Schluß.

In der Verfassungsgeschichte der Kirche in den ersten beiden Jahrhunderten sind (außer dem Kaiser) alle Elementen zu finden, die in der Folgezeit eine Rolle gespielt und sich ausgestaltet haben, ja sie sind bereits sämtlich wirksam gewesen. Auch hier gilt also in Bezug auf die Kämpfe, die über die bewegenden Prinzipien der urchristlichen Verfassung geführt worden sind, nicht das aut-aut, sondern das et-et, so jedoch, daß das grundlegende und stets fortwirkende Prinzip, das religiöse und eingeborene, der Gedanke des

|117|

verwirklichten Volkes Gottes gewesen ist. Dieser Gedanke selbst hatte eine doppelte Seite und verlief daher in einer aufs engste verbundenen dualen Entwickelung, nämlich in einer pneumatischen und theokratischen. In jener war das Charisma das Kraft- und Formgebende, in dieser der Gedanke der Gottesherrschaft (Gott Alles in Allem). In dem letzteren war ein formgebender Zusammenhang aufrechterhalten mit der Organisation des Judentums als Ganzen und als eines Systems von Synagogen. Dieser Zusammenhang war ursprünglich allerdings fast durchschnitten, jedenfalls stark verdeckt durch das Pneumatische, trat aber bald immer deutlicher wieder hervor — nicht durch den Einfluß des Judenchristentums, noch weniger durch den direkten des Judentums, sondern durch den Fortgebrauch des Alten Testaments und durch die wachsenden irdisch-kirchlichen und kultischen Bedürfnisse, die den früheren jüdischen analoge waren.

Auf heidenchristlichem Boden haben die heidnischen Kultvereine, die politisch-sakrale Reichsorganisation, die städtische und provinziale Organisation, endlich partikular auch vielleicht die Organisation der Philosophenschulen eigentlich immer nur so viel Einfluß gehabt, als sie ihn unwillkürlich ausübten, ohne daß die Gemeinden in ihrer fortschreitenden Entwickelung das ahnten. Automatisch haben sich die Kirchen (bezw. einzelne Kreise in ihnen) nach ihnen gerichtet oder sich vielmehr mit zwingender Notwendigkeit in die Furchen ergossen, die das Land durchzogen, das Polytheistische dabei aufs Trockene werfend. Man darf also cum grano salis gewiß sagen, daß jene oben genannten Organisationen mit an der Kirchenverfassung beteiligt sind; aber doch ist es irreführend zu behaupten, die christlichen Gemeinden hätten sich als „Kultvereine”, als „Bürgerschaft” oder gar als „Philosophenschulen” organisiert; denn man darf nicht vergessen, daß die formalen Hauptelemente, die sie mit den Kultvereinen, Philosophenschulen

|118|

usw. gemeinsam hatten, aus ihrem eigenen inneren Prinzipe stammten. Das Wichtigste bleibt immer einzusehen, daß die christliche Religion in dem Gedanken des verwirklichten Volkes Gottes auf Erden ein eigentümliches Organisationsprinzip besaß und daß sie andererseits im 2. Jahrhundert alle Elemente, die zu ihrem Ausbau nötig schienen, bereits so stark an sich gezogen hatte, daß nichts mehr fehlte1, ja es lediglich darauf ankam, aus dieser Fülle von Materialien einen einheitlichen Bau zu zimmern. Was aber die Idee des „Rechts” anlangt, so war auch diese der Kirche (und zwar als „göttliches Recht”) in der theokratischen, sei es noch so spirituellen, Vorstellung eingeboren


1) Auch der faktische Primat Roms ist bereits unverkennbar (s. mein Lehrbuch der Dogmengeschichte I4 S. 480ff.). Wenn noch heute die orthodox orientalische Kirche dem „Patriarchen” von Rom einen Ehrenvorrang unter seinen Kollegen zubilligt (unter der Voraussetzung, daß er das Schisma beseitigt) und diesen Ehrenvorrang sowohl mit der Bedeutung der Stadt Rom als auch mit der Apostolizität der Gemeinde (Petrus und Paulus) begründet, so hält sie sich damit, wie so oft, getreu in den Spuren des Altertums. Auf beiden Momenten beruhte schon im 2. Jahrhundert ein gewisser Vorrang und ein faktisches Übergewicht der römischen Gemeinde, die aber in keinem Sinn verfassungsmäßige (organisatorische) waren (Die kirchliche Bedeutung von Alexandrien und Antiochien liegt ausschließlich in ihrer städtischen Bedeutung; das apostolische Moment begründet sie dort nicht, sonst hätten Ephesus, Korinth usw. ihnen gleichgestellt werden müssen). Der römische Bischof schiebt sich dann an die Stelle der Gemeinde, genau so wie überall die Substitution der Bischöfe für die Gemeinde erfolgt ist. Bei Victor I. im letzten Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts beobachten wir zuerst diese Tatsache deutlich. Ob er schon Mt 16 auf sich als Nachfolger Petri angewendet hat, wissen wir nicht; aber seine Nachfolger von Calixt ab (um 220) haben es getan, wie die spätesten Schriften Tertullians beweisen; verlangt aber hat schon Victor, daß ein Gebrauch der römischen Kirche, der mit der Glaubenshinterlage nichts zu tun hatte, oder doch nur künstlich mit ihr in Verbindung gebracht werden konnte, für die ganze Kirche maßgebend sein solle.

|119|

sowie in der anderen, daß sie, die Kirche, Rechtsnachfolgerin, bezw. Endausgestaltung, des alten Volkes Gottes sei. Rechtsordnungen ergaben sich sodann (immer noch als göttliche) aus der Entfaltung der Charismen, die zu Organisationen führten; denn „Charisma” und „Recht” schließen sich nicht in jeder Hinsicht aus, sondern das Charisma schafft sich auch Rechte. Endlich sah sich die Kirche, indem sie sich auf Erden einzubürgern begann und die natürlichen Gemeinschaftsverhältnisse ordnen mußte, außer Stande, die öffentlichen Ordnungen einfach zu übernehmen, bezw. sich ihnen anzuschließen. Sie verschärft demgemäß die sittlich-sozialen Ordnungen, die sie vorfand, und beginnt, wenn auch verhältnismäßig spät, mit der Aufstellung eigener Ordnungen. Diese sind prinzipiell sittliche, aber indem sie für die Gemeinden z.T. unter Zwang gestellt werden (Eheordnungen usw.), entsteht ein Kirchenrecht gemischter Art d.h. eine Mischung von Sittlichem und Rechtlichem und eine unklare Mischung von göttlichem und weltlichem Recht. Eben deshalb verharrte die Kirche bei dem Bewußtsein, jenseits der weltlichen Rechts- und Staatsordnung zu stehen. —

Alle Elemente der späteren Entwickelung der Kirchenverfassung waren am Ende des 2. Jahrhunderts, ja schon früher, bereits vorhanden. Neue Faktoren sind später nicht mehr aufgetreten außer dem christlichen Kaiser; eine Revolution, um das zu erreichen, was im 3., im 4. und 5., im 9. und 11., im 16. und 19. Jahrhundert gewonnen werden sollte, war auch nie nötig. Immer konnte man auf bereits Vorhandenes zurückgreifen; man brauchte es nur in den Vordergrund zu schieben, zu „entwickeln” und rechtlich zu fixieren. Aber sehr verschiedene „Entwickelungen” waren möglich. Diejenige, welche sich durchgesetzt hat, konnte in keiner Periode ohne Entrechtung, daher auch niemals ohne Fiktionen, um diese Entrechtungen zu verschleiern, durchgesetzt werden. Komplizierter ist nichts geworden — kompliziert waren die

|120|

Verhältnisse am Anfang —, vielmehr ist in Wahrheit eine immer größere Vereinfachung eingetreten; das Äußerliche freilich erscheint in größerer Vielgestaltung; aber in keinem Jahrhundert sind die wesentlichen Grundzüge der abendländisch-katholischen Kirchenverfassung einfacher gewesen als in dem unsrigen! Einen Bruch hat die Reformation, und nur sie, vollzogen. Sie hat hier, in Bezug auf die Organisation, die Verfassung und das Kirchenrecht, tiefer in die Geschichte und ihre Hervorbringungen eingegriffen als an irgend einem anderen Punkte. Sie hat nicht nur die mittelalterliche Kirchenverfassung bei sich zerstört, sondern sie besitzt auch keinen Zusammenhang mehr mit der Kirchenverfassung des 2. und des 1. Jahrhunderts. Sie hat sich als lutherische Reformation auf den einzigen Grundsatz zurückgezogen, den sie allerdings aus den ältesten Urkunden zu begründen vermag und mit dem sie das Wichtigste trifft, daß das Wort Gottes verkündet werden müsse und daß ein Amt für diese Verkündigung nicht fehlen dürfe. Von dieser Tat Luthers aus, der negativen und der positiven, ist die heute wieder viel verhandelte Frage, wann der Beginn der Neuzeit anzusetzen sei, sicher zu beantworten. Welche nachreformatorische Bewegung hat es denn auch nur annähernd zu einem solchen Erfolge gebracht wie die Reformation? Auf Taten kommt es in der Geschichte an oder vielmehr auf Gedanken, die zu Taten werden und neue Formen schaffen. Einstweilen leben die Völker Westeuropas noch immer als Katholiken oder als Protestanten. Tertium adhuc non datur! Daß sie entweder dieses oder jenes sind, ist zurzeit noch immer wichtiger als das Maß philosophisch-naturwissenchaftlicher Aufklärung oder als die Zahl technischer Hilfsmittel, die sie besitzen. Diesen Zustand hat Luther geschaffen, und einstweilen warten die Völker noch auf ein tertium genus ecclesiae als Grundlage ihres höheren Lebens.


Harnack, A. (1910)