I. Die Theorie Sohms.

Sohm beginnt mit dem Satze, den er als Concessum hinstellt, daß das Urchristentum nicht „katholisch” war, daß aber der Katholizismus folgerichtig aus dem Urchristentum hervorgegangen sei. Aus diesem Satze ergebe sich, daß etwas im Urchristentum gewesen sein müsse, was die katholische Entwicklung in sich schloß; aber die protestantisch-theologische Forschung habe bisher keine ausreichende Antwort auf die Frage gegeben, wo im Urchristentum der Keim gelegen habe, aus dem der Katholizismus hervorgehen mußte; also sei das geschichtliche Hauptproblem, welches die älteste Entwickelung der Kirche biete, noch ungelöst.

Sohm kritisiert nun kurz die von mur und Anderen gegebene Antwort — ob er sie vollständig wiedergegeben hat, sie hier dahingestellt — und findet sie unzureichend; denn die Hellenisierung des Christentums (bezw. der schnell um sich greifende Intellektualismus und Moralismus) sei zwar ein Bestandteil des Katholizismus, aber nicht der

|123|

Katholizismus selbst; dies beweise schon die Tatsache, daß auch im Protestantismus Intellektualismus, Moralismus und alttestamentliche Gesetzlichkeit in starken Strömungen wirksam gewesen seien, ohne daß derselbe „katholisch” geworden wäre; denn niemals sei es in ihm zu einer vollkommenen Verschüttung des Grundsatzes der religiösen Freiheit des Einzelnen von der Kirchengewalt, niemals also zu einem unfehlbaren, göttlichen Kirchenrecht gekommen. Wenn aber als das spezifisch katholische Element die Vergöttlichung der Tradition bezeichnet werde, so sei damit das Richtige getroffen, vorausgesetzt, daß Tradition (Glaubenslehre) und Kirchenrecht dabei identifiziert werden; denn das Charakteristische des Katholizismus bestehe in der Identität des formal zwingenden Kirchenrechts mit der überlieferten Glaubenslehre. Diese Identität werde aber von der kirchenhistorischen Forschung in ihrer zentralen Bedeutung nicht erkannt, und sie vermöge auch keine Antwort auf die Frage zu geben, weshalb es zu einer Vergöttlichung des Kirchenrechts kommen mußte, in das dann alle Prinzipien des kirchlichen Seins und Lebens hineingezogen wurden. Es gilt zu dem ganzen Wesen des Katholizismus vorzudringen, welches tiefer liegt, nämlich hinter der göttlichen Tradition und hinter dem göttlichen Kirchenrecht. „Damit wird zugleich der Zusammenhang des Katholizismus nicht bloß mit dem Heidenchristentum, sondern mit der gemeinchristlichen Gedankenwelt der Urzeit klar werden und die Notwendigkeit, die den Katholizismus zur Entstehung brachte, von selber ans Licht gefördert sein.” Sohm bestimmt nu (1) das Wesen des Katholizismus (S. 9-22) und sodann (2) seinen Ursprung (S. 22-58). Dieser zweite Teil zerfällt in drei Abschnitte: „Kirche und Gemeinde” (S. 22-43), „die charismatische Organisation” (S. 43-48), und „das Kirchenrecht” (S. 48-58). Indem ich Sohms Ausführungen zusammendränge, werde ich

|124|

mich doch bemühen, ihn möglichst selbst sprechen zu lassen.

(1) Das Wesen des Katholizismus: Von der Aufklärung haben die heutigen protestantischen Kirchenrechtslehrer und Theologen den Begriff der Kirche im Rechtssinn — als Erzeugnis und zugleich als Gegensatz der Kirche im Lehrsinn — übernommen, und er erscheint ihnen als ein naturrechtlicher, ewiger, für alle Zeiten selbstverständlicher Begriff; eben deshalb ist es ihnen gewiß, daß auch schon das Urchristentum sich in der Form einer Religionsgesellschaft (eines Kultvereins) organisiert hat. Der Ertrag der Unterscheidung ist, daß das Rechtliche (das Kirchenrecht) grundsätzlich scharf vom Religiösen gesondert wird. Das Kirchenrecht betrifft nur den rechtlichen Verband, nicht das Evangelium (also auch nicht die Kirche Christi); es ist deshalb der freien menschlichen Entwickelung anheimgegeben und kann sich sehr verschieden gestalten. Aber da sein muß es in irgend welcher Gestalt als Hilfe und Stütze für das auf Erden stets nur unvollkommen sich verwirklichende Gottesreich. Das Kirchenrecht kann und soll sich demnach mit dem Evangelium verbinden, aber immer nur so, daß es ihm dient, indem es zugleich von ihm getrennt gehalten wird. Da auch dies als naturrechtlich und selbstverständlich gilt, so muß nach dieser (herrschenden) Auffassung auch schon die Urkirche zwischen der Kirche als religiöser Größe und als rechtlichem Verband unterschieden haben.

Allein in Wahrheit trifft man vor Luther in der Geschichte diese Unterscheidung nicht; denn auch Augustin und die Vorreformatoren, denen der Begriff der unsichtbaren Kirche geläufig war, wollten keineswegs auf die sichtbare Kirche für ihr religiöses Leben verzichten. Erst Luther hat die unsichtbare Kirche des Glaubens scharf von der vor ihm stehenden römischen Kirche unterschieden. Was

|125|

rechtlich verfaßt ist — das ist seine neue Erkenntnis und Überzeugung —, ist für den Verstand und darum für Jedermann (die Welt) sichtbar und kann deshalb (als solches) kein Gegenstand des Glaubens, kann (als solches) niemals die hl. christliche Kirche sein, von der das christliche Glaubensbekenntnis redet. Die Tatsache, daß es auf Erden ein heiliges, von Christus erlöstes Volk gibt, dessen einzelne Glieder ein Leben mit Gott führen, kann nur geglaubt, niemals aber gesehen werden. Diese Unsichtbarkeit entrückt die Kirche aber auch notwendig dem Gebiet der Rechtsordnung. Die rechtlich verfaßte Kirche kann als solche niemals die Kirche Christi sein, niemals in ihrem Namen sprechen oder handeln, niemals ihre Ordnungen als Ordnungen der Kirche Christi zur Geltung bringen. In dieser Überzeugung zerbrach Luther die Macht des Kirchenrechts über die Kirche Christi. Durch die feste Unterscheidung der unsichtbaren Kirche von der rechtlich verfaßten befreite Luther sowohl sein eigenes Leben, als auch die Christenheit, den Staat, die Wissenschaft, die Welt von der geistlichen Zwangsgewalt d.h. von dem römisch-katholischen Kirchenrecht. Er verließ „die sichere Arche”, um allein an Christi Hand auf den wilden Wegen einherzugehen, während bis auf ihn der Gegensatz zwischen der Kirche Christi und der rechtlich verfaßten Kirche für das Leben der Christen nicht vorhanden war. Die Durchsetzung dieser Unterscheidung bedeutete das protestantische Prinzip; damit ist von selbst gesagt: der Mangel der Unterscheidung bedeutet das katholische Prinzip1.


1) Es ist hier auf eine empfindliche Lücke in den Ausführungen Sohms hinzuweisen: die herrschende Lehre, die er im vorhergehenden Abschnitt kurz charakterisiert hat, läßt er deutlich genug als durchaus irrig erscheinen, ja behandelt sie mit herber Ironie (S. 11: „Schon die urchristlichen Gemeinden standen [nach der herrschenden Meinung] auf dem Boden der Aufklärung!”); aber ➝

|126|

Das Wesen des Katholizismus besteht darin, daß er zwischen der Kirche im religiösen Sinn (der Kirche Christi) und der Kirche im Rechtssinn nicht unterscheidet; jene selbst ist ihm eine rechtlich verfaßte Organisation: das Leben der Christenheit mit Gott ist daher durch das katholische Kirchenrecht zu regeln. Hieraus folgt nun alles Andere: (a) Die ununterbrochen Rechtsordnung garantiert die Legitimität und Einzigkeit der Kirche. Wenn es ein Concessum ist, daß es nur eine Kirche Christi geben kann, so kann nur die die legitime sein, welche die ununterbrochene Rechtsordnung besitzt. Da nur die römisch-katholische sie hat, so ist sie es; sie kann natürlich keine „Schwesterkirchen” haben, vielmehr sind diese, weil sie sich dem Rechtsverbande entzogen haben, eben dadurch von Christus abgefallen und können daher auch nicht die Seligkeit übermitteln, da das Leben mit Gott durch Christus an die Rechtskirche gebunden ist. (b) Ist die Kirche Christi in der katholischen Rechtskirche sichtbar und Christus das Oberhaupt der Kirche, so ist die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche verwerflich, das Regiment der Rechtskirche ist Christi (Gottes) Regiment und es


➝ wie sich Luthers Auffassung von ihr unterscheidet, bleibt dunkel, weil Sohm es unterläßt anzugeben, was denn nun Luther von der rechtlich verfaßten Kirche gedacht hat? Wußte er von einer rechtlich verfaßten Kirche nur, wenn er die römische Kirche sah? Wie beurteilte er denn die evangelischen Landeskirchen, die sich unter seinen Augen, ja unter seiner Leitung bildeten? Ich weiß wohl, daß Sohm darüber seine eigenen Anschauungen hat; aber eine Andeutung darüber durfte hier nicht fehlen, wenn er überhaupt auf die heutigen Vorstellungen und auf die Luthers einging. Da seine Ausführungen bei Luther unvollständig sind, so wird der Leser entweder fragen, warum der Spott über die Aufklärung — auch sie unterscheidet ja die Kirche des Glaubens scharf von der verfaßten Kirche —? oder er wird nicht begreifen, warum eine Unterscheidung bei Luther so hoch gelobt wird, sie nach Sohm der heutigen Auffassung augenscheinlich nicht zur Gerechtigkeit zu rechnen ist.

|127|

fallen somit Kirchenregiment und Führung und Erhaltung des geistlichen Lebens zusammen. Hieraus ergibt sich folgerecht, daß keine staatliche Ordnung Macht über das Kirchenregiment haben kann; denn der Staat kann dem religiösen Leben keine Gesetze geben. Da ferner das geistliche Leben höher ist als das weltliche, ist auch die kirchliche Gewalt aller irdischen d.h. der Staatsgewalt übergeordnet. (c) Die Gewalt, durch welche Christus seine Kirche regiert, ist das Wort Gottes als rechtlich geordnete Seelsorge-, bezw. Schlüsselgewalt. Diese Gewalt aber ist letztlich die Gewalt Christi — Seelsorge ist Vertretung Christi; also kann sie, weil sie stets analog geordnet sein muß, auch nur Einem zukommen, dem Papste; auch die Sichtbarkeit der Kirche postuliert diesen. Dem Papst allein sind die Schlüssel des Himmelreichs gegeben. Hierauf beruht seine ganze Gewalt, die also Gewalt über das gesamte Leben der ganzen Christenheit mit Gott ist. (d) Dieselbe fordert naturgemäß Zwang; denn sonst wäre sie nicht Regierungsgewalt und die Kirche kein Rechtskörper. In einem Rechtskörper hat aber auch der erzwungene Gehorsam einen Wert, und umgekehrt leidet auch das geistliche Leben nicht durch den Zwang, sondern wird durch ihn gefördert, weil der Gehorsam an sich Gott wohlgefällig ist. Also ist der Zwang, den die Kirche übt, sittliche Pflicht im Interesse der Gezwungenen; aber es handelt sich dabei um geistliche (hierarchische) Zwangsgewalt („das geistliche Schwert”), die, von der weltlichen ganz verschieden, auch von ihr ganz unabhängig ist. (e) Der Ursprung der geistlichen Gewalt kann nach dem Ausgeführten nicht zweifelhaft sein; mit dem Evangelium und der Kirche Christi zusammen ist sie entstanden, deren Existenz ohne sie unmöglich wäre; sie ist also im strengen Sinn ius divinum und dieses ius divinum, welches zum Inhalt des Evangeliums gehört, umfaßt also auch alle grundlegenden Verfassungssätze. Die veränderlichen Rechtssätze

|128|

in der Kirche sind von ihnen als „ius humanum” zu unterscheiden; aber wo diese beginnen und wie sie zu gestalten sind, darüber entscheidet auch allein der Besitzer des ius divinum; denn auch sie entspringen keiner irdischen Quelle, sondern der christlichen Religion und dienen dem Glauben, wenn sie auch nicht unmittelbar einen Gegenstand des Glaubens darstellen. So ist denn das ganze ius canonicum geistlicher Natur und geistliches Recht (teils im engeren, teils im weiteren Sinn); denn es ist Gesetzgebung über den Inhalt der Religion. (f) Mit dieser Betrachtung und diesen Forderungen kommt die katholische Kirche dem Verlangen des natürlichen Menschen entgegen; denn dieser will die Religion veräußerlichen, will die sichtbare Kirche Christi, will, daß sich ihr übernatürlicher Ursprung durch überwältigende Größe und Formen dokumentiere, will eine Machtstelle, die, indem sie über das religiöse Leben gebietet, alle Fragen und Zweifel des Menschenherzens autoritativ beantwortet und dabei die Gewalt hat, sich durchzusetzen. Gerade die Verschmelzung des Religiösen mit dem Rechtlichen, welche Kirchendienst zu Gottesdienst erhebt, entspricht dem Verlangen nach Sichtbarkeit des Unsichtbaren und ist die Macht, welche dem Organismus der katholischen Kirchen Kraft über die Gemüter gibt. (g) Aber gerade diese Macht ist andererseits auch die Schwäche dieser Kirche. Ihr Anspruch, als Trägerin der religiösen Wahrheit unfehlbar zu sein, nötigt sie, ihren Geist mit dem Geiste Gottes zu identifizieren und ihre Entwickelung in Lehre und Verfassung der Entfaltung der Offenbarung gleichzusetzen. Sie schafft ihren Gläubigen formale religiöse Gewißheit, aber sie bindet alles religiöse Leben in dem Grade, daß sie das geistliche Eigenleben vernichtet: ein vollbürtiger Christ ist nur einer, der Papst, weil nur er ein unmittelbares Verhältnis zu Gott und seinem Wort hat; die übrigen sind Christen zweiter Klasse; damit ist das Wesen der Christenheit zerstört!

|129|

Aber weiter — der Glaube erscheint hier als das Fürwahrhalten der von der katholischen Kirche übermittelten Lehre, die ein aus der Vergangenheit stammendes Geschichtsbild und Weltbild darbietet. Somit bindet der Katholizismus nicht nur den religiösen Glauben, sondern auch die Wissenschaft und muß einen fortgesetzten Kampf gegen sie führen. Aber wie es ein Ding der Unmöglichkeit ist, den Glauben der Christenheit durch formal zuständige Befehlsgewalt zwingen zu wollen, so ist es ebenso unmöglich, der urständigen Kraft der Wissenschaft Halt zu gebieten; „sie bewegt sich doch!” Als „Modernismus” besiegt, wird die Wissenschaft immer wiederkehren und die Grundvesten der Kirche erschüttern — die Grundvesten; denn Glaube und Wissenschaft richten sich gegen das Wesen des Katholizismus selbst, nämlich gegen den Anspruch, daß sie in dieser ihrer rechtlichen Verfassung, mit dieser ihrer festgestellten lehre die Offenbarung göttlicher Kräfte, die allem Irdischen überlegenen Kirche Christi sei.

(2) Der Ursprung des Katholizismus: Sobald das Wesen des Katholizismus erkannt ist, ergibt sein Ursprung sich von selbst. Das Urchristentum mußte sich zum Katholizismus entwickeln, wenn es die äußerlich erscheinende (empirische) Christenheit von der Christenheit im religiösen Sinn (dem Volk Gottes) nicht zu unterscheiden vermochte — und diese Unterscheidung war ihm versagt. Nicht reflektiert, sondern instinktiv und naiv setzte es von Anfang an die sichtbare Gemeinschaft der Christen mit der Gemeinschaft der Heiligen (der Erwählten, der wahren Gotteskinder) gleich und beurteilte sie als „das Volk Gottes”, wie sich die Juden so beurteilt hatten (das wirkte „unwillkürlich”). Schon der Name „Ekklesia” (auch für die sichtbare Christenheit) beweist dies, und schon Paulus und die anderen christlichen Schriftsteller des 1. Jahrhunderts bezeichnen und behandeln die empirische Christenheit zu

|130|

Korinth, Rom usw. als „Christi Leib und Glieder”, und als Gottes Volk und nehmen an, daß in der empirischen Versammlung Gott (Christus) anwesend ist, und daß das Wort und der Beschluß dieser Versammlung Wort und Beschluß Gottes selbst sei. Eine Unterschied also zwischen der äußerlich sichtbaren Christenheit und einem nur für das Auge des Glaubens vorhandenen Volke Gottes, der Ekklesia, wird nicht gemacht. „Das ist nicht hellenisch oder jüdisch: es ist lediglich in der noch unreflektierten, auf dem Gebiet des Begrifflichen unentwickelten Art des ältesten Christentums begründet. Diese Tatsache aber bedeutet den Punkt im Urchristentum, aus welchem mit Notwendigkeit die Entwickelung zum Katholizismus sich ergeben mußte” (S. 24). An der Kirchenverfassung der Urzeit ist das zu erweisen:

(a) Kirche und Gemeinde: Man muß den im Protestantismus heute geläufigen Begriff von „Kirche” (zwar der richtige Begriff der wahren, geistlichen Christenheit, aber mit immanenter Beziehung zu einer als Hilfe und Stütze notwendigen Rechtsordnung) beiseite lassen, wenn man das Urchristentum verstehen will; denn das Kirchenrecht, welches man so fordert, steht mit dem Ween der Kirche Christi, der es dienen will, in Widerspruch. Auch die Urzeit hat lediglich und ausschließlich den Begriff der Kirche = Christenheit, als einer religiösen Größe gekannt, also nicht den einer rechtlich verfaßten Kirche. Alle die ältesten Bezeichnungen für die Christenheit sind gleichbedeutend und bezeichnen sie als Volksversammlung (Volk) Gottes (Christi). Dieses Volk bildet zwar eine Einheit, einen Körper, nämlich den Leib Christi, aber der Körper Christi ist keine Körperschaft, geschweige denn eine christliche Körperschaft; denn nur etwas Geistiges (der Gottesdienst, der Glaube) macht sie zu einem Körper. Also ist die Einheit selbst ein Gegenstand des Glaubens;

|131|

die Kirche kann nicht zugleich geistliche und rechtliche (körperschaftliche) Einheit sein. Aber freilich die Urzeit macht keinen Unterschied zwischen der Christenheit im religiösen Sinn und der sichtbaren Christenheit, hat aber dennoch nur den religiösen Begriff der Kirche, und wendet ihn auch auf die körperlich sichtbare Kirche an. Dieser Tatbestand ist bisher verkannt worden, und deshalb hat man die Entstehung des Katholizismus nicht zu erkennen vermocht; denn hier liegt der Urquell der Entwickelung. Sofort ergeben sich zwei Folgen: erstens, die Urkirche kennt keine Gemeinden (in unsrem Sinne), zweitens wie Gemeindebildung, so ist überhaupt Rechtsbildung für die Urkirche ausgeschlossen.

Der Begriff der Gemeinde ist ein Rechtsbegriff (die örtliche, rechtlich in sich geschlossene und zugleich einem höheren, weiteren Verband eingeordnete und untergeordnete Organisation). Im Verhältnis zu Gott gibt es keine Gemeinden; denn z.B. an welchem Ort man zur Kirche geht, ist unerheblich. Religiös gibt es immer nur Kirche, keine Gemeinde, und zwar nur die eine Kirche Christi, die in den unzähligen Kirchen, in all den Versammlungen der Christenheit, erscheint. Dies nun war der Urzeit auch für die sichtbare Christenheit maßgebend, die ausschließlich als religiöse Größe beurteilt wurde. Sie hat daher den Begriff der Gemeinde (in unserem Sinn) nicht einmal denken können. Die Ortsgemeinde ist alles, was sie ist, lediglich als Erscheinungsform der allgemeinen Christenheit (Ekklesia). Sie ist zu ihrem Teile (ἐκ μέρους) die Christenheit, der Leib Christi, nichts anderes; denn es gibt nur eine Kirche. Religiös sind alle Versammlungen gleichbedeutend, weil Erscheinungen derselben Größe. Wenn die Christenheit zu Rom an die zu Korinth schreibt, so schreibt nicht eine Gemeinde an eine andere, sondern es spricht zu Rom das Volk Gottes. Was die Christenheit

|132|

spricht, ist natürlich Wort Gottes; denn im religiösen Sinn hat sie nichts anderes; aber rechtlich bindend ist das nicht, was sie sagt. Das Volk Gottes zu Korinth nimmt in freiem consensus das Wort auf, d.h. es muß als Wort Gottes bestätigt, angenommen werden. Dort und hier ist es dieselbe Kirche, weil die Kirche im religiösen Sinn; diese kann immer nur durch ihr eigenes Urteil überwunden oder beglaubigt werden.

Aber auch daran ist nicht zu denken, daß nur die vollversammelte Ortsgemeinde Erscheinung der Kirche ist; auch jede Hausgemeinschaft ist es ebensogut, und in mancher örtlichen Christenheit fanden sich oft mehrere. Also ist jede gemeindemäßige und jede rechtliche Organisation angeschlossen (es gibt keine rechtliche einheitliche Ortsgemeinde). Alle ältesten Zeugnisse bezeugen dies und widerlegen die herrschende Lehre, welche die Ekklesien von Jerusalem, Korinth usw. als „lokale Organisationen”, als körperschaftliche Bildungen mit örtlich-rechtlicher Verfassung auffaßt, wobei das Vorbild, sei es der Synagogen, sei es der heidnischen Kultvereine gewirkt haben soll. Hier sei, so meint man weiter, das Bischofsamt als örtliches Gemeindeamt aufgekommen und habe sich allmählich zum Kirchenamt entwickelt, parallel der Entwickelung der Gemeindeverfassung durch Konföderation zur Kirchenverfassung. Nach der Entdeckung der „Apostellehre” hat Harnack zwar diese Auffassung wesentlich korrigiert durch seine Unterscheidung einer doppelten Organisation, einer pneumatischen, allgemeinen, einheitlichen, kirchlichen und einer rechtlichen, ortsgemeindlichen (dort Charisma, hier Wahl und Amt; allmähliches Aussterben der Charismen [der Apostel, Propheten und Lehrer], Übergang der Lehrfunktion auf die gewählten Bischöfe); aber diese zweite Organisation verdankt ihr Dasein lediglich einer falschen Interpretation der Quellen, in denen Charisma und Wahl nirgendwo Gegensätze

|133|

sind, vielmehr sich fordern, und in denen die „korporative Ortsgemeinde” nirgendwo handelt, weil sie gar nicht vorhanden ist, sondern stets der Geist in seinen Trägern. Auch wo von Gesandten der Ekklesien (wie 2 Kor. 8, 18ff.) die Rede ist, liegt es nicht nahe an die Gesamtortsgemeinden zu denken; denn Ekklesia konnte für jede Christenversammlung gebraucht werden, und das Wort „Christenheit” (Ekklesia) bezeichnet zunächst die Christen, nicht eine christliche Körperschaft. Dasselbe gilt on den Fällen, wo es sich um finanzielle Leistungen handelt; auch da wird ein körperschaftlicher, den Einzelne rechtlich verbindender Beschluß in die Quellen lediglich hineingetragen. Nun ist zwar Harnack in seiner neuesten Untersuchung der quellenmäßigen Auffassung des Tatbestandes noch näher gekommen; da er aber wesentliche Stücke seiner früheren Auffassung nicht preisgeben will, verwickelt er sich in innere Widersprüche. Er erkennt an, daß in der Ortsgemeinde die Ekklesia Gottes zur Erscheinung kommt, daß es ideell keinen Unterschied zwischen Gesamtgemeinde und Einzelgemeinde gibt, daß, sofern die Verfassungsentwickelung bei der örtlichen Ekklesia einsetzt, der religiöse und einheitliche Begriff der Kirche durchweg für die Verfassungsgeschichte maßgebend ist, und daß daher auch die örtliche Ekklesia als geistliche Größe der rechtlichen Verfassung unfähig ist1. Damit fällt die These vom „Kultverein” endlich dahin, und Harnack hat nunmehr eingesehen, daß erst im Clemensbrief


1) Letzteres habe ich niemals behauptet. Ganz unverständlich ist es mir, wie Sohm — meine Auffassung der Verfassungsentwickelung in Jerusalem beanstandend, die ich ausdrücklich aus dem Vorbilde der Synagoge ableite (was Sohm selbst zu bemerken nicht unterlassen hat) — seine Ausführungen mit den Worten beschließen kann (S. 34 n. 31): „Wie von Ritschl, so wird auch von Harnack alles Katholische aus dem hellenistischen Christentum abgeleitet!”

|134|

das Kirchenrecht sich durchsetzt1. Aber im Widerspruch mit sich selbst behauptet er doch noch, daß die christliche Ekklesia von vornherein als Trägerin von Rechtsordnung auftrete; denn es ist doch offenbar ein Widerspruch, wenn sich die Christenheit nach Harnack gleichzeitig als Schöpfung Gottes und in Nachfolge des Volkes Israel als Volk mit einer festen und exklusiven Organisation, bezw. auch nach dem Vorbild der Synagogen als lokal organisiert empfunden und gewußt haben soll. Wie kann denn erst durch den 1. Clemensbrief das Kirchenrecht aufgekommen sein, wenn die Christenheit angeblich schon vom Judentum her gewaltige, rechtsbildende Kräfte empfangen hat, wenn die Gewalt der Zwölfe bereits zu einer förmlichen richterlichen Funktion geworden war, wenn die jerusalemische Urgemeinde schon eine fest rechtliche Organisation besessen hat und wenn es mit den Heidenkirchen ähnlich stand? Die Belege für diese Behauptungen beruhen sämtlich auf falschen Interpretationen der Quellenstellen, die davon nichts ahnen lassen, und die bei Ekklesia niemals an eine Ortsgemeinde denken. Der leitende Gedanke bei Harnack ist der einer Spannung zwischen Zentral- und Lokalorganisation, „die fundamentale Antinomie und Spannung, welche die Entwickelungsgeschichte der Verfassung beherrscht”. Auf jene Seite verlegt er die Apostel, die apostolischen Männer, die Geistträger und Geistesgaben, auf diese die Bischöfe, die die Einzelgemeinde im Sinne der nun dem himmlischen Kyrios unterworfenen Kirche Gottes vertreten. Ein teils bewußter, teil unbewußter Kampf zwischen beiden Auffassungen habe mit dem Siege der lokalen Organisation geendet: die Lokalgemeinde gelangt zur vollen Souveränetät, und der monarchische Bischof ist nach Harnack der Exponent der in sich geschlossenen


1) Auch das muß ich bestreiten, s.u.

|135|

und souveränen Einzelgemeinde, von der aus nun erst wieder der Aufstieg zu allgemeineren Organisationen beginnt. Aber wie kann Harnack in dieser Gedankenreihe die Lokalgemeinde für die Urzeit doch wieder als selbständige Größe fassen, während er anerkannt hat, daß sie lediglich Erscheinung der Gesamtversammlung (des Volkes Gottes) ist? Seine Meinung wird dadurch verständlich, aber auch widerlegt, daß er die Gesamtgemeinde mit der Missionsgemeinde gleich setzt. In einer Missionsgemeinde ist ein nach Selbständigkeit strebendes „örtliches Gemeinderegiment” als Gegensatz zu dem Regiment der Missionsgemeinde durch ihren Missionar allerdings denkbar; aber der Irrtum der Gleichsetzung von Missionsgemeinde mit der Gesamtgemeinde ist offenbar; denn alles, was zur Begründung der Missionsgemeinde durch Menschen geschieht, ist, gemessen an dem Begriff des Volkes Gottes, zufällig und völlig gleichgültig. Die Missionsgemeinde ist nichts Pneumatisches; pneumatisch ist nur das Volk Gottes (Ekklesia) ohne Unterscheidung der Missionsgebiete. Diese pneumatische Größe aber steht in keinerlei Gegensatz und Spannung zu der einzelnen Ekklesia: gerade sie (die „universale” Größe) ist das Werk Gottes (nicht eines Apostels), und nur weil diese Gesamtekklesia in der Einzelchristenheit erscheint, kann die letztere sich selbst als Ekklesia, als Kirche Gottes beurteilen. Die „doppelte Organisation” beruht also auf der Verwechslung der Missionsgemeinde und Ekklesia, auf der irrigen Beurteilung der „Missionsgemeinde” als einer pneumatischen, religiösen, selbständig (zentral, monarchisch) organisierten, „universalen” Größe. Auch die geistliche Gewalt der Apostel und Evangelisten wurzelt ja in der Tatsache, daß durch die „Zentralorganisation” der allgemeinen Christenheit gerade die „Lokalorganisation” jeder örtlichen Christenheit maßgebend und ausschließlich bestimmt ist. Antinomie, Spannung, doppelte

|136|

Organisation ist nicht da und kann überhaupt nicht da sein. Es gibt in Ansehung der Organisation in den Quellen die Gesamtekklesia und nur sie. Durch ihre Organisation allein ist die Organisation jeder örtlichen Ekklesia gegeben. Darum werden auch die Bischöfe und Diakonen unter die Organe der ökumenischen Christenheit eingereiht; denn ihr dienen sie (nicht einer supponierten Ortsgemeinde, die es nicht gibt). Die Ortsgemeinde wäre keine Erscheinung der Kirche Christi, wenn sie in ihrer Verfassung etwas hätte, was nicht einfach die Verfassung der allgemeinen Kirche wäre. So lehren die Quellen von Paulus bis zu Hermas, und diese Auffassung wirkt deutlich selbst noch ins dritte Jahrhundert hinein. So lehrt auch Harnack und fügt dann noch Fremdes hinzu, wodurch er seine eigene Auffassung sprengt.

Die letzte Quelle der Selbstwidersprüche Harnacks liegt in seinem Verhältnis zum Wahrheitsgehalt der urchristlichen Grundidee: er setzt die Christenheit lediglich als eine soziale, gesellschaftbildende Größe, und ihre Organisation als eine politische1. Daher für ihn das „Paradoxe”, „Merkwürdige”, eigentlich Unverständliche: die Einzelgemeinde ist ja sozial in Wahrheit nicht identisch mit der Gesamtgemeinde! Die urchristliche Grundidee erscheint bei Harnack als ein Widerspruch in sich selbst2. Aber sobald


1) Nichts liegt mir ferner, und ich ahne nicht, wodurch ich Anlaß zu dieser Unterstellung gegeben habe, die ebenso ungerecht wie inquisitorisch erscheint, mag sie auch so nicht gemeint sein. Ich glaube ebensoviel wie Sohm dafür getan zu haben, um das Wesen der Urgemeinden als religiöses ans Licht zu stellen und gegen Verkennungen zu schützen.
2) Nicht die urchristliche Grundidee erscheint mir als „ein Widerspruch in sich selbst”, sondern der Widerspruch tritt erst ein, wenn sie sich zu realisieren beginnt, und es ist derselbe Widerspruch, der sich überall einstellt, wo eine Idee verwirktlicht werden soll. „Sie tritt immer als ein fremder Gast in die Erscheinung” (Goethe), ➝

|137|

man jede politische Beurteilung fernhält und die urchristlichen Verhältnisse lediglich so beurteilt, wie sie selbst beurteil sein wollen, gibt es hier keine Paradoxie und nichts Merkwürdiges. Es gibt nur die Christenheit, die überall dort ist — einerlei ob ökumenische Versammlung, örtliche Versammlung oder Hausgemeinde —, wo Christi Geist ist. Und die Überzeugung davon bedarf der Untersuchung über ihre Entstehung nicht; denn sie ist so alt als der Spruch Jesu: „Wo Zwei oder Drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen”. Dies Wort führt die Alleinherrschaft in der Urzeit und geht durch die ganze Kirchengeschichte. Weil das Urchristentum nur den religiösen Begriff der Kirche hat und folgeweise diesen Begriff auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit anwendet, kennt es nur die Kirche, nicht die Gemeinde; eine doppelte Organisation ist unmöglich.

(b) Die charismatische Organisation: Die Organisation des Volkes Gottes (Leibes Christi) kann nur von Gott selbst stammen, muß selbst also rein geistlich sein, d.h. auf Charismen beruhen, die allein durch das Motiv der Liebe (lösen sie dasselbe aus?) wirksam werden und Anerkennung bezw. freie Unterordnung zur Folge haben. Die Quellen lehren, daß dies die Anschauung von den „Ämtern” in der Urzeit gewesen ist; es ist aber auch die Grundlage der heutigen katholischen Kirchenverfassung. Nicht nur die Gewalt der Lehrbegabten ruht einzig auf den Charismen, sondern ebenso die der Bischöfe und Diakonen (d.h. der Führer und Hirten der Einzel-Ekklesia). Da das Charisma, wenn es wirken soll, die Anerkennung


➝ und wenn sie sich verwirklicht, geht es nie ohne einen Widerspruch ab. Nach der Theorie Sohms ist es nicht anders, oder ist es kein Widerspruch, daß nach ihm eine empirische Größe behandelt wird, als sei sie eine ideale und infolgedessen irdische Erscheinungen einen absoluten Wert erhalten?

|138|

seitens der Christenheit besitzen muß, so ist die „Wahl” nötig; aber Wahl ist nichts anderes als Bezeugung des Charismas d.h. Klarstellung und Bezeugung der von Gott bewirkten Wahl. Es ist ja „der Geist”, der in der Ekklesia spricht, bezeichnet und handelt; Alles geschieht also durch Inspiration; denn Ekklesia und Wort Gottes sind Korrelate. Rechtlich ist niemand gebunden; denn Alles hat hier religiösen, nicht rechtlichen Wert. Immer handeln nur Inspirierte, und wenn z.B. 1 Tim. 4, 14 von Handauflegung des Presbyteriums die Rede ist, so darf nicht an das Handeln einer Körperschaft, eines Kollegiums, gedacht werden, sondern nur an eine geistliche Handlung der einzelnen Presbyter.

Diese geistliche Organisation der Kirche kann sich nur in den Einzel-Ekklesien zeigen; denn nur in ihnen tritt ja die Gesamtchristenheit in die Erscheinung; also gilt sie auch, wie bemerkt, von den Bischöfen und Diakonen, wie ja auch noch Cyprian von der Bischofswahl als dei iudicium spricht. „Enthusiastisch” darf man aber den Glauben an Geistesbesitz und unmittelbare Gottesoffenbarung nicht nennen; denn von abnormer Erregung findet sich keine Spur. Es handelt sich ausschließlich um die Ordnung einer sichtbaren Menschengemeinschaft nach Maßgabe einer religiösen Idee; darin stimmen mithin Urchristentum und Katholizismus zusammen. Diese charismatische Organisation ist, weil ohne rechtliche Ordnung und äußere organisatorische Kraft, freilich unfähig, irgend welche Widerstände zu überwinden, und doch ist sie allein diejenige, welche dem Wesen der Sache entspricht und von Gott gesetzt ist (das religiöse Leben der Christenheit gehorcht nur dem Charisma, niemals irgend welcher rechtlichen Gewalt) und — aus diesem „pneumatischen Anarchismus” ist der mächtigste Rechtskörper in der Geschichte hervorgewachsen, die römische Kirche! Die Lösung dieses scheinbaren Rätsels

|139|

liegt darin, daß schon das Urchristentum die äußerlich sichtbare Christenheit mit der Kirche im religiösen Sinn gleichgesetzt und die Organisation dieser auch von jener ausgesagt hat. Dann mußte sich entwickeln, was sich entwickelt hat, nämlich der Katholizismus.

(c) Das Kirchenrecht: Das Gemeinleben einer sichtbaren Menschengemeinschaft kann ohne irgend welche Form nicht sein. Es bedarf einer gemeingültigen Ordnung, die, in der Vergangenheit entstanden, doch die Gegenwart beherrscht und die bei Irrungen innerhalb der Gemeinschaft als Norm in Geltung tritt, grundsätzlich ohne Rücksicht auf die innere Zustimmung des Betroffenen, d.h. das Gemeinleben kann nicht ohne Rechtsordnung sein; umgekehrt hängt das religiöse Leben allein am Geist und an der Wahrheit. Dennoch wollte das Urchristentum dies Gesetz des religiösen Lebens zugleich zum Gesetz des Gemeinlebens machen, und hat es gemacht. Dadurch kam das Recht in die Kirche. Harnack ist anderer Meinung. Er betrachtet das Christentum als eine naturgemäß der Rechtsordnung zustrebende Größe und findet die stärksten Wurzeln der urkirchlichen „Rechtsbildung” in dem Verhältnis zum römischen Staate. Das Gegensatzverhältnis zu ihm hat die Kirche genötigt, eine selbständige Verfassung und ein eigenes Kirchenrecht auszubilden; andernfalls wäre es nach Harnack zu einer eigenen Rechtsbildung nur in sehr bescheidenem Umfange gekommen. Allein dies wäre nur zutreffend, wenn sich die Urchristenheit in irgend welchem Sinne als weltliche Gemeinschaft empfunden hätte. Da sie aber niemals sich selbst (d.h. das Volk Gottes) als in der gleichen Welt mit der Staatsordnung liegend vorstellen konnte, so hat sie sich stets jenseits der Staats- und Rechtsordnung gewußt und außerhalb jeden Bürgerrechts, ja dieses Bewußtsein ist stets das bestimmende für sie gewesen, auch nachdem die Formen der Reichsverfassung schon längst auf

|140|

sie eingewirkt hatten. Auch das kann nicht zugestanden werden, daß das gesamte bürgerliche Leben mit seiner Eigentumsordnung usw. vom Standpunkt des Urchristentums eine selbständige Ordnung verlangt habe, da man die staatlichen Rechtsordnungen nicht schlechtweg anzuerkennen vermochte. Damit wäre der Gedanke des kanonischen Weltrechts schon für das Urchristentum wirksam gewesen; allein, wie Tröltsch gegen Harnack gezeigt hat, ist die Kirche im ganzen Altertum noch ausschließlich religiös interessiert gewesen. Sie denkt nicht an Aufgaben, die von Rechtsordnungen zu lösen sind; sie denkt nicht an Sozialreform und an Erfüllung der Kultur der Welt mit christlichem Geist1. Selbst das Interesse, welches gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Anfänge kirchlicher Rechtsordnung erzeugt hat, ist lediglich das religiöse Interesse gewesen, das Interesse am Leben der Ekklesia. Als Rechtsordnung für die Versammlungen der Christenheit ist die Rechtsordnung für die Ekklesia entstanden.

Bei den Versammlungen hat man einzusetzen. Ursprünglich gab es zwei; die eine war Versammlung um das Wort; hier herrschte „pneumatische Anarchie”. Die andere war die eucharistische; diese war ohne eine bestimmte äußere Ordnung gar nicht möglich. Sie brauchte einen Vorsitzer an Christi Statt, und die mit ihm zu Tische saßen, saßen an der Jünger Statt (Nachfolger, Statthalter der Apostel). Diese Ordnung folgte aus der Natur der Feier. Als nicht mehr Alle am Tische sitzen konnten, mußte das Sitzen zur


1) Sohms Polemik hier gegen mich faßt meine Sätze wesentlich anders, als ich sie gemeint habe; auch besteht kein bedeutender Unterschied an diesem Punkte zwischen Troeltsch und mir (s. meine Besprechung der Abhandlung von Troeltsch in den Preuß. Jahrbb. Bd. 131 Heft 3). Daß das Urchristentum die Kultur der Welt mit christlichem Geiste habe erfüllen wollen, dies zu behaupten ist mir nie eingefallen.

|141|

Auszeichnung werden; die Anderen mußten stehen (Keimstelle für den Unterschied von Klerus und Laien). Die Ehrenpersonen, die also die Zwölfjünger repräsentieren, waren und hießen Presbyter; zugleich wurde das Sitzen zu einem Dienst an der Ekklesia (sie nahmen an der Leitung der eucharistischen Versammlung teil). Gleichzeitig machte sich aber die Funktion des Bringens der Gaben an die Stehenden nötig (Diakonen). Alle diese bei der hl. Handlung Tätigen — das Volk blieb untätig — mußten Charismatiker und daher auch „Erwählte” sein. Als nun die Wort- und Eucharistie-Versammlungen zusammengezogen wurden, mußte die Bedeutung der „Kleriker” sich steigern. Die eucharistische Ordnung wurde die Ordnung der Ekklesia überhaupt. Dadurch wird nun auch der Wortdienst „klerisch”, d.h. geht auf den Bischof und in zweiter Linie auf die Presbyter über. Da die Verwaltung der Opfergaben (Kirchengut) stets mit zur Leitung der eucharistischen Versammlung gehörte, so häuften sich die Funktionen in den Händen der Erwählten. Aber Rechtsordnung war das noch nicht, weil der Geist noch alles bestimmte und der heute zum Ehrensitze Erwählte morgen einer anderen Weisung weichen konnte und mußte. Es war nur eine Gruppe mit wechselnden Zugehörigen vorhanden. Die Steigerung der Bedeutung des Abendmahls (sakramentale Idee, Mitteilung des ewigen Lebens) ließ die Gewalt über die Eucharistie als Gewalt über das religiöse Leben der Ekklesia erscheinen. Wie nun aber, wenn Streit über das Bischofsamt entsteht? Hier tritt die Wendung ein: die römische Ekklesia schrieb, als der Fall in Korinth gegeben war, dorthin, das durch „Bestallung” gegebene Bischofs- und Diakonenamt sei ein lebenslängliches, d.h. die Bestallung gibt ein dauerndes Recht auf die Funktion, ein Recht kraft formalen Erwerbsgrundes, kraft einer vergangenen Tatsache und auf Grund einer in der

|142|

Vergangenheit wurzelnden gemeingiltigen Ordnung. Hier tritt das Kirchenrecht auf: die Ordnung der Ekklesia wird durch die Anforderungen des Gemeinlebens bestimmt. Die Losung lautet nun: auch in der Ekklesia Gottes muß feste Ordnung sein. Dabei wird das AT angerufen, um auch für das neue Volk göttliche Rechtsordnung aufzurichten; denn wenn Rechtsordnung, dann kann auch sie nur göttlich sein. Gott bindet (nach dem Clemensbrief) die Berufung durch den Geist an die einmal geschehene Wahl; Gott bindet die Geisteswirkungen bei der Eucharistie an die korrekte Form. Also der pneumatische Faktor wird nicht ausgeschaltet, sondern geschützt, durch Rechtsbestimmung gestärkt und mit Rechtswirkung ausgerüstet. Es bleibt Alles auf Gott und den Geist begründet wie zuvor, aber das Geistliche wird vergesetzlicht und formalisiert. Auch die „Lokalgemeinde” erhält nun nicht etwa Selbständigkeit, indem sie angeblich auf ihren Kultusbeamten ruht, sondern umgekehrt, daß sie Erscheinung der Gesamt-Ekklesia ist, das soll durch die Rechtsstellung der Beamten bekräftigt werden. Das der Ekklesia in ihrer Totalität geltende Gesetz Gottes ist religiös verbindlich für jede Einzel-Ekklesia. Der Katholizismus ist geboren, indem für jede Einzel-Ekklesia der „Geist” sichergestellt wird durch die festen „militärischen” Formen, die sie annehmen muß. Das ist ja der Grundzug der folgenden Entwickelung, daß die Grundgesetze der Gesamtkirche die äußeren Formen des örtlichen kirchlichen Lebens durchweg bestimmen. Hängt doch die Legitimität jeder einzelnen örtlichen Christenheit davon ab! Das korrekte Kirchentum ist die Voraussetzung des Christentums der Einzel-Ekklesia.

Im Katholizismus ist das Wesen der Christenheit im religiösen Sinn und damit des Christentums vergesetzlicht und formalisiert: für das religiöse Leben gilt „göttliche”

|143|

kirchliche Rechtsordnung; denn die Kirche des Kirchenrechts ist die Kirche im religiösen Sinn. Dies tritt zuerst im Clemensbrief hervor, der somit die Entstehung des Katholizismus bekundet und zwar durch die Entstehung des Kirchenrechts als einer Ordnung für die Kirche des christlichen Glaubens.

Weil das Urchristentum nur den religiösen Begriff der Kirche hatte und folgeweise diesen Begriff auch auf die äußerlich sichtbare Christenheit anwandte, ist mit der Entstehung von Rechtsordnungen für die Christenheit (Kirche im religiösen Sinn) naturnotwendig aus dem Urchristentum der Katholizismus hervorgegangen.


Harnack, A. (1910)