen. Die Theokratie umschließt aber stets den Gedanken des Rechts und der Herrschaft Gottes; also war göttliches Kirchenrecht stets vorhanden. Bereits in den „Zwölfen” mit ihrer Autorität steckt ein Stück messianisches Kirchenrecht, welches dadurch seinen Rechtscharakter nicht verliert, daß es auf einem Charisma beruht; denn der Gegensatz, den Sohm durchweg zwischen Charisma und Recht aufrichtet, ist an sich und nach dem Zeugnis

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der Quellen hinfällig. Wenn Petrus das Strafgericht über Ananias und Sapphira vollzieht, so handelt er auf Grund eines Charismas, aber eben dieses Charisma ist doch zugleich eine rechtliche Kompetenz, und wie viele Rechte (Gehorsam) nimmt Paulus als Apostel seinen Gemeinden gegenüber in Anspruch! Und sind es keine Kompetenzen und Rechte, die den Aposteln, Lehrern und Gemeindeleitern zukommen? Hat sich doch Paulus sogar 1 Ko. 9 für das Recht der Lehrer, sich vom Evangelium zu nähren, auf einen ATlichen Gesetzesspruch und auf die ATlichen Priester berufen! Die ursprüngliche Organisation der Gesamtkirche darf man gewiß als charismatische betrachten und kann zugleich von einer religiösen Demokratie (sogar Anarchie) der Urkirche reden (denn der Spielraum der verschiedenen Autoritäten war nicht abgegrenzt); aber in der voranstehenden Skizze der ältesten Verfassung und ihrer frühesten Entwickelung ist gezeigt worden, wie verschiedenartige Autoritäten es daneben noch gab, wieviel Über- und Unterredung, wieviel Rechte also, oder wenn man das lieber will, Rechtsansätze. Denn pünktlich-rechtliche Auseinandersetzungen haben natürlich nicht stattgefunden und konnten bei einem solchen Zustande nicht stattfinden. Man darf endlich nicht übersehen, daß — von Jesus selbst zu schweigen — die Apostel und apostolischen Männer die Einzelnen und die Gesamtheit nicht stets abstrakt nur als „Christen” ins Auge fassen, sondern auch als Männer, Weiber, Kinder, Sklaven, Alte, Junge, Geförderte, Zurückgebliebene, Träge usw. und daß sie in dieser Hinsicht die Schöpfungsordnungen und sittlichen Weisungen, geheiligt und verstärkt, zur Anwendung bringen. Ein natürliches System von Rechten und Pflichten, inklusive der Rechte der Obrigkeit und der Pflicht ihn zu gehorchen, wird in Geltung gelassen, bezw. gesetzt und als göttliche Rechtsordnung, die den Einzelnen verschiedene Rechte verleiht,

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dargestellt trotz aller religiösen Gleichheit und in und mit den Charismen. Der „rein religiöse” Begriff der Kirche schloß also damals weder das göttliche Kirchenrecht als das souveräne Mittel der Theokratie noch die Heiligung irdisch-sittlicher Rechte und Pflichten, die somit zu christlichen Rechten und Pflichten werden, aus. Ein „profanes” Kirchenrecht und eine „profane” Kirchenordnung gab es bewußt anfangs überhaupt nicht; wohl aber gab es neben den göttlichen Ordnungen läßliche und daher verschiedene Organisationsformen.

(2) Aus dem „rein religiösen” Begriff der Kirche, der ursprünglich exklusiv geherrscht hat, folgert Sohm, daß die Urzeit den Begriff der Gemeinde überhaupt nicht zugelassen und gekannt habe, und er verstärkt die These noch durch den Hinweis, daß auch zu der Zeit, in der es längst ein Kirchenrecht gab, die Organisation der Gemeinde noch immer als Organisation der Erscheinung der Gesamtkirche aufgefaßt und behandelt worden ist. Was er hier ausgeführt hat, ist größtenteils zutreffend, aber was er ausgeschlossen hat, ist nicht mit Recht ausgeschlossen. Zutreffend ist, daß die Organisation wirklich vom Ganzen zum Teil geht und daß mit dieser Betrachtung theoretisch und praktisch in bewundernswerter Weise Ernst gemacht worden ist, wie ja auch noch heute die Verfassung der römisch-katholische Kirche Verfassung der einen Kirche ist, die in den Organisation der Länder-, Provinzen-, Städte- und Dorfkirchen zu ihrer Erscheinung kommt. Allein es ist Sohm nicht gelungen zu zeigen, daß man so theoretisch und starr den kirchlichen Einheitsgedanken gedacht und geltend gemacht hat, wie er es tut, und daß nicht neben ihm auch ein Aufstieg vom Teil zum Ganzen stattgefunden hat und anerkennt worden ist. Gewiß ist die Einzelgemeinde als Darstellung und Projektion der Gesamtkirche vorgestellt worden; aber daß sie eine längere Zeit hindurch

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nichts bedeutete und daß es lokale Ämter ursprünglich nicht gegeben hat, ist unrichtig. Der Beweis gegen Sohm ist freilich deshalb schwer zu liefern, weil er hartnäckig einwenden d.h. behaupten kann, daß man das Lokale nur als Erscheinung des Universal-Einen gedacht hat; aber hoffnungslos ist der Beweis doch nicht.

Unzweifelhaft zeigt die Kirchengeschichte etwa seit der Mitte des 2. Jahrhunderts ein Nebeneinander streng geschlossener souveräner Einzelgemeinden, die nun beginnen, einen Teil ihrer Souveränetät zugunsten eines Verbandes, zunächst eines provinzialen, zu opfern. Es setzt damit eine Entwickelung ein, die in der Patriarchats- und Reichsverfassung der Kirche im 4. Jahrhundert ihren relativen Abschluß erhält. Um 150 ist die Selbständigkeit der Einzelgemeinde am größten gewesen, mag sich auch jede Gemeinde als Erscheinung der einen Kirche beurteilt haben1. Nicht bestritten kann auch werden, daß damals die Gemeindebeamten lediglich Beamte dieser Gemeinde waren: einen abstrakten Bischof, Presbyter, Diakon, unabhängig von einer Gemeinde, gab es nicht, sondern nur einen römischen, korinthischen usw. (während es keinen römischen Propheten oder Lehrer gab, sondern nur einen gemein kirchlichen)2. Wann hat dieser Tatbestand begonnen?


1) Diese Selbstbeurteilung und die volle Selbständigkeit schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich.
2) S. Hatch, Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen im Altertum, übers. v. Harnack, 1883. Der Prophet und namentlich der Apostel und Lehrer kann natürlich trotz seiner ökumenisch-kirchlichen Stellung doch besondere Beziehungen zu einer oder mehreren bestimmten Gemeinden haben, die ihm auch besondere Rechte verleihen; aber der Bischof (Presbyter, Diakon) bedeutet streng genommen für jede andere Gemeinde gar nichts, sondern nur für die, der er angehört. Das läßt sich, bis sich die Auffassung vom bischöflichen Amt als apostolischem Amt (per successionem) durchsetzt, überall erkennen.

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Zunächst ist zu beachten, daß von Anfang an und allerseits ganz unbefangen von Ekklesia im Plural gesprochen worden ist1. Es ist dies schwer verständlich, wenn der Gedanke der einen Kirche so stark jede andere Vorstellung unterdrückt hätte. Zweitens, man müßte erwarten — wenn Sohms Ansicht richtig wäre, daß es keine „rechtlich” einheitliche Einzelgemeinde im apostolischen Zeitalter gegeben hätte —, daß man mit allem Eifer versucht hätte, die Christen aus den lokalen Verbindungen herauszuziehen und an einem Orte zu sammeln, oder daß man wenigstens eine Organisation gesucht hätte, um die lokal Getrennten doch zu einem Körper zu vereinigen. Der Versuch wäre am Anfang so gut möglich gewesen, wie es später mit vorübergehendem Erfolg versucht worden ist; allein wir hören kaum etwas davon; vielmehr entstehen überall ganz unbefangen getrennte Lokalgemeinden, ganz so wie Synagogen. Dieser Vergleich ist aber wohl noch mehr als ein Vergleich. Wie es im Judentum nur ein Gottesvolk gibt, aber viele Synagogen mit ganz selbständiger Verwaltung (also als rechtliche Einheit), so auch im ältesten Christentum. Natürlich ist die Synagoge keine „religiöse” Größe, aber sie ist doch eine Tatsache und Größe für sich; sie ist eine „Rechtseinheit”. Ich sehe nicht ein, warum das im Christentum trotz und neben der universalen Betrachtung anders gewesen sein soll, oder warum man das Analoge anders beurteilen soll. Es kommt zunächst auf die Tatsachen an, dann erst auf die Betrachtung. Die Tatsache ist vorhanden: die Vielzahl der durch eine einheitliche Organisation je in sich geschlossenen und selbständigen Christengemeinden. Was die Betrachtung betrifft, so ist nicht abzusehen, warum nicht eine zweifache nebeneinander


1) Zweimal in der Apostelgeschichte, 20 (21) mal bei Paulus, 13 mail in der Apokalypse; besonders schlagend ist 2 Ko 8, 19: χειροτονηθεὶς ὑπὸ τῶν ἐκκλησιῶν.

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bestehen kann: die Betrachtung, daß das eine Volk Gottes in jeder Lokalgemeinde zur Erscheinung kommt, und die andere, daß die Einzelgemeinden erst zusammen das Volk Gottes bilden. Die „Betrachtungen” sind überhaupt nicht so starr und hart gewesen, wie der Geschichtsphilosoph sie produziert. Endlich — was wir von den Ignatiusbriefen an aufs sicherste erkennen, daß nämlich Bischöfe, Diakonen, Presbyter lediglich Beamte der Einzelgemeinde gewesen sind, das für die älteste Zeit in Abrede zu stellen liegt nicht der geringste Grund vor. Wendet Sohm ein, die Wahl durch die Gemeinde entscheide nicht, da auch der Prophet und Lehrer, ja auch der Apostel (AG 13), einer Wahl bezw. Approbation bedurft hätte, so liegt hier und dort der Tatbestand doch anders. Sohm möge erst nachweisen, daß man im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter ebensogut schreiben konnte: „Χειροτονήσατε ἑαυτοῖς ἀποστόλους, προφήτας καὶ διδασκάλους ἀξίους τοῦ κυρίου” wie die Didache: „Χειροτονήσατε ἑαυτοῖς ἐπισκόπους καὶ διακόνους ἀξίους τοῦ κυρίου” geschrieben hat. Wer unbefangen das Neue Testament liest, wird schwerlich auf den Gedanken kommen können, die Urzeit habe „die rechtlich einheitliche Ortsgemeinde” nicht gekannt1. Das Einzige, was ihm


1) Auf die einzelnen Stellen einzugehen, die von den Exegeten und Historikern herbeigezogen werden, um die Einzelgemeinde als selbständige Körperschaft zu erweisen, und die Sohm (S. 31 f. seiner Abhandlg. u. sonst) anders auslegt, muß ich mir versagen. Ich gestehe Sohm zu, daß man mehrere von ihnen auch so verstehen kann, wie er vorschlägt, weil streng rechtliche Bestimmungen und Verpflichtungen sowie ausdrückliche Mitteilungen, hier handle die Einzelgemeinde kraft eignen Rechts, vergeblich gesucht werden, und die ältesten Christen sich über ihre „Betrachtungen” nicht reflektierend geäußert haben. Geist, Recht und Freiwilligkeit wogten ja damals überall noch durcheinander. Aber man darf behaupten, daß die hergebrachte Auslegung die einfachere und natürliche ist. Auch hat es etwas Seltsames anzunehmen, die ➝

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auffallen wird, sind die „Hausgemeinden” innerhalb der Ortsgemeinden. Über ihr Verhältnis zu diesen wissen wir nichts;


➝ Ortsgemeinde habe sich durch eine „Betrachtung” faktisch selbst in die Luft gesprengt. Da übrigens schon eine einzige Stelle genügen müßte, um Sohm zu widerlegen, so sei auf Folgendes hingewiesen. S. 37 seiner Abhandlung sucht Sohm zu zeigen, daß in Mt 18, 15ff. nicht eine Ortsgemeinde gemeint sein könne und von einem Strafrecht an der Stelle überhaupt keine Rede sei. Allein die Steigerung „Du und Er allein”, „Du mit 2 oder 3 Zeugen und Er”, „die Ekklesia und Er” macht es m.E. höchst wahrscheinlich, daß es sich um eine Ortsgemeinde handelt, jedenfalls um eine empirische korporative Größe, zu der man sprechen kann und die Ermahnungen gibt. Die Anweisung aber, den der Ekklesia ungehorsamen Bruder als Heiden und Zöllner zu betrachten, kommt dem Banne gleich; denn die subjektive Wendung der Anweisung (ἔστω σοι) ist aus der Anlage des ganzen Spruchs zu erklären und hat doch nur dann einen Sinn, wenn die anderen Brüder dem Ungehorsamen auch die Gemeinschaft kündigen. Also über die Ekklesia als Ortsgemeinde bezw. als Korporation Strafgewalt; also ist Kirchenrecht da. — Ferner wenn es 1 Ti 4, 14 heißt, daß Timotheus sein Charisma als Leitender mittels Handauflegung des Presbyteriums erhalten habe, und ich daraus geschlossen habe, daß die Ortsgemeinde durch ihr Presbyter-Kollegium die Weihe vollzogen hat (s. 2 Ko 8, 19: χειροτονηθεὶς ὑπὸ τῶν ἐκκλησιῶν), so erwidert Sohm (S. 45) „diese Meinung sei natürlich abzulehnen”; „die Handauflegung kann nie die Handlung einer Körperschaft, sondern nur die Handlung eines Geisterfüllten sein; der Ausdruck: Auflegung der Hände des Presbyteriums zeigt, daß von keinem Handeln einer Körperschaft, eines Kollegiums, sondern lediglich von einer geistlichen Handlung der einzelnen Presbyter die Rede ist.” Meines Wissens hat noch Niemand diese Auslegung gewagt! Wie soll der Plural „die Hände” das beweisen? und wie kann man so billig um die Tatsache herumkommen, daß im Text nicht von Presbytern, sondern von einem Presbyterium die Rede ist, also von etwas Korporativem? Zeigt uns nicht auch die Briefsammlung des Ignatius die Presbyter (im Unterschied von den Diakonen) als ein Kollegium, und zwar als ein örtliches Kollegium, und weist ein solches örtliches Kollegium nicht mit Sicherheit darauf, daß die örtliche Geschlossenheit der Ekklesia, der es diente, unbefangen anerkannt wurde?

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aber daß sie die Tatsache und den Begriff der Ortsgemeinde aufgelöst haben, ist, wie die paulinischen Briefe zeigen, unmöglich. Sie bestanden neben und in ihnen. Daß sie sehr bald aufhörten, ist deshalb wahrscheinlich, weil wir später fast nichts mehr von ihnen hören. Man wird aus der frühen Bildung und dem schnellen Untergang (der Endpunkt liegt bereits in den Ignatiusbriefen vor) schließen dürfen, daß der Begriff der Ortsgemeinde ursprünglich „rechtlich” nicht so exklusiv gewesen ist, als wenige Jahrzehnte später; aber daß sich die Kirche von Anfang an in einer doppelten Weise aufgebaut hat — sowohl vom Ganzen zum Teil [ideal-reale Ausgestaltung], als auch vom Teil zum Ganzen, das auf Erden erst zu gewinnen ist [realer Aufbau] — ist eine Tatsache, die kein Machtspruch zu ändern vermag. Ich habe auch schon vor Jahren am 3. Johannesbriefe gezeigt, daß wir noch eine Urkunde besitzen, die den Konflikt zwischen der doppelten Richtung des Aufbaues uns noch deutlich vor Augen führt1. Auch läßt sich fragen, ob nicht in den Wirren zu Korinth, von denen die Paulusbriefe zeugen, neben der Spaltung (gemäß der Vorliebe für Paulus, Petrus und Apollo) bei einer bedeutenden Gruppe der Gemeindeglieder auch die Tendenz wirksam gewesen ist, die Selbständigkeit der Lokalgemeinde dem Apostel Paulus als dem Repräsentanten der Gesamtkirche gegenüber geltend zu machen2.


1) (Johannes) der Presbyter (Evangelist? Apostel?) nimmt die Obergewalt über die Ortsgemeinde-Bischöfe in Anspruch; aber einer dieser Bischöfe erkennt diese Gewalt nicht an und weist die Emissäre des „Presbyters” einfach aus.
2) Die relativ selbständige Gruppierung der Lokalgemeinden — das sei beiläufig bemerkt — schuf auch die Bedingungen, um Bildungen und Zustände hier und dort hervorzurufen, die mit Eigentümlichkeiten der heidnischen Kultvereine Verwandtschaft zeigen. Es ist aber schwer zu entscheiden, inwieweit hier direkte Beeinflussung stattgefunden hat. Mir scheint, daß sich das Meiste als ➝

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Ein bedeutendes Gewicht legt Sohm schließlich darauf, daß die Amtsträger, welche die herrschende Meinung für Ortsgemeinde-Beamten hält, an einigen Stellen (Rö 12, 6ff., Epheserbrief, Hermas) mit den Aposteln, Propheten und Lehrern in einer Reihe aufgeführt werden; er schließt daraus, daß sie genau ebenso charismatische Personen seien wie diese, und daß also auch von hier aus seine These bekräftigt werde: „Die Ortsgemeinde wäre keine Erscheinung der Kirche Christi, wenn sie in ihrer Verfassung etwas hätte, was nicht einfach die Verfassung der allgemeinen Kirche wäre” (s.o. S. 130ff.). Hierauf ist Folgendes zu erwidern: (1) Die Presbyter (bezw. das Presbyterkollegium) entsprechen sicher keinem Element der Organisation der allgemeinen Kirche. Zwar hat sie Ignatius mit den Zwölfaposteln parallelisiert und Sohm, ihm folgend, behauptet (S. 141), der Presbyterat sei überall aus der Nachbildung des ersten Abendmahls (die Zwölft mit Jesus zu Tisch sitzend) entstanden; allein der Beweis dafür kann nicht geliefert werden. Ignatius steht mit seiner Symbolik allein; die Ableitung ist künstlich und hat das, was wir über die ursprüngliche Bedeutung der Presbyter wissen, ebenso gegen sich, wie sie eigenwillig die gleichartige Einrichtung der Synagoge übersieht. Auch wäre es schwerlich zum Namen „Presbyter” gekommen, wenn sie die zwölf Jünger repräsentieren sollten. (2) Die Zuordnung der Bischöfe (auch Hirten, Diakonen) zu der Gruppe der Apostel, Propheten und Lehrer entscheidet nicht über ihre völlige Gleichartigkeit


➝ spontane Bildung aus der pneumatischen Demokratie der Christenheit erklärt; doch wird schwerlich zu leugnen sein, daß einige Unarten in Korinth auf die Einschleppung heidnischen Wesens und Unwesens zurückzuführen sind; vgl. besonders die sorgfältige Untersuchungen von Heinrici, der aber den hier vorliegenden Erscheinungen (ebenso wie zahlreichen Franzosen) m.E. ein zu großes Gewicht beilegt.

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mit diesen; sie ist bereits befriedigend erklärt durch die Erwägung, daß alle zusammen die „Geehrten” (οἱ τετιμημένοι) in der Gemeinde sind. Daß sie von der Ortsgemeinde bestellt wurden, jene aber nicht, wurde schon oben bemerkt. Die Frage aber, ob auch sie als charismatische Personen beurteilt wurden oder nicht, mag hier auf sich beruhen bleiben; denn Charisma und Charisma sind nicht dasselbe1. In dem enthusiastischen Zeitalter2 wurde jede christliche Betätigung als auf einem Charisma ruhend beurteilt, also auch die Diakonia des Bischofs und des Diakonen, aber es war ein ganz anderes Charisma als das der berufenen Prediger des Worts (οἱ τὸν λόγον λαλοῦντες); dieses hat seinen Spielraum an der Gesamt-Ekklesia und schafft pneumatische Personen, jenes dient einem bestimmten Kreise und nimmt nicht das Personleben des Trägers in Beschlag; auch sind „Wahl” und „Anerkennung” dort und hier etwas wesentlich Anderes.

Weiter noch auf die These Sohms, das Urchristentum habe keine Ortsgemeinden als Korporationen gekannt,


1) Mit gutem Grunde hat Paulus 1 Kor 12, 28 geschrieben: οὓς μὲν ἔθετο ὁ θεὸς ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ πρῶτον ἀποστόλους, δεύτερον προφήτας, τρίτον διδασκάλους, ἔπειτα δυνάμεις, ἔπειτα χαρίσματα ἰαμάτων, ἀντιλήμψεις, κυβερνήσεις, γένη γλωσσῶν, d.h. er hat dem οὓς μέν kein οὓς δἐ entsprechen lassen und hat an dieser Stelle wohlweislich nicht von Bischöfen und Diakonen gesprochen; denn ihre Diakonia beruht zwar auf einem Charisma, aber sie sind nicht Pneumatophoren wie die Apostel, Propheten und Lehrer.
2) Sohm (S. 46f. seiner Abhandlung u. oben S. 138) polemisiert gegen diesen Ausdruck und findet zu seiner Befriedigung, daß er auch bei mir jetzt in den Hintergrund getreten sei. Letzteres kann ich nicht zugeben: ich denke heute über den Enthusiasmus des Urchristentums genau so wie früher. Sohm verwirft den Ausdruck, indem er ihn mit abnormer Erregung und überspannter Begeisterung gleichsetzt. Eben deshalb glaube ich ihn beibehalten zu müssen; er schließt aber für mich auch den Glauben an den „Geist” im Sinne von Rö 8 ein.

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einzugehen, muß ich mir versagen. Man gerät zudem leicht in neue Irrtümer, wenn man sich in einer halbwahren Fragestellung, sei es auch um sie zu widerlegen, bewegt. Ich darf zur Ergänzung meiner polemischen Ausführungen auf die voranstehende Skizze der Verfassungsgeschichte verweisen.


Harnack, A. (1910)