9. Verfassungsgeschichte der Urgemeinde. Die Verwandten Jesu. Jakobus (monarchisches Amt).

Nach einer alten gutbezeugten Tradition, zu der sich AG 12 fügt, sind die Zwölf 12 Jahre in Jerusalem verblieben; dann hat sie die zweite Verfolgung, nämlich die des Herodes, in welcher der Zebedäide Jakobus fiel1, zerstreut, und sie sind nur noch zeitweilig nach Jerusalem zurückgekehrt. Schon vorher aber hatten sie von Jerusalem aus in Judäa als Missionare gewirkt bezw. die Mission Anderer konfirmiert (s. Petrus und Johannes in Samarien, Petrus in Philistäa). In Jerusalem erfolgte nun aller Wahrscheinlichkeit nach eine totale Veränderung der Verfassung. An die Stelle der das Messiasreich im voraus darstellenden Regierung der Zwölf traten Jakobus, der Bruder des Herrn, und Presbyter (die Apostelgeschichte markiert den Umschwung nicht, setzt ihn aber voraus, s. 12, 17; 11, 30; 15, 2. 4. 6. 22. 23; 21, 18). Die Quelle Q nimmt auf diesen Umschwung nirgends Rücksicht, was für ihr Alter bedeutungsvoll ist. Er bezeichnet die erste Depotenzierung des


1) Daß in dieser Verfolgung auch der Apostel Johannes Märtyrer geworden sei, Lukas aber diese Tatsache unterdrückt habe und der Johannes in Gal 2 entweder ein anderer Johannes sei oder Gal 2 vor die Herodes-Verfolgung falle — ist eine der gewagtesten Hypothesen, die in Bezug auf das apostolische Zeitalter aufgestellt worden ist. Selbst wenn durch Mc 10, 35 ff. der Märtyrertod des Johannes bezeugt wäre (eine Annahme, die nicht notwendig ist und Joh 21 gegen sich hat), so ist doch (trotz eines angeblichen Zeugnisses) unwahrscheinlich, daß Johannes mit seinem Bruder Jakobus gemartert worden ist.

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Pneumatisch-Messianischen und ist schwerlich ohne eine Krisis erfolgt; aber wir wissen nichts Näheres. Doch ist soviel gewiß, daß zeitweise noch in Jerusalem anwesende Mitglieder des Zwölferkollegiums (Petrus und Johannes) ihre Autorität nicht eingebüßt hatten (Ga 2; AG 15; in AG 11, 30 ist nur von den Presbytern, in AG 15 von den Aposteln die Rede). Die neue Verfassung muß in dreifacher Hinsicht gewürdigt werden: 1. läßt sie die Verwandten Jesu hervortreten (nach Jakobus’ Tode wurde der Vetter Jesu Simeon in Jerusalem gewählt [nach Euseb. II, 11 von den noch lebenden Aposteln, ferner von Jüngern und Verwandten Jesu]; auch andere Verwandte Jesu traten in palästinensischen Gemeinden an die Spitze; die Verwandten Jesu heißen δεσπὀσυνοι [δεσποτικοί vermutet Spitta]; die alte judenchristliche, jerusalemische Bischofsliste mit ihren vielen Namen ist vielleicht auch eine Liste von Verwandten Jesu; Hegesipp, Julius Afrik., s. Zahn, Forsch. VI, S. 225 ff.); 2. läßt sie das pneumatische Element mindestens sehr zurücktreten; denn es läßt sich schwer verstehen, wie es noch im Vordergrund stehen konnte, wenn ein Monarch und Presbyter die Gemeinde regierten; 3. scheint sie als eine Nachbildung der herrschenden jüdischen Verfassung verstanden werden zu müssen und bezeichnet ihr gegenüber eine scharfe Absage. Hier ist also im Vergleich mit dem ersten Zustande vieles neu: man richtet sich ein und sucht und rezipiert natürlich-geschichtliche bezw. die alten jüdischen Ordnungen (judenchristliche Reaktion?). Der Rekurs auf die Verwandten Jesu bezeichnet, so scheint es (mindestens in einer Hinsicht), einen Ersatz der Zwölf, mag der Grund in ihrem allmählichen Absterben oder in der ausschließlichen Aposteltätigkeit, der sie sich nun widmeten, mag er daneben noch (oder lediglich?) in uns unbekannten Vorgängen und Spannungen (man könnte die Siebenmänner

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als die älteren Rivalen der Zwölf, die Verwandten Jesu als die jüngeren Rivalen betrachten; aber zu solchen Betrachtungen reichen die Quellen nicht sicher aus) oder lediglich in einem strikten Verbot, das den Zwölfen den Aufenthalt in Jerusalem untersagte, gelegen haben. Daß man aber grade die Verwandten Jesu in den Vordergrund schob, kann nicht nur die Folge der Hochschätzung des Jakobus („des Gerechten”) und seines allgemeinen Ansehens gewesen sein, sondern es muß hier das Motiv gespielt haben, daß die natürliche Verwandtschaft mit Jesus diesen Davididen ein Recht auf die Regierung verleihe. Wir haben hier also den Gedanken des Chalifats zu erkennen; angesichts desselben ist die bald eintretende Isolierung der Kirche von Jerusalem unter der z.Z. Hadrians erfolgende Untergang der Judenkirche daselbst als ein Glück zu preisen. Die neue Verfassung in Jerusalem mit Jakobus an der Spitze und Presbytern — Zwölf? s. Zahn S. 297 not. — muß so verstanden werden, daß Jakobus dem Hohenpriester entspricht (s. Hegesipp bei Euseb. II, 23, 6: τούτῳ μόνῳ ἐξῆν εἰς τὰ ἅγια [τῶν ἁγίων] εἰσέναι) und die Presbyter dem Synedrium (s. Schürer, Geschichte des jüd. Volks II3, S. 189ff. 176ff.). Vielleicht hatten die anderen christlichen Gemeinden in Palästina die Ältestenverfassung schon früher, und das mag auch auf Jerusalem eingewirkt haben. Aber Jakobus als Oberster hatte eine einzigartige Stellung über allen. Sein Thron wurde noch zu Eusebius’ Zeit gezeigt (h.e. VII, 19), und auch die heidenchristliche Überlieferung (nicht nur die Judenchristen) nennen ihn den ersten, von Christus selbst und den Aposteln (!) eingesetzten Bischof von Jerusalem (Euseb. l.c.). Unzweifelhaft übten er und seine Nachfolger eine monarchische Gewalt aus, und daß er statt Petrus im Hebräerevangelium als der erste erscheint, der den Auferstandenen gesehen hat, ist ein sicherer Beweis dafür, daß eine Spannung zwischen Petrus und Jakobus bestanden hat,

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die für weite Kreise mit der Überordnung des letzteren endete (hatte sich Petrus durch sein Eintreten für die Heidenmission bei den strengen Judenchristen diskreditiert?). Aber daß Jakobus den Titel „Bischof” geführt hat, muß man — da der Titel im Bereich des Judentums nicht vorkommt — doch stark bezweifeln, obgleich die heiden- und judenchristliche Tradition ihm so nennen. Die Überschwenglichkeiten der letzteren in einer sehr viel späteren Periode (Hom. und Recogn.) sind mit größter Vorsicht aufzunehmen. Hier erscheint Jakobus nicht nur als von Christus selbst eingesetzter Bischof, sondern sein Episkopat erstreckt sich auch über die ganze jüdische Christenheit und, da dieser die Heidenchristen einverleibt sind, über die gesamte Christenheit. Jakobus ist der Herr und Bischof der heiligen Kirche und der Herr und Bischof der Bischöfe (Recogn. IV, 35). „Er ist der Papst der ebionitischen Phantasie”. Diese läßt die Zwölfe und Petrus friedlich neben ihm bestehen — jene die Apostel (Missionare), er der Oberbischof —, aber auch Petrus, das Haupt der Apostel, ist verpflichtet, dem Oberbischof „Jahresberichte über seine Tätigkeit zu senden und sich seiner prüfenden Oberaufsicht zu unterstellen” (Recogn. I, 17. 72; IX, 29; Ep. Petri ad Jacob. 1, 3; Ep. Clem. ad Jacob. 19; Diamart. Jac. 1-4; Hom. I, 20; XI, 35). Die Frage, ob er Bischof geheißen hat, ist eine relativ untergeordnete, wenn es feststeht, daß er als regierender Monarch gewaltet und mindestens die Kompetenzen besessen hat, die nachmals der monarchische Bischof auf heidenchristlichen Gebiet besaß. Der Gedanke und die Verwirklichung eines monarchischen Amts ist also auf judenchristlichem Gebiet und in Bezug auf Jakobus zuerst entstanden (Mt 16, 18 ist vielleicht ein Protest der dem Jakobus nicht hörigen palästinensischen Christen gegen diesen; aber die Stelle kann auch anders verstanden werden), und es kann sehr wohl sein, ja es ist wahrscheinlich, daß

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damit etwas wie ein Universalepiskopat (wenn auch ohne diesen Namen) ins Auge gefaßt war. Aber ob dies auf das heidenchristliche Gebiet hinübergewirkt und dort die Bildung des monarchischen Episkopats befördert hat, ist fraglich (s.u.). Daß man aber das Amt des Jakobus nicht nur auf eine Einsetzung durch die Apostel, sondern sogar auf eine direkte Einsetzung Christi zurückgeführt hat, ist ein Beweis dafür, was in jenen Zeiten an Legenden möglich gewesen ist. Hegesipp (bei Euseb., h.e. II, 23, 4) sagt freilich noch: διαδέχεται τὴν ἐκκλησίαν μετὰ τῶν ἀποστόλων Ἰάκωβος, aber Eusebius schreibt (§ 1) πρὸς τῶν ἀποστόλων, und die Einsetzung wird möglichst weit hinaufgeschoben, bis zur Himmelfahrt Jesu (ursprünglich ganz allgemein: nach der Himmelfahrt). Leider vermögen wir die wichtige Frage, ob und in welchem Maße eine Rezeption im Sinne einer förmlichen Übertragung der alttestamentlichen Verfassungsordnungen auf die christliche Gemeinde duch die neue Verfassung beabsichtigt war, nicht zu beantworten.

Die Verfassung der judenchristlichen Gemeinden weiter noch zu verfolgen, erübrigt sich und ist auch bei der Spärlichkeit der Quellen kaum möglich. In Jerusalem blieb der monarchische „Episkopat” bestehen, nachdem die dortige Gemeinde als judenchristliche erloschen war und eine heidenchristliche sich an ihre Stelle zu setzen begann. In Bezug auf die Ebioniten, die er schildert, sagt Epiphanius (h. 30, 18): πρεσβυτέρους οὗτοι ἔχουσι καὶ ἀρχισυναγῶγους (dazu der oben besprochene Zusatz: συναγωγὴν δὲ οὗτοι καλοῦσι τὴν ἑαυτῶν ἐκκλησίαν καὶ οὐχι ἐκκλησίαν). Interessant ist, daß Epiphanius von einer judenchristlichen Sekte, den Elkesaiten, erzählt, sie verehre zwei Schwestern, Abkömmlinge des Stifters „ἀντὶ θεῶν”, ὧν καὶ τὰ πτύσματα καὶ τὰ ἄλλα τοῦ σώματος ῥύπη ἀπεφέροντο πρὸς ἀλέξησιν νοσημάτων (h. 19, 2). Also auch hier spielt die leibliche Verwandtschaft eine wichtige Rolle!


Harnack, A. (1910)