II. Kritik der Theorie Sohms: Wesen der Kirche und Wesen des Kirchenrechts.

Leibniz sagt irgendwo: „Die meisten Gelehrten haben in dem Recht, was sie behaupten, aber Unrecht in dem, was sie ablehnen”. Ich möchte dieses Wort auf die Theorie Sohms anwenden. Wer hat uns den pneumatischen Charakter der Urkirche eindrucksvoller vorgestellt und uns seine Auswirkungen umfassender kennen gelehrt als er? Was sein großes Werk über das Kirchenrecht und seine neue Abhandlung in dieser Hinsicht enthalten, ist ein dauernder Erwerb der wissenschaftlichen Erkenntnis. Aber wenn er diese Erkenntnis nun so ausnützen zu müssen meint, daß die Theorie „andere Götter” neben sich schlechthin nicht duldet, so muß dieser Auffassung widersprochen werden, und der Widerspruch erhebt sich nicht nur an einem Punkte: die Theorie als exklusive ist in sich unhaltbar, und sie scheitert auch an geschichtlichen Tatsachen.

Es liegt heute, besonders nach unseren evangelisch-modernen Vorstellungen über das Verhältnis von christlicher Religion und „Recht”, nahe, beide als inkompatibel zu betrachten: die Religion schafft und verlangt ein Leben aus

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Gott und kennt lediglich die Sphäre freier, nur in Gott gebundener Betätigung; das Recht verlangt Nachachtung und Gehorsam, erzwingt sie, wenn sie fehlen, begnügt sich aber auch mit einer tatsächlichen Unterwerfung; das einmal festgesetzte Giltige soll auch weiter gelten; das Motiv des Gehorchenden scheint dabei gleichgültig. Solch ein Gehorsam aber ist vor Gott ein Greuel; umgekehrt steht das Recht ratlos und oft genug reprimierend einem Verhalten gegenüber, das einfach erklärt: „Mein Gewissen ist in Gott gefangen; ich kann nicht anders”, zumal wenn dieses religiöse Gewissen der einzige Faktor der ganzen individuellen und gemeinschaftlichen Lebensbewegung sein will. Von hier aus ergibt sich, wie es scheint mit Notwendigkeit, die Unverträglichkeit von christlicher Religion und Recht.

Allein man braucht sich nur einen Augenblick zu besinnen, um zu erkennen, wie viel komplizierter das Verhältnis ist und wie oberflächlich die Religion sowohl wie auch das Recht bei dieser Betrachtung noch aufgefaßt sind. Zunächst eine geschichtliche Erinnerung. Ist nicht ein großer Teil des Rechts, um nicht zu sagen die Idee des Rechts, aus der Religion entstanden und also ursprünglich sakral, und bestehen nicht noch heute kräftige Beziehungen zwischen beiden fort? Das Recht, nicht nur das Strafrecht — daran braucht Sohm am wenigsten erinnert zu werden —, ist ohne den Hintergrund der Religion, mindestens geschichtlich, nicht zu denken und zu verstehen. Es ist auch nicht richtig, daß es dem Recht lediglich auf das formale Recht und nicht auf die Rechtsgesinnung ankommt. Es sieht sich nur in der Mehrzahl der Fälle außer Stande, über die Gesinnung etwas festzustellen; wo es aber eine unstatthafte und schädliche Gesinnung zu konstatieren und zu fassen vermag, da greift es auch ein und sucht diese Gesinnung zu bestrafen und zu unterdrücken. Wenn es in der Regel darauf wartet, bis die Gesinnung tatsächlich hervorgetreten

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ist, so geschieht das nicht aus Indifferenz gegen die Gesinnung an sich, sondern weil es gelernt hat, daß hier die Repressalien um der Schwierigkeit der Konstatierung willen aussichtslos sind und weil die Unterdrückung jeglicher Freiheit schädlicher ist als die Gefahren gesetzwidriger Gesinnungen, die sich nicht in Taten äußern. Die Vorstellung, daß das Recht schlechthin etwas Formales sei und daß es ausschließlich mit Handlungen zu tun hat, läßt sich somit nicht aufrecht erhalten; hinter ihm liegt vielmehr ein bestimmter, materieller, sozialer Wille, vor ihm liegt ein diesem Willen entsprechendes Ideal, das sich durchsetzen soll, und ihm sind hohe Güter anvertraut, die es mit den stärksten Mitteln schützen will. Das Recht will in diesem Sinn immer ein möglichst „richtiges Recht” sein; ohne diesen Anspruch oder besser, ohne diese Zielstrebigkeit würde es aufhören Recht zu sein; aber es ist sich dabei seiner Relativität stets bewußt; denn sonst müßte es sich als Ethik bezw. als Religion proklamieren. Umgekehrt ist aber die christliche Religion nicht die individuelle Inspiration des Einzelnen, die sich in bunten Velleitäten offenbart — das ist vielmehr ein pathologischer Zustand —, sondern sie ist eben als christliche Religion an die Überlieferung von Christus gebunden, lehnt die religiösen Zuständlichkeiten, die vor diesem Maßstabe nicht bestehen können, ab und lehrt, daß die Religion sich als Herrschaft des Gotteswillens, d.h. des Guten, in den Herzen der Einzelnen und in dem Gesamtleben auswirkt. Die δικαιώματα Gottes sind das Entscheidende1; sie, die auch als Gnade und Vergebung immer den Charakter von δικαιώματα Gottes tragen, sollen sich im einzelnen wie im ganzen durchsetzen, auf ihre Kräftigung


1) Auf das Wort δικαίωμα kommt es hier nicht an, sondern auf den Gedanken, der ihm zugrunde liegt. Auch δικαιοσύνη θεοῦ, νόμος Χριστοῦ und andere Worte könnte ich hier brauchen; alle aber haben etwas Partikulares.

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in den Herzen zielt alle Inspiration und Pneumatik ab, und Gottes Mitarbeiter zu werden, damit sein guter und gnädiger Wille positiv die Menschheit durchdringe, ist das höchste Zeil. Haben nun diese δικαιώματα gar keine Beziehungen zum „Recht”? Wenn es, wie gesagt, im Recht letztlich auf das „richtige Recht” ankommt, und wenn umgekehrt der Gläubige glaubt, daß Gott selbst in Liebe und Zucht, durch Strafe und Tod für seinen guten und gnädigen Willen eintritt, und ferner glaubt, daß er dabei Gottes Mitarbeiter sein soll, wie kann man leugnen, daß auch die christliche Religion für „Rechte” und für ein „Recht” eintritt, und wie kann man den prinzipiellen Widerstreit zwischen beiden behaupten? Wendet man aber ein — ein Einwurf, den Sohm nicht macht, ja von dem grade er am weitesten entfernt ist —, eben deshalb lägen sie im Widerstreit, weil beides „Rechte” sind, so ist nicht abzusehen, warum prinzipiell das weltliche Recht, welches doch das richtige, d.h. das gute Recht als anzustrebendes Ziel vor Augen hat, jenem göttlichen widersprechen soll. Das jeweilige Recht mag zu der christlichen Religion noch so sehr im Widerspruch stehen — daraus kann schlechterdings nicht gefolgert werden, daß die Idee des Rechts ihr widerspricht, selbst wenn das Christentum die Mehrzahl der Güter für wertlos erklären würde, welche das jeweilige Recht schützen zu müssen meint; denn es kennt jedenfalls Güter, für die Gott selbst nach christlicher Auffassung mit seinem Rechtsschutz eintritt; dazu ist in Röm 13 rund behauptet, die irdische Obrigkeit sei von Gott. Der Einwurf aber, die christliche Religion schließe prinzipiell die Idee des Rechts überhaupt aus, ist schon widerlegt, da ihr vielmehr in dem Gedanken der δικαιώματα Gottes, die sich auch in Zucht und Strafe durchsetzen, der Rechtsbegriff immanent ist1.


1) Religion und Recht sind also keine Gegensätze (Röm 13, 5: ἀνάγκη ὑποτάσσεσθαι, οὐ μόνον διὰ τὴν ὀργὴν ἀλλὰ καὶ διὰ τὴν συνείδησιν); ➝

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Sohm wird einwenden, daß ihn diese Darlegung nicht treffe: er habe lediglich behauptet, daß das Wesen des Kirchenrechts mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch stehe; allein es ist nicht wohl möglich, diesen Satz zu widerlegen, ohne auf das Allgemeinere zurückzugreifen. Betrachten wir nunmehr diese These. Ohne weiteres stimmen wir ihr zu, wenn sie näher so präzisiert wird: „das Wesen des katholischen Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche, wie Luther sie gefaßt hat, in Widerspruch”; denn die Kirche ist nach Luther eine geistliche und geistige Gemeinschaft; die Vermischung von Geistlichem und Weltlichem, welche in dem katholischen Kirchenrecht vorliegt, bezw. die Subsumierung weltlicher Anordnungen unter die Autorität der Offenbarung, widerspricht daher dem Wesen der nach lutherischem Begriff vorgestellten Kirche. Aber das it auch ein truism, über den sich nicht zu sprechen lohnt. Wird aber gefragt, ob das Wesen des katholischen Kirchenrechts mit dem Wesen der Urkirche in Widerspruch steht, so läßt sich darauf bereits nicht mehr mit einem runden Ja oder Nein antworten; denn die Untersuchungen hier führen, wie wir sehen werden, alsbald zu einem recht komplizierten Tatbestand. Lassen wir also das katholische Kirchenrecht zunächst aus dem Spiel. Die These, wie sie bei Sohm lautet: „das Wesen des Kirchenrechts steht in Widerspruch mit dem Wesen der Kirche”, kann nur bedeuten: „Nach meiner (Sohms) Vorstellung von dem Wesen der Kirche darf es ein Kirchenrecht, wie man es auch fassen möge, überhaupt nicht geben”; denn ein Kirchenrecht, welches bestehen bleiben soll, obgleich es mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch steht, ist


➝ ja selbst Charisma und Recht schließen sich nicht aus. Das Charisma funktioniert freilich in Beziehung auf Andere in der Regel in der Form der Diakonia; aber unter Umständen wird dem Charisma die Macht gegeben, zu unterwerfen und zu richten.

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ein Widersinn. Ist aber Sohms Vorstellung von der Kirche die richtige, und, angenommen, daß sie es ist, ist seine Vorstellung vom Kirchenrecht die richtige, endlich — auch dieses angenommen — ist die Folgerung auf die Unvereinbarkeit beider zutreffend? Offenbar sind es diese drei Fragen, um die es sich hier handelt.

Nach Sohm ist die Kirche eine rein religiöse, geistige Größe; sie ist das Volk Gottes, der Leib Christi. In diesem Sinn bildet sie zwar einen Körper, aber keine Körperschaft, geschweige denn eine christliche Körperschaft; denn nur etwas Geistiges (der Gottesgeist, der Glaube) macht sie zu einem Körper; sie kann auch nicht zugleich geistliche und rechtliche (körperschaftliche) Einheit sein; denn das wäre ein Widerspruch in sich (s.o. S. 130f.). Wenn man auf diesen Gedanken eingeht, muß man sich zunächst klar machen, daß es sich um eine sehr intime Spekulation handelt, d.h. um eine Betrachtung, die ganz und gar dem Glauben angehört, wie sie ja auch ganz davon absieht, ob und in wie weit sie sich in irgend einem Zeitalter verwirklicht hat. Zwar behauptet Sohm, daß sie auch die Betrachtung der Urkirche gewesen sei, aber die Meisten bestreiten das sehr energisch; Sohm würde die Betrachtung aber festhalten, auch wenn sie sich niemals (und auch am Anfang nicht) rein verwirklicht hätte; denn sie ergibt sich ihm aus der Auffassung des Wirkens Jesu Christi. Gibt man aber auch ihren ersten Hauptsatz zu — man wird Sohm Dank wissen, daß er ihn so energisch geltend macht —, so läßt sich doch, wenn man schlechthin alles Irdische vom Wesen der Kirche fernhält, nicht absehen, wie dann die Kirche etwas anderes sein kann als eine bloße Idee, an die jeder einzelne Christ in seiner Vereinzelung glaubt. Auch so kann diese Idee kräftig und mächtig sein, aber eine Kirche ist das nicht, sondern ein numerus praedestinatorum et credentium, die einander nichts sein können, also eine Anzahl

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von Parallelen, die sich erst in der Unendlichkeit schneiden. So aber kann die Sache nicht gemeint sein, wenn doch eben das Wort „Kirche” gebraucht wird und hier das Entscheidende ist. Kirche ist Versammlung, Versammlung der Berufenen und Erwählten als eine Einheit. Damit ist etwas Gemeinschaftliches gegeben, und zwar etwas Gemeinschaftliches, welches sich schon hier auf Erden verwirklicht; denn mitten in der Welt sind die Berufenen die Ekklesia Gottes und haben als solche miteinander Gemeinschaft. Sohm benutzt den grundlegenden Spruch: „Wo Zwei oder Drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen”, immer wieder und mit vollem Rechte, um mit ihm die Ansprüche und die Enge des katholischen Kirchenbegriffs zurückzuweisen, aber er übersieht, daß eben dieser Spruch die Einseitigkeit seines eigenen Kirchenbegriffs aufs schlagendste ebenfalls widerlegt; denn indem dieses Wort der Gemeinschaft — schon von Zweien oder Dreien Gläubigen — die Gegenwart Christi, d.h. wie Sohm richtig erkennt, den Charakter der Kirche zuspricht, fordert es eben dazu auf, solche Gemeinschaften zu bilden. Es ist also der in dieser Welt sich vollziehende Zusammenschluß derer, die den Namen Christi anrufen, nicht etwas Nebensächliches oder Unwesentliches in Bezug auf den Begriff der Kirche, sondern der Begriff der Kirche selbst fordert ihn und kommt erst in diesem Zusammenschluß zu seiner Verwirklichung. Die Kirche ist also — eben als geistliche und geistige Größe — keine bloße Glaubensidee bezw. Glaubensrealität für den Einzelnen; sie ist auch keineswegs noch ausreichend beschrieben, wenn man sie den unsichtbaren Leib Christi nennt, sondern daß sie auf Erden gemeinschaftbildend ist, gehört offenbar auch zu ihrem Wesen. In dem Momente aber, wo das zugestanden werden muß, ist doch wohl die Gedankenreihe unvermeidlich, die Sohm

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selbst (S. 139) in klassischer Kürze also formuliert hat: „Das Gemeinleben einer sichtbaren Menschengemeinschaft kann ohne irgend welche Form nicht sein. Es bedarf einer gemeingültigen Ordnung, die in der Vergangenheit entstanden, doch die Gegenwart beherrscht, sodaß bei Irrungen innerhalb der Gemeinschaft die formale Tatsache des Einklangs mit der überlieferten Ordnung den Ausschlag gibt.” Doch damit sind wir schon einen Schritt über die Beantwortung der ersten Frage, ob Sohms Kirchenbegriff richtig ist, hinausgegangen. Er hat sich als einseitig spiritualistisch, ich möchte fast sagen „putativ” erwiesen. Die Definition der Kirche (und zwar der Kirche des Glaubens) muß lauten: Die Kirche ist eine rein religiöse Größe, Volk Gottes, Leib Christi; sie hat ihr Bürgerrecht im Himmel und ihre Heimat dort, wo ihr Haupt ist; aber in dieser Kirche setzt sich auf Erden in der Menschheit der erlösende Wille Gottes durch; sie tritt daher auf Erden in die Erscheinung in Form einer Gemeinschaft d.h. eines gemeinschaftlichen Lebens; diese Form, so unvollkommen sie ist, ist ihr wesentlich. Die Vorstellung — ich behaupte nicht, daß Sohm sie hegt, aber ich kenne hier nur zwei Auffassungen als mögliche —, daß das Gemeinschaftliche erst dem Himmel angehört, daß es sich dagegen hier auf Erden nur um Berufung Einzelner in völliger Unabhängigkeit voneinander handelt, und daß das Gemeinschaftliche, welches die Christen hier auf Erden miteinander kraftvoll verbindet und spürbar in die Erscheinung tritt, mit dem eigentlichen Wesen der Kirche nichts zu tun hat, ja ihm widerstreitet, hebt den Begriff der Kirche und ihren Beruf auf Erden zugleich auf. Das Genossenschaftliche, Korporative, kann auch vom sublimsten Begriff der Kirche nicht getrennt werden. Ja, auch damit ist noch zu wenig gesagt, daß das Genossenschaftliche lediglich eine „Stütze und Hilfe” sei, vielmehr liegt es im Begriff der Kirche selbst,

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mag man nun an den Himmel oder an die Erde denken. Das Genossenschaftliche ist nicht die Kirche des Glaubens selbst, aber es ist die form ihrer irdischen Verwirklichung, so weit sie auf Erden verwirklicht werden kann.

Wie steht es nun um das Kirchenrecht? Sehen wir vom „göttlichen Kirchenrecht” ab, welches sowohl dadurch, daß es Relatives in die absolute Offenbarung einrechnet, das exklusive Wesen der Kirche als einer inneren Gemeinschaft des Glaubens verwundet, als auch dadurch, daß es Geistliches durch Zwang sichern zu können glaubt —, so haben wir es mit dem Kirchenrecht allein hier zu tun, welches keine anderen Ansprüche stellt als das weltliche Recht überhaupt. Das Recht, obgleich es innerhalb der Rechtsgemeinschaft auch Zwang ausübt, behauptet selbst seine Relativität gegenüber der Idee des richtigen Rechts (s.o. S. 145) und sieht daher sein Wesen und seinen Begriff durch die Wandelungen, die es erlebt, keineswegs gefährdet. Also behauptet auch das Kirchenrecht sogar von den Ansprüchen, die es unter Zwang stellt, keineswegs, daß sie absolut richtig seien. Damit ist schon gesagt, daß in das Kirchenrecht keine religiösen Bestimmungen im eigentlichen Sinn aufgenommen werden können, weil diese dadurch entwertet, ja geradezu in Frage gestellt werden. Ein Kirchenrecht, welches z.B. behauptet, es könne und dürfe Regeln aufstellen, nach welchen Jemand aus der Kirche Jesu Christi auszuschließen sei, behauptet damit offenbar eine frivole Absurdität und vernichtet, wo es sich durchsetzt, das Wesen der Kirche. Das Kirchenrecht kann sich somit nur auf solche Objekte und Gebiete beziehen, die nicht das innere Wesen der Kirche betreffen, und die des Wandels fähig sind. Damit ist nicht gesagt, daß das Kirchenrecht, an den höchsten Aufgaben gemessen, etwas mehr oder weniger Gleichgültiges ist. Vielmehr ist zu erwarten, daß es sich mit ihm nicht wesentlich anders verhalten wird, als mit dem

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Recht überhaupt: ein gutes positives Recht wird das richtige Recht fördern und ein schlechtes vermag es nicht vollkommen zu zerstören, so schädlich es ihm ist. Eben dieses behauptet das protestantische Kirchenrecht von sich selbst.

Ist nun dieses Kirchenrecht mit dem Wesen der Kirche, wie es oben bestimmt ist, unverträglich? Das war die letzte Frage. Wir haben gesehen, daß die Kirche, auch wenn man ihr Wesen nach strengstem religiösen Maßstab bestimmt, das genossenschaftliche, korporative Element in sich schließt. Das Genossenschaftliche muß aber in seiner konkreten Ausgestaltung notwendig immer etwas Relatives bleiben; denn es kann keine absolut zweckmäßige und gute Form für dasselbe geben, weil alles Irdische stets im Wandel und relativ ist und gut nichts ist als ein guter Wille. Also entsteht hier die Antinomie — wenn man sie so nennen will; denn es ist die Antinomie des geschichtlichen Lebens überhaupt, wenn es absolute Werte kennt und sich nach absoluten Maßstäben richtet —, daß eine absolute Größe etwas schlechthin fordert, was nur mit Zuhilfenahme und in den Formen relativer Bestimmungen sich durchführen läßt, für die ihre eigene absolute Autorität nicht mehr als solche, d.h. mit ihrem ganzen Gewichte maßgebend sein kann. In dem Momente ergibt sich aber auch, daß die Kirche, weit entfernt das Kirchenrecht als etwas ihr Widerstreitendes abzulehnen (Sohm: „die Entstehung des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung ist der Abfall von dem von Jesus selbst gewollten und ursprünglich verwirklichten Zustand”), es vielmehr fordert; denn zu den Formen, die das Genossenschaftliche, Korporative, zu seiner Durchführung verlangt, gehört auch das Recht, welches zum Kirchenrecht wird, wenn es sich auf die Kirche bezieht. Es ist nicht nur „Stütze und Hilfe” der Kirche; denn so erscheint es noch immer als etwas, was stets auch fehlen könnte; sondern es ist unter Umständen ein notwendiges

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Mittel, um das, was die Kirche ihrem Wesen nach ist, auf Erden zu verwirklichen und durchzusetzen, nämlich eine Verbindung der Menschen untereinander, eine Genossenschaft. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß es je irreformable Bestimmungen treffen könnte, ja nicht einmal das ist behauptet, daß es stets und überall vorhanden sein müsse. Es lassen sich für kleine Kreise rein familiäre genossenschaftliche Verbindungen als „Kirchen” denken und sind vorhanden gewesen, die keine ausdrücklichen Rechtsbestimmungen nötig haben. Indessen liegen auch im Schoße der Familie latente Rechte, auch wenn sie nicht als solche hervortreten, und schließlich kann es auch als ein eigentümlicher Rechtszustand betrachtet werden, wenn man die Geltendmachung von Autoritäten in Form von Rechten ausschließt. Jedenfalls erkennt Sohm selbst an, daß das Gemeinleben einer sichtbaren Menschengemeinschaft ohne irgend welche Form nicht sein kann, und daß die gemeingültige Ordnung, die sie bedarf, sich grundsätzlich auch ohne die innere Zustimmung des Betroffenen durchsetzen muß. Das ist aber „Recht”. Ist nun nachgewiesen, daß der religiöse Begriff der Kirche ein eigentümliches Gemeinleben einer sichtbaren Menschengemeinschaft fordert, so fordert er damit zugleich das Recht. Damit entsteht nun freilich in den Kirchen ein komplizierter Zustand: ihre Mitglieder empfinden sich einerseits als vom Geiste Gottes geleitet, machen die absolute Autorität Gottes für Alles geltend, was zum Glauben, zur Hoffnung und zur Liebe gehört, und fordern bei sich und unter sich unbedingten Gehorsam für diese Weisungen. Zugleich aber verlangen sie auch Gehorsam für die Ordnungen, die für das genossenschaftliche Leben festgestellt sind, und schließen sogar die Widerstrebenden aus ihrer Mitte aus; aber sie sind weit davon entfernt, die Handhabung dieser Rechte unter die Autorität Gottes zu stellen. Bei dem Bekenntnis freilich

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können und müssen sich notwendig Konflikte ergeben, und Niemand vermag hier eine feste Demarkationslinie zu ziehen. Wo die Einen sagen werden, es handle sich um den Glauben selbst, werden Andere finden, daß es sich um eine vergängliche Form desselben handelt; wo die Einen sich durch ihr religiöses Gewissen gebunden fühlen, urteilen Andere, daß es eine Frage des Kirchenrechts sei, deren Entscheidung durch den Glauben nicht präjudiziert ist. Diese Konflikte vermag keine Macht des Geistes oder der Welt aus dem Wege zu räumen, und sie würden sich auch dann einstellen, wenn sich je die Sohmsche These durchsetzen sollte und man allerseits überzeugt wäre, daß die Entstehung eines Kirchenrechts und einer Kirchenverfassung der Abfall von dem von Jesus selbst gewollten Zustande sei; denn die Konflikte sind eine notwendige Folge davon, daß das Christentum die Herrschaft Gottes unter kurzsichtigen, der Erziehung bedürftigen und sündigen Menschen bedeutet.

Die im Protestantismus „herrschende Ansicht” über das Kirchenrecht ist somit prinzipiell gegen Sohm im Recht. Würde es sich nur um die Kirchenverfassung handeln, so wäre der Beweis dafür noch schneller zu erbringen gewesen; denn daß das Charisma eine Organisation schafft, gibt auch Sohm zu. Daß aber der Charakter einer sei es auch spezifisch charismatischen Organisation, auch nur für kurze Zeit, geschweige in ihrem zeitlichen Fortgang, lediglich auf dem Charisma zu verharren vermag, kann nicht zugestanden werden. Das wäre nur dann der Fall, wenn es nur Prophetensprüche, aber keine Propheten, nur Lehrworte aber keine Lehrer, nur Leitungen, aber keine Leiter gäbe, vielmehr Alles nur stoßweise erfolgte. So ist es aber nie gewesen und kann niemals so sein; vielmehr entstehen hier Autoritäten, deren Geltung theoretisch sich nur auf Geistliches bezieht und eine stets durch den Geist zu kontrollierende ist, und die doch faktisch dauernd sind und sich

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über Gebiete verschiedener Art (weltliche Gebiete) erstrecken. Der genossenschaftliche Charakter verlangt eben eine stetige Regelung in irdischen Dingen, und noch deutlicher erscheint diese gefordert, wenn man die abstrakte Betrachtung aufgibt und sich erinnert, daß der Unterschied von Alten und Jungen, Erzogenen und der Erziehung Bedürftigen ein schlechthin und stets gegebener ist. Er verlangt Lehrer und Erzieher. Indem nun die Charismatiker zu solchen werden, kann sich ihre Tätigkeit unmöglich auf die Fälle und Mittel beschränken, die dem eigentlichen Gebiete des Glaubens angehören, sondern greift, der gegebenen Situation gemäß, über diese hinaus, d.h. die charismatischen Lehrer erhalten die Pflichten und Rechte übergeordneter Personen und greifen demgemäß zu Erziehungs-, Rechts- und Strafmitteln. Diese Rechte werden entweder in ihre geistlichen Rechte einbegriffen werden; dann entsteht schon an diesem Punkt „das göttliche Kirchenrecht” (s.o.), oder sie gehen neben ihnen her; dann entsteht — zunächst auf dem Verfassungsgebiete — ein weltliches Kirchenrecht, nämlich das weltlich-kirchliche Recht der Beamten. In den einen wie in dem anderen Fall also kommt es zu einer Rechtsbildung.


Harnack, A. (1910)