7. Die jerusalemische Gemeinde und die judäischen Gemeinden.

Über die Stellung der Mutterkirche Jerusalem im Kreise der jüdischen Töchtergemeinden ist es nicht leicht ein Urteil zu gewinnen, weil die Zahl der einschlagenden ältesten Quellenstellen spärlich ist, weil man nicht weiß, ob man jüngere Stellen hier herbeiziehen darf und weil man schwer

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unterscheiden kann, was der Gemeinde in Jerusalem als Jerusalem und was ihr als Sitz der Zwölfe (also eigentlich nur diesen) gebührt. Vor Übertreibungen muß man sich jedenfalls hüten; denn an mehreren Stellen, wo man die Erwähnung der Gemeinde von Jerusalem erwarten müßte, wenn ihre Bedeutung eine so durchschlagende und absorptive gewesen wäre, findet man ganz unbefangen die Gemeinden von Judäa genannt (s. Ga 1, 22; 1 Th 2, 14; AG 11, 1. 29; 15, 1). Paulus nennt das „obere” Jerusalem „unsere Mutter” (Ga 4, 26), nicht aber die Gemeinde von Jerusalem, und die Behauptung, der Name οἱ ἅγιοι habe in spezifischer Weise an dieser Gemeinde gehaftet, kann sich zwar mit einigem Schein auf gewissen Quellenstellen berufen, läßt sich aber doch nicht halten. Andererseits ist Jerusalem den palästinensischen Christen „die heilige Stadt” (Mt 4, 5; 27, 53), und es lag in natürlichen Verhältnissen begründet, daß die Gemeinde daselbst als das eigentliche Zentrum und als Ausgangspunkt der Christenheit angesehen wurde (auch von Paulus). Die auffallende Konfirmation der samaritanischen Gemeinden durch Petrus und Johannes hat schwerlich etwas mit der Bedeutung Jerusalems zu tun, sondern ist das Ende einer Kontroverse über die Samariterbekehrung, deren Recht, wie die Evangelien zeigen, zuerst umstritten war und die auch nicht von einem der Zwölfe, sondern von einem hellenistischen Siebenmann unternommen worden ist. Dagegen bleibt es bedeutsam, daß die Kirche von Jerusalem den Barnabas entsendet, um die heidenchristliche Schöpfung in Antiochia zu kontrollieren (AG 11, 22f.), daß Silas und Judas dorthin gesandt werden (AG 15, 22. 32f.), daß Petrus dorthin geht (Ga 2, 11) und Abgesandte des Jakobus (Ga 2, 12), ferner daß auch sonst jerusalemische Christen (die ὑπερλίαν ἀπόστολοι) die Diaspora kontrollierten, und endlich, daß auf dem sog. Apostelkonzil — eine höchst ungenaue Bezeichnung — die Gemeinde von Jerusalem

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augenscheinlich für alle judäischen Gemeinden die Verhandlungen führt. Damit ist das Verhalten des Paulus Jerusalem gegenüber zu vergleichen, nicht nur seine Sorge für die Kollekte, sondern auch seine Sorge, die Anerkennung der Gemeinde zu erhalten. Gewiß nahm diese Gemeinde eine Sonderstellung ein, aber daß die anderen Gemeinden, auch die Judäas, ihr gegenüber ganz unselbständig waren, darf man nicht schließen. Merkwürdig ist, daß die Christen in Galiläa so ganz zurücktreten. Es müssen sich in Erwartung des Eintritts des messianischen Reichs in den 50 Tagen nach Ostern die meisten in Jerusalem gesammelt haben. Dann ist die Überlieferung, daß es 120 waren, ein Beweis, wie wenig zahlreich die entschiedenen Anhänger Jesu waren. Zu den großen und rasch sich folgenden Übergängen in der Urgeschichte der Kirche, die stets eine neue Evolution bedeuteten und in aller Religionsgeschichte einzigartig sind, gehört als erster der Übergang von Kapernaum, Chorazin und Bethsaida nach Jerusalem. Schon durch ihn rissen Traditionen ab und wurden Legenden geschaffen; denn das ist die unvermeidliche Folge jedes Wechsels. Kann man sich eine stärkere Übermalung denken als die, welche in der judäischen Kindheitsgeschichte und in der Versetzung der ersten Erscheinungen des Erhöhten aus Galiläa nach Jerusalem1 gegeben ist!


1) Doch werden die jerusalemischen Erscheinungen von einigen Kritikern auch heute noch als die ersten beurteilt.


Harnack, A. (1910)