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10. Äußere Geschichte der jeruzalemischen Gemeinde.
Verfolgungen. Untergang Jerusalems
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Es ist paradox, aber doch eine Tatsache, daß vor dem großen Kriege nur stoßweise Verfolgungen seitens der jüdischen Obrigkeit und des jüdischen Volkes (der einzelnen Synagogen) vorgekommen sind (Mt 10 cum parall.; Jo 16, 2) und die Organisation der Gemeinden sich zu behaupten vermochte. Die in c. 1-5 der Apostelgeschichte erzählten Verfolgungen der Zwölfe blieben noch ohne weitergehende Wirkungen. Die Stephanusverfolgung galt nicht den Aposteln und kann daher auch nicht alle jerusalemischen Christen außer ihnen betroffen haben (gegen AG 8, 1). Erst die Verfolgung unter Herodes im J. 42 griff schärfer ein; aber es gelang dem Jakobus, dessen exemplarische Frömmigkeit und Gesetzestreue auch von den Juden bewundert wurde, die Gemeinden Jerusalems und Judäas vor einer Katastrophe zu schützen und ihre Organisation zu erhalten und zu stärken. Wenn das väterliche Gesetz treu beobachtet und der Tempel respektiert wurde, fiel der Hauptanlaß zu Verfolgungen weg. Selbst gegen Paulus schritt man in Jerusalem nur ein, weil man ihn beschuldigte, Heiden in den Tempel geführt zu haben (AG 21, 27ff.). Eine Agitation im großen Stil von Jerusalem aus gegen die christliche Bewegung ist bis zu der Zeit, da Paulus die Stadt Rom betrat, nicht unternommen worden (AG 28, 21f.) — vielleicht weil äußerlich alles viel unbedeutender war, als es uns erscheint (daher auch das Schweigen des Josephus) und die jüdische Obrigkeit mit Dutzenden von Sekten zu schaffen hatte. Die Hinrichtung des Jakobus und der große Krieg beendeten diesen Zustand. Als das Judentum und das jüdische Christentum sich wieder sammelten, trat jenes diesem als erbitterter Feind gegenüber. Justin erzählt uns (Dialog 17), daß von Jerusalem „erwählte Männer” in die ganze Diaspora

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geschikt worden seien, um die Christen als Atheisten und Frevler zu denunzieren. Simeon, der Nachfolger des Jakobus, wurde ebenfalls Märtyrer, und Barkochba verhängte über das Bekenntnis zu Jesus die furchtbarsten Strafen (Justin, Apol. I, 31). Durch die zweite Zerstörung Jerusalems unter Hadrian verlor das jüdische Christentum definitiv seinen Zentralsitz und damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Zentrale der Organisation. Es gab nunmehr nur noch einzelne Gemeinden und Gruppen von solchen.


Harnack, A. (1910)