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Kapitel XXI

Kirchengewalt, munera und potestates

„Nicht das können wir besonnenerweise gegen das Papsttum haben, daß es Gewalt übt. Wäre sie nur kirchliche, geistliche und darum Gott dienende, nicht aber Gott verdrängende und ersetzende Gewalt geblieben, wir wollten wohl mit Luther nichts dagegen haben, dem Papst die Füße zu küssen.”1

 

1. Die Entwicklung der Lehre von der Kirchengewalt

Um die Tragweite des Vorschlags von Gloege zu klären, ist eine Übersicht über die Entwicklung der Lehre von der Kirchengewalt erforderlich.

Daß die Kirche eine „Gewalt”, exousia, potestas, besitzt, ist biblisch gut begründet. Wie diese zu verstehen ist, ist während des ersten Jahrtausends in einer gewissen unbefangenen Unmittelbarkeit des Handelns nicht besonders reflektiert worden. Bei allen unterschiedlichen Auslegungen der Schrift ist dies im Grundsatz zwischen den getrennten Kirchen nicht streitig (vgl. insbes. CA XXVIII).

Die Entstehung eines differenzierten Begriffs der Kirchengewalt ist erst für das 12. Jahrhundert, und zwar für den lateinischen Teil der Kirche, nachzuweisen. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Formulierung einer zweigeteilten Lehre von der potestas ecclesiastica, der Dualität von potestas iurisdictionis et ordinis mit der Übergang von der relativen zur absoluten Ordination um die Wende vom 1. zum 2. Jahrtausend in Zusammenhang steht. Diesen Konsens drückt auch Peter Krämer2 aus.

Der Versuch jedoch, in der ausgebreiteten theologischen Literatur des Früh- und Hochmittelalters eine authentische und direkte Quelle für die Entstehung der potestas-Lehre zu finden, ist bisher ohne überzeugendes Ergebnis gewesen, obwohl sich hier und da Anknüpfungen und Verbindungen ergeben könnten. Vielleicht liegt der Fehler schon in der Annahme, diese Lehre könne und müsse in einer Art dogmatischer Formel vorgebildet sein. Das wäre schon deswegen verwunderlich, weil es über eine eigentliche Quellenstelle hinaus erst recht deutliche Spuren für die Ausbreitung, Rezeption und Autorisation einer solchen Lehre geben müßte. Vielleicht hilft jedoch ein Rückgriff auf den sachlichen Inhalt weiter. Die potestas-Lehre ändert in der Sache nichts, was nicht schon ehedem bestand und praktiziert wurde. Die Neuheit der potestas-Lehre besteht vielmehr allein in einem veränderten Reflexionszustand, welcher das Geschehen begrifflich erfaßte und darstellte. Hinzu kommt, daß der Begriff der Jurisdiktion ein prozeßrechtlicher und verfassungsrechtlicher ist, keine materiale theologische oder juristische Form, sondern eine Verfahrensweise und

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Kompetenzbeziehung. Das Mißverständnis darüber ähnelt etwas den Schwierigkeiten, welche sich im reformatorischen Bereich bei der Auslegung des Begriffes „Rechtfertigung” gezeigt haben, der ebenfalls ein prozessualer ist. Daher beschreibt die potestas-Lehre das, was geschieht und immer notwendig geschehen ist und geschehen muß, nämlich die Entscheidung in Bezug auf den ordo: genau das, was noch sehr viel später Böhmer schlicht in dem Satze ausdrückt, die Ordination als Ganzes bestehe in „Wahl und Weihe”. Der Jurisdiktionsbegriff kann schwerlich als eine theoretische Neuschöpfung angesehen werden; er ist auf einer bestimmten Ebene von der Sache her gebildet und verbreitet worden, wie ja auch der ordo-Begriff aus einer sehr viel älteren Tradition, nicht aus einer bestimmten, einzeln nachzuweisenden theologischen Theorie stammt.

Die frühere Deutung spiegelt sich noch bei Mörsdorf ab. So sagt er, die Dualität kirchlichen Handelns habe von Anfang an bestanden. Jedoch habe ihr Ineinander erst dann zu einem ernsten Verfassungsproblem geführt, „als sich in den Reihen der Ordinierten persönliches Versagen zeigte”. Man sei daher zu einer begrifflichen Trennung von Amtsbefugnis und Weihgewalt gekommen3.

Der unhistorische Charakter dieser Deutung liegt auf der Hand. Die Kirche brauchte nicht ein Jahrtausend zu existieren, um die Erfahrung des Versagens von Amtsträgern zu machen. Wie schon Sohm im „Decretum Gratiani”4 ausführlich dargelegt hat, hat die Alte Kirche die Amtsentsetzung unwürdiger Kleriker folgerichtig im Rahmen ihrer Gesamtanschauung, auf dem Boden ihrer Pneumatologie geklärt, jener Konzeption, welche ich zur Vermeidung von Mißverständnissen5 als „epikletisches” Kirchenrecht zu bezeichnen vorgeschlagen habe. Die Alte Kiriche ging von der Anschauung aus, daß die Bischofswahl (durch Klerus und Volk) ein pneumatischer Akt unter dem Beistand des Heiligen Geistes sei. Unter dieser Voraussetzung wurde dann sakramental ordiniert. Versagt der Amtsträger, trat seine Unwürdigkeit hervor, so schloß man, daß diese Wahl keine echte Geistentscheidung gewesen, daher alles darauf aufgebaute ordinatorische Handeln nichtig gewesen sei. Aufgrund dieser Rechtsanschauung wurde im Wege der liturgischen Deposition nach dem Gesetz der liturgischen Umkehrung der Betreffende in Person entamtet. Sohm hat dies insbesondere anhand der makabren Totensynode von 897 aufweisen können. Die absolute Ordination dagegen löste diesen Zusammenhang von Wahl und Weihe. Sie ermöglichte die Entamtung, ohne daß der Charakter (das „Mal”) verlorenging. Iurisdictio und ordo wurden getrennt. Trägt Mörsdorf jetzt die differenzierte Anschauung von der Kirchengewalt als die Lösung eines neu auftretenden Problems vor, so entgeht er freilich damit der Notwendigkeit, eine echte strukturelle Veränderung der kirchenrechtlichen Konzeption, also einen geschichtlichen Wandel anzuerkennen. Er kann diese Lösung immer noch als eine nicht grundsätzlich neue, sondern als eine nur pragmatisch angezeigte vorführen. Er kann, ohne die Fakten zu leugnen, der Problematik der Geschichte entgehen.

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Mit der veränderten Interpretation des Hergangs hat die lateinische Kanonistik nunmehr begonnen, sich der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes zu stellen.

Je länger man jedoch den Quellen und dem Verlauf der Begriffsentwicklung nachgeht, desto komplizierter und vielschichtiger wird das Bild. Ich kann nicht in Anspruch nehmen, eine verläßliche Deutung des Weges darzubieten, sondern beschränke mich darauf, eine Reihe wesentlicher und bereits profilierter Aussagen vorzuführen. Wenn nicht die Wurzel, so ist doch das Gewächs beschreibbar, und für dieses Werk genügt es, den Fortgang bis in die Verwicklungen und Wandlungen der Gegenwart darzustellen.

Eine explizite und durchgeführte Lehre findet sich auf alle Fälle in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Thomas hat die von den Glossatoren und Postglossatoren dargebotenen Begriffe aufgenommen und systematisch zusammengefügt. So entstand die seither tradierte klassische Lehre von der Unterscheidung der potestas iurisdictionis et ordinis. Dies ist der terminus a quo, von dem Tradition und Reflexion nachweisbar ausgehen. Hier heißt es:

„Spiritualis potestas, una quidem sacramentalis, alia iurisdictionalis. Sacramentalis quidem potestas est quae per aliquam consecrationem confertur ... et talis potestas secundum suam essentiam remanet in homine qui per consecrationem eam est adeptus, quamdiu vivit sive in schisma sive in haeresim labatur ... Potestas autem iurisdictionalis est quae ex simplici iniunctione hominis confertur et talis potestas non immobiliter adhaeret. Unde in schismaticis et haereticis non manet.”6

Eine zweite markante Lehrbildung über den gleichen Gegenstand findet sich dann im Katechismus Romanus des 16. Jahrhunderts, wo es heißt:

„,Quotuplex sit potestas ecclesiastica. Ea autem duplex est: ordinis et iurisdictionis. Ordinis potestas ad verum Christi Domini corpus in sacrosancta eucharistia refertur. Iurisdictionis vero potestas tota in Christi corpore mystico versatur. Ad eam enim spectat, Christianum populum gubernare et moderari, et ad aeternam caelestemque beatitudinem dirigere.’ Zur potestas ordinis gehört nach dem Catechismus a.a.O. quaestio VII. auch die Vorbereitung und Ausbildung der Menschen zum Empfange der Eucharistie: ,Ordinis potestas non solum consecrandae eucharistiae vim et potestatem continet, sed ad eam accipiendam hominum animos praeparat et idoneos reddit, ceteraque omnia complectitur, quae ad eucharistiam quovis modo referri possunt’, d.i. das Verwalten der sonstigen Sakramente und Sakramentalia und des Wortes.”7

Sodann verwendet der CIC von 1917 an allen geeigneten Stellen die Begrifflichkeit dieser Lehre, insbesondere also die Unterscheidung von Jurisdiktion und Ordo. Eine so signifikante Sammlung wie der Denzinger8 enthält nicht mehr von dieser Lehre als durch die Begrifflichkeit des geltenden Codex bedingt ist.

Schließlich hat die Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils überraschend, wenn auch nicht ohne eine längere theologische Vorgeschichte, die

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Lehre von der drei munera Christi in der Übertragung auf das Amt der Kirche auf die Kirchengewalt angewendet und vorangestellt. Die Texte, einschließlich der hierfür wichtigen nota explicativa praevia, lassen dabei erkennen, daß mit diesem Übergang die Kategorien der iurisdictio und des ordo nicht aufgehoben oder ausgeschlossen, sondern in einen neuen Interpretationshorizont gestellt werden, damit allerdings ihren primären Stellenwert verlieren. Auf alle Fälle hat diese Entscheidung des Konzils dazu geführt, daß in den Entwurfen der Lex Ecclesiae Fundamentalis die „vetus partitio” verbal nicht mehr vorkommt.

Aus diesen Daten ist der Stellenwert der Lehre zu entnehmen. Eine sich anbietende und abzeichnende begriffliche Erfassung der Kirchengewalt ist bei Thomas in eine theologische Form gebracht worden, die bis in die Gegenwart anerkannt und verwendet worden ist, ohne daß ihr jedoch die verpflichtende Kraft eines Dogmas verliehen worden ist. Diese tatsächliche Übernahme ist also auch keine Rezeption mit lehrmäßiger Verbindlichkeit. Die Lehre ist ein theologoumenon, ein Interpretament kirchlicher Struktur und kirchlichen Handelns, geblieben. Interpretativ ist auch die Aufnahme in den Katechismus. Hier geht es um eine Verstehenshilfe für jeden Christen, für die kirchliche Gesamtheit, die selbst als Träger dieser Gewalt nicht in Betracht kommt, sondern ihr im Gegenteil unterworfen ist. Der Adressat ist ein anderer als in der Summa. Dies entspricht der Tendenz zur Ausdehnung dogmatischere Belehrung, welche im konfessionellen Zeitalter oft Bedürfnis und Verstehensfähigkeit der Adressaten überfordert hat. War die Übernahme in den Codex durch dessen systematischen Charakter bedingt, so wohnt dem zugleich in gewissem Grade das Element der Lehrhaftigkeit inne, welches den großen Kodifikationen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts anhaftet — eine Mischung von Aufklärung und Professorenwesen.

Die theologische Lehre von der Kirchengewalt ist im Bereich der lateinischen Kanonistik seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in Bewegung geraten. Die systematischen Darstellungen des kanonischen Rechts nehmen eine von der des 18. Jahrhunderts sich einigermaßen abhebende Form an. Probleme werden in einer Weise abgehandelt, die unserem Wissenschaftsverständnis ungleich mehr entsprechen. In der Sache sind es jedoch nicht die Fragen, die sich aus der Zweigliederung der Kirchengewalt als solcher und für sich allein betrachtet ergeben. Vielmehr macht sich das legitime Bedürfnis der katholischen Doktrin bemerkbar, in diese Konzeption auch das Lehramt der Kirche (potestas magisterii) sinngemäß einzuordnen.

Der zunächst gemachte Versuch, das Lehramt der potestas ordinis zuzuschlagen, rief Ablehnung hervor und geriet im eigenen Bereich in verständliche Schwierigkeiten. Denn der katholische Begriff der potestas magisterii hat unverkennbare imperative Züge. Der gläubige Katholik ist de jure verpflichtet, diejenigen Glaubenssätze anzunehmen, welche — wie es eigentümlich und für den evangelischen Christen schwer vollziehbar heißt — ihm durch das Lehramt vorgelegt werden („proponuntur”)9.

Diese grundlegende Verpflichtung zum Glaubensgehorsam ist mit jener

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Verlagerung der Lehrgewalt in den Bereich des potestas ordinis strukturell nicht oder nur schwer vereinbar. Denn die Verwaltung der sakramentalen „Gnadenmittel”, diese spezifische Verrichtung des ordo, hat eben nicht fordernden sondern gebenden Charakter10.

Aufgrund dieser systemimmanenten Spannungen ist daher nicht nur diese Konzeption im katholischen Bereich mit Recht angegriffen worden. Da sich die potestas magisterii keiner der beiden Gewalten als ganze schlüssig zuordnen zu lassen schien, haben dann eine Reiche von Autoren (Phillips, Walter, auch der Systematiker Matthias Scheeben) diesen Begriffsschwierigkeiten ein Ende zu bereiten versucht, indem sie das Schema der traditionellen Zweigliedrigkeit sprengten und eine dreigliedrige Kirchengewalt in Gestalt der Lehre von den drei munera Christi entwickelten11.

Von diesen vier objektiven Eckpunkten der Entwicklung — Thomas, Katechismus, Codex und II. Vaticanum — kann man die allgemeine Lehrentwicklung betrachten, aber auch unterscheiden. Stickler gibt eine besorgt-kritische Zusammenfassung, wenn er sagt:

„Wir sagten ... schon oben, daß man erst im 12. Jahrhundert die einzelnen ,Gewalten’ zu unterscheiden vermochte, nämlich die Weihe- und Regierungsgewalt. Die Gewalt der Wortverkündigung hat heute noch ein prekläres (!) Leben als autonome Prärogative, weil sie, obwohl immer noch gerne als ein Glied der beliebten (!) Dreiteilung nach dem Lehramt, Priesteramt, Hirtenamt von Christus als Lehrer, Hoherpriester und König angesehen, logischer (!) doch zur Regierungsgewalt gerechnet wird. Vielleicht ist die Unterscheidung des 12. Jahrhunderts der reflexiven Unkenntnis des vorausgegangenen Jahrtausends gegenüber insofern kein Fortschritt, als auch sie ... zu einer Trennung und Zerreißung führte. ... So wurde die frühere Unwissenheit der Sache mehr gerecht als das spätere Wissen. Darin besteht nun die Aufgabe der Wissenschaft von heute und von morgen: die gegenwärtige, zur Trennung gewordene Unterscheidung zur Einheit zurückzuführen und in der einen Gewalt nur drei Funktionen zu sehen.”12

Unbestritten ist für ihn, wie an anderer Stelle für Mörsdorf, offenbar die negativ beurteilte trennende Wirkung der dualen Anschauung, durch welche die Scheidung beider Seiten der Kirchengewalt zu einem gespaltenen Kirchenbegriff führte. Stickler belegt sie nicht, Mörsdorf betont sie mit Besorgnis, wenn er sagt:

„In dieser Richtung wies bereits der im Auftrage des Tridentinums herausgegebene Catechismus Romanus, der in Aufnahme von Gedanken der mittelalterlichen Theologie die Unterscheidung der beiden Gewalten dahin bestimmt, daß sich die Weihegewalt auf den wirklichen Leib des Herrn in der allerheiligsten Eucharistie beziehe, die Hirtengewalt aber sich ganz im mystischen Leibe des Herrn bewege. In Erweiterung dieses Unterscheidungsprinzips sieht man die Weihegewalt tätig werden beim Spenden der Sakramente und der Sakramentalien und bei der Ausübung anderer liturgischer Dienste und weist der Hirtengewalt die Aufgabe zu, die äußere

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Ordnung der Kirche zu sichern. ... Wenn dabei auch anerkannt wird, daß das Regieren mittelbar im Dienste der Heiligung des Gottesvolkes steht, so wird mit dieser Art des Unterscheidens doch ein bedenklicher Gegensatz zwischen Sakrament und Recht aufgerissen, der den Zugang zur Wesensschau der Kirche weitgehend versperrt hat. Man sieht das pneumatische Element verdrängt durch das rechtliche und spielt die Liebeskirche aus gegen die Rechtskirche.”13

Bertrams wie andere sehen dieses Verhältnis der Handlungsbereiche in der umgekehrten Verbindung von potestas iurisdictionis und potestas magisterii für schlüssig gelöst. Er sagt:

„Die Unterscheidung der Kirchengewalt in Weihegewalt und Hirtengewalt (die die Lehr- und Leitungsgewalt umfaßt)”14 die bei weitem allgemeinere Auffassung vermag tatsächlich „die ganze hierarchische Tätigkeit der Natur der Kirche entsprechend am einfachsten zu erklären: Die der Kirche anvertraute Gewalt Christi wirkt als Lebensprinzip, indem sie das Leben Christi schenkt; unter dieser Rücksicht macht diese Gewalt die Weihegewalt aus. Diese Gewalt wirkt dann weiter als dynamisches Prinzip, insofern die Entfaltung des übernatürlichen Lebens der Gläubigen zu ordnen und zu leiten ist, damit der Leib Christi, den die Kirche bildet, auferbaut werde. Unter dieser Rücksicht macht diese Gewalt die Hirtengewalt aus, die Lehr- und Leitungsgewalt umfaßt. Durch die Ausübung dieser Gewalt wird Christi Wort verkündet, damit es als geoffenbarte Wahrheit im Glauben angenommen werde, beziehungsweise als Christi Gebot verbindliche Norm sei für die Gestaltung des Lebens der Gläubigen. Lehramt und Leitungsamt haben demnach dies gemeinsam, daß die Lehre des Herrn in bezug auf die zu glaubenden Wahrheiten und die für das christliche Leben bestehenden Normen überliefert, erklärt und angewandt wird.” (10, Anm. 5)

Problematischer sieht Mörsdorf den Tatbestand, wenn er — im Endergebnis jene dominierende Lehre bejahend, sagt:

„Die Lehrgewalt ist nicht formal, sondern gegenständlich bestimmt; sie ist eine Größe eigener Art, insofern sie als authentische Lehrvermittlung und Lehrfeststellung an sich ohne Lehrgesetzgebung möglich ist, und hat als solche einen inneren Bezug zu dem Spendungscharakter der Weihegewalt; sie kann jedoch als Gewalt der Kirche nur dadurch begriffen werden, daß die authentisch festgestellte Lehre für die Kirchenglieder rechtlich bindend ist. Sie gehört daher in formaler Sicht zur Hirtengewalt und erweist gerade in ihrer Eigenart des auf innere Überzeugung angelegten und zugleich autoritativen Lehrens den geistlichen Charakter der kirchlichen Hirtengewalt.”15

Vordersatz und Schlußfolgerung in dieser Problembeschreibung durch Mörsdorf widersprechen sich. Der Vordersatz verweist auf einen strukturellen Zusammenhang mit der potestas ordinis. Der Nachsatz verweist auf Inhalte und Wesenszüge, welche in den Bereich der potestas iurisdictionis führen. Wenn er gleichwohl die ganze potestas magisterii wegen der rechtlichen Verbindlichkeit

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in den Bereich der Jurisdiktion verweist, so scheidet er damit, entgegen seiner später zu erörternden Gesamtintention, die sakramentale Kirche von der Rechtskirche und desavouiert zugleich seinen eigenen Versuch, auch das Sakrament rechtlich und kirchenrechtlich zu begründen und zu interpretieren.

Wie sich dabei ein gespaltener Kirchenbegriff begrifflich ausdifferenziert, ist gegenüber der Spaltung als solcher relativ unwichtig. Wenn auch die strenge Unbedingtheit des katholischen Kirchenverständnisses, einschließlich der rechtlich erzwingbaren Disziplin, als ein eisernes Band die spaltenden Kräfte bis in die Moderne zusammengehalten hat, so sehen doch offenbar beide Autoren diese Tendenz als ein ständig gefährliches Gefälle, als nicht grundsätzlich überwindbar an.

Das umfangreiche Entscheidungsmaterial des Corpus Iuris Canonici enthält kaum markante Spuren der zweigliedrigen Doktrin als solcher. Wie bisher wird durch alle Jahrhunderte Jurisdiktion ausgeübt und gelegentlich als solche bezeichnet. Ebenso wird im Rahmen des Sakramentenrechts über Ordinationsfragen entschieden. Ein systematisches Interesse an der Verbindung beider potestates oder auch nur ihre Benennung fehlt. Diese Selbstverständlichkeit ist genau so groß, wie wir sie im ersten Jahrtausend vorfinden. Andererseits ist die allgemeine Verbreitung und Anwendung der von Thomas ausgegangenen Theorie unbestritten.

 

2. Die potestas-Lehre in den Alten und Orientalischen Kirche

Die katholischen Autoren behandeln den Kontext außerkatholischer Quellen und Doktrinen zur potestas-Lehre mit souveräner Nichtachtung. Tatsächlich beansprucht jedoch der orthodoxe Bischof Milasch von Zara in seinem umfangreichen systematischen Kirchenrechtswerk16 für die Orthodoxie auf Grund altkirchlicher Quellen eine explizite Lehre von der Kirchengewalt. Sie ist in den Kapiteln 54 bis 58 seines Werkes mindestens ebenso ausführlich abgehandelt wie bei vergleichbaren wissenschaftlichen Werken der lateinischen Kanonistik, insbesondere in Kapitel 58 unter dem Titel „Von den Zweigen der Kirchengewalt”. Er behauptet, daß die Kirchengewalt, recht verstanden, eine dreigliedrige Form gehabt habe und haben müsse. Diese gesunde Lehre sei erst 1822 von dem katholischen Kanonisten Ferdinand Walter erfreulicherweise wieder übernommen worden.

Milasch stützt seine These — neben im historischen Zusammenhang nicht relevanten Schriftstellen — auf Canones verschiedener altkirchlicher Konzile, von Ancyra 314 bis zum Quinisextum 692, ebenso auf eine Anzahl in der Ostkirche rezipierter kanonistischer Lehrtexte mit den Canones Apostolorum an der Spitze. Was sich indessen aus diesen Quellenstellen ergibt, ist lediglich das Vorhandensein gewisser Begriffe im Bereich des kirchlichen Rechtshandelns, die sich als Merkmale einer Reflexion verzeichnen lassen. Es handelt sich jedoch überall um Einzelbegriffe und Einzelaussagen. Sie sind nirgends erkennbar

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zusammengefaßt, zu einem gedanklichen System oder Entwurf verarbeitet worden, der einen Vergleich mit der Lehre des Thomas aushielte. Die orthodoxen Kanonistik ist also nicht so unreflektiert, wie die genannten Autoren und wohl allgemein die Lehrmeinung der katholischen Kanonistik annehmen, enthält aber gewiß gerade das nicht, was Milasch für sie in Anspruch nimmt. Wenn Milasch bei seinem katholischen Gewährsmann Ferdinand Walter eine angebliche altkirchliche Lehre wiederzufinden meint, so handelt es sich bei diesem gewiß nicht um eine Rezeption solcher Traditionen; dafür bietet auch sein Text keinen Anhalt.

Die patristischen Quellen enthalten sowohl duale Aussagen im Sinne der potestas — als auch triadische im Sinne der munera-Lehre. Aber eine durchgehende Lehraussage enthalten weder die einen noch die anderen. Es kann daher keine Rede davon sein, aufgrund der patristischen Tradition die potestas-Lehre zu korrigieren. Was sich aber durchgehalten hat, ist die tatsächliche, immer wieder in die Augen springende Dualität von Wahl und Weihe bei einem so wichtigen Vorgang wie die Amtsbestellung. Nicht die theologische Anschauung, sondern der liturgische Vollzug war bestimmend, zumal Lehre und Verkündigung in ihrer Vielfalt keine so bündige Form besaßen.17

Sehr zu Recht stellt der inhaltsreiche Artikel von Mejer und Sehling in der Realenzyklopädie18 fest, daß die Alte Kirche als Elemente der Kirchengewalt nicht mehr als Weihe und Jurisdiktion gehabt habe und gewiß kein System. Was Milasch vorträgt, entspringt deutlich dem Wunsch, sich von der (mittelalterlichen und modernen) lateinischen Doktrin abzuheben, damit aber zugleich eine Überlegenheit der altkirchlich-orthodoxen Tradition unter Beweis zu stellen.

In der orthodoxen Literatur ist Milasch gelegentlich der Vorwurf gemacht worden, daß er latinisiere. Solche Vorwürfe werden in der Ostkirche gern und leicht dort erhoben, wo Grundsätze der eigenen Kirche mit systematischer Folgerichtigkeit vertreten werden. An der Grenze zwischen Ost- und Westkirche lebend, offenkundig in der Konfrontation und Konkurrenz mit der theoretisch weit durchgebildeten lateinischen Kanonisitik stehend, hat Milasch nirgends erkennbar die orthodoxe Tradition inhaltlich verändert, sie aber doch stärker systematisiert als seine Fachgenossen. Hier vollends hat er versucht, sich einmal sozusagen in die Vorhand zu bringen. Es bleibt also dabei, daß in der Alten Kirche das wesentliche Material der späteren Lehre, aber weder diese noch eine vergleichbare vorhanden gewesen ist.

Die Erwägungen, die gegen Milasch sprechen, sprechen in gewissen Umfange allerdings auch für ihn. Die orientalische Theologie und Kirchenrechtslehre hat sich immer gegen die exakten Begriffe der lateinischen Kanonistik gewehrt, die ihnen gegenüber den geistlichen Charakter der Kirche unangemessen erschienen. Dies trifft auch auf die Begriffe der potestas-Lehre zu. Während dieses gegeneinander exklusiv sind, sind die Begriffe der munera-Lehre gegeneinander transparent. Auf diese Weise entsteht in der Tat eine gewisse Näherung oder Affinität zur orientalischen Linie. Dieser Empfindung

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entspricht die Auffassung von Milasch, die er freilich zu Unrecht als positiv-historische These vertreten hat.

Was aber munera-Lehre und ostkirchliche Ekklesiologie noch näher aneinander führt, ist der triadische Charakter dieser Konzeption. Er kommt der Neigung zur Trinitätstheologie, aber auch zur meditativen und spekulativen Entfaltung dieser Theologie deutlich entgegen und ist ihm kongenial. In unserer Zeit hat Alivisatos sie mit begründungsloser Selbstverständlichkeit für die Ostkirche vorausgesetzt und vertreten.

 

3. Die Umbildung der potestas-Lehre in den reformatorischen Kirchen

Ebenso bemerkenswert wie die historische Grundlagen der potestas-Lehre in der Alten Kirche sind ihre Nachwirkungen in der Kirchenrechtslehre und Ekklesiologie der reformatorischen Kirchen. Wie der potestas-Lehre eine altkirchliche Entwicklung voranging, so folgte dieser Lehre nach der Kirchenspaltung in den reformatorischen Kirchen eine Weiterbildung. Dabei sind die lutherische und die reformierte Kirche gesondert zu betrachten. Denn unbeschadet ihrer Gemeinsamkeiten geht deren ekklesiologische und kirchenrechtliche Struktur in so hohem Maße auseinander, daß ihre Zusammenfassung unter dem Begriff des Protestantismus unzulänglich ist. Korrekt kann man nur von „gemeinreformatorischen” Positionen sprechen, unter Voraussetzung genauer Prüfung, da die Unterschiede bedeutender sind als oft angenommen.

Die lutherische Kirche hat merkwürdigerweise die potestas-Lehre im Gegensatz zu der nur tatsächlichen Anerkennung und Verwendung in der katholischen Kirche in Artikel XXVIII der Apologie zum Augsburgischen Bekenntnis ausdrücklich rezipiert19. Der traditionsfreundliche und auf klare Lehrbegriffe bedachte Melanchthon hat sie in den Artikel über die bischöfliche Gewalt aufgenommen und dies in den Begleittexten ausdrücklich verteidigt.

Sie wurde jedoch in einer für die implizierten Grundsatzfragen wichtigen Weise neu formuliert. Entsprechend ihrem Wortverständnis subsumierte die lutherische Kirche hier nicht nur die Verwaltung der Sakramente, sondern auch den gesamten Lehrbereich, die Verkündigung in jedem Sinne, unter die potestas ordinis. Auch die Leitungsgewalt — bisher selbstverständlich als potestas iurisdictionis verstanden — fiel auf die Seite der potestas ordinis, weil die Leitung wesentlich durch das Wort Gottes selbst „non vi sed verbo” zu geschehen habe, womit der Jurisdiktion der Charakter der vis und des Zwanges unterstellt wurde. So blieb für die potestas iurisdictionis allein die Disziplinargewalt des kleinen, medizinalen Kirchenbannes, die Exkommunikation und Rekonziliation übrig. In der Praxis hat sich diese Verteilung wohl im ganzen dahin richtiggestellt, daß die regiminalen Akte der Leitungsentscheidung unwillkürlich wenigsten im Sprachgebrauch dem üblichen und sachgemäßen Jurisdiktionsbegriff unterfielen, ohne dies aber dogmatisch auszudrücken.

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Man kann sie im Vergleich zu der bisherigen Verwendung auch noch differenzierter auslegen. Der Begriff des ordo (ecclesiasticus) ist hier nach Art. XIV als rezipiert vorausgesetzt. Nun kann man schließen: der Inhalt des ordo (episcopalis) ist die iurisdictio. Jurisdiktionelle Handlungen sind sicherlich die Beurteilung und ggf. Verwerfung von falscher Lehre, wie die retentio peccatorum und die excommunicatio, also die negative Seite der Schlüsselgewalt. Aber die zuwendende Seite des Amtes, die Ausrichtung des Wortes in beiderlei Gestalt verträgt sich schlecht mit der kritischen Tendenz des Jurisdiktionsbegriffs. Damit bekommt der ordo-Begriff zuwendenden, integrierenden, sakramentalen Charakter. Der Anlaß, über die Aussage des Art. XIV hinauszugehen, liegt wesentlich und unbestritten in der Schlüsselgewalt (potestas clavium). Hier geht es über den aufgegebenen Vollzug der Verkündigung und der Sakramente hinaus um einen direkten, konkret-individuellen Akt am einzelnen Menschen. Dann ist ordo nicht allein die implizierte Aufgabe und Fähigkeit, die pflichtmäßigen Verrichtungen personal und sachlich abzugrenzen und reinzuhalten, sondern eine spezielle exhibitive Kompetenz. Dieses dritte Sakrament hat sich in der Lehrtradition und Praxis bis zur Moderne wesentlich abgeschwächt und ist fast aus Übung und Bewußtsein gekommen. Diese Bedeutung der potestas ordinis kommt bei der Taufe wegen der Ketztertaufentscheidung, bei der Verkündigung wegen ihres offenen Charakters und beim Abendmahl — notwendig unter Getauften — nur bei der Verweigerung, also im Bereich der Schlüsselgewalt, in Betracht. Da die reformatorische Kirchenrechtslehre kein Instrumentarium theologisch reflektierter Begriffe kirchenrechtlichen Handelns entwickelt hat, wird der Jurisdiktionsbegriff nur im allgemeinen Sinne als terminus der Umgangssprache als Zuständigkeit für anstehende Entscheidungen verwendet, nicht des Amtes in actu.

Diese Fassung des Art. XXVIII CA mit der Zusammenfassung aller Verrichtungen des Amtes in Verkündigung und Sakramentsverwaltung hat einen geschichtlichen Hintergrund, der auch in der lutherischen Interpretation des Bekenntnisses nicht, mindestens nicht in seiner volle Tragweite und Ausdehnung, aufgehellt worden ist. Die katholische Kirche hatte bisher abgelehnt, dem Bischof eine eigene sakramentale Weihestufe zuzuerkennen. Dies hatte seinen guten Grund in der Berufung auf den Gottesdienst. Infolgedessen blieb die Frage offen, wie die sakramentale Handlungskompetenz, die über jurisdiktionelle Kompetenz zur Beurteilung des Weihekandidaten hinausging, im Gefüge der Kirche unterzubringen sei. Um diesen Widerspruch haben sich Theologie und Kanonistik lange bemüht.

„Schon im Mittelalter wurde der im eigentlichen Sinne sakramentale Charakter der Bischofsweihe vertreten, vor allem von den Kanonisten, weniger von den Theologen; ... Die Kanonisten von Huguccio (✝ 1210) an; die Theologen des Hochmittelalters waren fast alle gegen die Sakramentalität der Bischofsweihe. ... in den letzten Jahrzehnten haben auch die Theologen allgemein, mit nur wenigen Ausnahmen, diese Auffassung vertreten.”20

Die innere Folgerichtigkeit des liturgischen Rechts aber war stark genug, um

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den letzten Schritt der Anerkennung der Bischofsweihe als Sakrament zu verhindern21.

Man wollte nicht von Hieronymus abweichen, so etwa insbesondere ein großer eil der Teilnehmer des Konzils von Trient. Luther selbst hat die Schwierigkeiten und die Ungereimtheit der Lehre vom Bischofsamt ironisch verdeutlicht, wenn er sagte:

„Episcopalis auctoritas simul summa est, dum confert ordinem et Characterem sacerdotii, simul inferior, dum ipsa neque ordo est neque Characterem habet.”22

Manns erkennt die Berechtigung dieser Kritik ausdrücklich an. Luther hat nicht die jurisdiktionelle Überordnung der Bischöfe über die Priester, sondern nur das ius divinum dieses Vorrangs angegriffen23.

Hinter dieser Kontroverse aber stand nicht allein die Frage der hierarchischen Leitungsgewalt als solcher, wie uns heute selbstverständlich erscheint. Es ging vielmehr auch um eine spätmittelalterliche Vereinseitigung des Priesteramts in der Beschränkung auf sakramentale Verrichtungen, ein reines Bet- und Opfer-Priestertum. Während Lehramt und Predigtverpflichtung durch dieses verengte Amt in den Gemeinden vernachlässigt wurden, wurde in der traditionellen Sicht mit den bischöflichen Aufgaben der Kirchenleitung auch die Aufgabe des Lehramts verbunden. Das priesterliche Lehramt wurde nicht in der Weihe, sondern in der missio canonica durch den Bischof begründet. Auf diese Weise entstanden sich überkreuzende Gegensätze und Motive. Die Lutheraner wollten folgerichtig die Verengung des Priesteramts überwinden, Sakramentsverwaltung und Verkündigung im Gemeindedienst organisch verbinden. Sie vereinigten daher die bisher teils theoretisch, teils praktisch getrennten Aufgaben der Sakramentsverwaltung und der Lehre. Sie verbanden dieses Amt mit dem Bischofstitel nicht allein im Rückgriff auf den altkirchlichen Gemeindebischof, sondern auch durch die Einbeziehung der lehramtlichen Kompetenzen und Pflichten des Bischofs unter geschickter Verwendung der geschilderten Auslegung. Sie sprachen jedem Ordinierten die Ordinationsvollmacht zu, ohne jedoch diesem Bischofsamt eine übergemeindliche Verantwortung zuzusprechen und aufzuerlegen. Sie bekamen das Lehramt hinein und schlossen das Leitungsamt wieder aus.

Die Mehrheit des Trienter Konzils verwarf — unabhängig von Luthers Position — die Eigenständigkeit der Bischofsweihe. So sagt Krämer:

„Die Frage nach der Herleitung der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt blieb weiterhin offen. Diese Frage konnte gar nicht gelöst werden, weil mit ihr zugleich andere Fragen verbunden wurden, vor allem die Frage nach dem ,ius divinum’ des Bischofsamtes und nach der Residenzpflicht der Bischöfe. Die Mehrheit der Konzilsväter war sich wohl darin einig, daß das Bischofsamt zum Wesen der Kirche gehört; aber dies konnte noch sehr verschieden gedeutet werden, d.h. im Sinne einer unmittelbaren Abhängigkeit vom Papst oder von Christus. Im übrigen standen sich sehr erbittert zwei Gruppen gegenüber: die römische Schule unter der Leitung des Jesuitengenerals

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Laynez, der die Jurisdiktionsgewalt der Bischöfe allein vom Papst ableitete, und eine französisch-spanische Opposition, die eben dies leugnete. Um aber den Ausgang des Konzils nicht zu gefährden, einigte man sich darauf, die strittigen Fragen möglichst zu umgehen.”24

Auf alle Fälle was mit Art. XXVIII CA die Tradition der zweigliedrigen potestas-Lehre mit bemerkenswerter Bestimmtheit erhalten und verbindlich gemacht, auch kein Interesse ersichtlich, diese Lehre zu ergänzen oder umzubilden, am allerwenigsten in Richtung auf eine Dreigliedrigkeit. Diese Rezeption war vor allem von bekenntnisrechtlicher Qualität. Treten also im Schrifttum abweichende, außerhalb dieser Denkstruktur liegende Anschauungen auf, so widersprechen sie sowohl den verbindlichen Bekenntnisschriften als auch der Tradition. Ein eminentes theologisches Interesse lag für die lutherische Kirche speziell darin, die biblische Schlüsselgewalt als ein konstitutives Element des ministerium ecclesiasticum eindeutig festzuhalten, wie sie denn auch die Beichtabsolution als drittes Sakrament im großen Katechismus Luthers, als integrierenden Bestandteil des Corpus der Bekenntnisschriften, gelehrt und verteidigt hat25. Da allein hier eine Retention und Ausschließung — samt der entsprechenden Rekonziliation — in Betracht kam, mußte also, um die begriffliche erfassen zu könne, über den Begriff der potestas ordinis hinaus ein spezifischer Bestandteil der potestas iurisdictionis auch in der Theorie festgehalten werden, während die regiminalen Verrichtungen diesem Bereich entzogen wurden, indem sie — in der Form des Postulats — der Wortverkündigung zugeordnet wurden.

Die Tragweite dieser lutherischen Entwicklung wird durch die entgegengesetzte Fortschreibung des Problems in der reformierten Tradition noch deutlicher. So groß war auf alle Fälle das Gewicht der Tradition, daß beide Kirchen kein Bedenken trugen, den Begriff der potestas iurisdictionis zu übernehmen, die lutherische Kirche auch ohne Hierarchie den Begriff des ordo. Im reformierten Bereich ist von der klassischen Doppelgliederung aber nur die potestas iurisdictionis übriggeblieben. Der Begriff des ordo wurde völlig fallengelassen, dafür aber alle Verrichtungen des ordo, des geistlichen Amtes, unter den Begriff der Lehrgewalt gebracht. Dies schloß dann auch die Reste des Jurisdiktionsbegriffs ein, welche die lutherische Kirche bewahrt hatte. Ein anderes — nichtsakramentales -- Verständnis der Absolution legte dies nahe und erleichterte es. Der Kernbereich des geistlichen Amtes, die Tradition des abendländischen Gemeindepfarramts hat sich hier unter verändertem Titel sozusagen aus sich heraus durchgehalten. Eigenart und Eigenständigkeit des ministerium ecclesiasticum ist auch ohne ordo-Begriff bewahrt worden.

Die Lehrgewalt der pastores und doctores als personale Kompetenz umfaßt die gemeindlichen Verrichtungen, welche diesen Ämtern ohne konstitutive Mitwirkung des Presbyteriums zukommen. Neben dieser Lehrgewalt besteht jedoch eine besondere potestas iurisdictionis, welche vom Konsistorium der Theologen und Laien kollegial ausgeübt wird. Der traditionelle Begriff der Jurisdiktion tritt in einer scharfen Zuspitzung auf ihren regiminalen Charakter

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hervor. Hier ist zugleich der Quellpunkt für die Verfassungskonzeption des Calvinismus, der sich über die potestas-Lehre hinaus seither als presbyteral-synodal versteht. Presbyterat und Synode treffen sich im Gedanken der Kollegialität, welche bestimmt ist, alle herrschaftlichen Tendenzen und Versuchungen zentral verstandener personaler Ämter auszuschließen. Hier liegt der Ansatz und Ausdruck für den reformierten Horror gegenüber dem bischöflichen Amt, welches die Lutheraner ganz unbefangen im Regreß auf Schrift und Alte Kirche gelten ließen — wenn auch nur als eine Form des ministerium ecclesiasticum mit besonderer Kompetenz.

Wenn in der Genfer Tradition neben diesen beiden potestates magisterii et iurisdicitonis noch eine Kompetenz der Gesetzgebung (leges ferendae) für den weltlichen Magistrat in einem theokratisch verstandenen Gemeinwesen vorgesehen ist26, so ist dies eine Sonderbildung, die anderwärts regelmäßig fehlt. Die im Verhältnis Staat-Kirche vollends anders orientierte Form des Zwinglianismus braucht in unserem Zusammenhange nicht erörtert zu werden.

Die reformierte potestas-Lehre ist weder deckungsgleich mit dem vielerörterten Vier-Ämter-Schema des Calvinismus, welches in gewissen Gebieten auf ein Zwei-Ämter-Schema (geistliches Amt und Presbyterat) beschränkt ist — noch stößt es sich mit ihm. Gewisse episkopale Elemente, die dort auftreten, sind Anpassungen oder Entlehnungen27.

Nicht ist bisher beachtet worden, daß die reformatorische Fortschreibung der potestas-Lehre weder zufällig noch original ist. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich nämlich, daß die Lehre in beiden Konfessionen in einer Art Antithese vorkommt. In der lutherischen Kirche konzentriert sich die potestas mit der sehr begrenzten Ausnahem der iurisdictio als Schlüsselgewalt völlig auf die des ordo. Die begriffliche Zweiteilung im Sinne der Tradition wird von allen den Kirchen festgehalten, die einen sakramentalen Realismus vertreten, Orthodoxie, Anglikaner, lateinische Katholiken und Lutheraner — so unterschiedlich die dogmatische Tradition auf diesem Felde sein mag. Der Calvinismus dagegen setzt an die Stelle des exhibitiven ordo (katholisch wie lutherisch) die verkündende und interpretative Lehrgewalt. Im Gegensatz zur lutherischen Gleichsetzung von Wortverwaltung und Leitung bildet der Calvinismus mit betontem Interesse eine Folge — fast eine Stufung — von Lehrgewalt und Jurisdiktion, letztere mit der Zuspitzung auf regimen und gubernatio, aus. Dabei ist die materiale Interpretation auf beiden Seiten in sehr viel höherem Grade verschieden, als die Identität der Verrichtungen des traditionellen Amtes erkennen läßt. Neben der mehr rudimentären Zweiteilung auf der lutherischen Seite entsteht im Calvinismus eine sehr deutliche Dualität zwischen personalem Lehramt und kollegialer iurisdictio, die in Richtung auf die übergemeindliche gubernatio ausgezogen ist. Im ganzen bestätigt sich, daß die beiden reformatorischen Konfessionen gerade auch hier charakteristisch auseinandertreten.

Seither ist die Behandlung dieser Frage praktisch zum Erliegen gekommen. Die dargestellten Positionen erscheinen mehr als historische, denen gegenüber

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allgemeinere Erwägungen über den Begriff der Kirchengewalt Platz greifen konnten. Der strukturelle Stellenwert der reformatorischen Aussagen ist gegenüber historisch-positiven Darstellungen niemals herausgearbeitet worden.

Deutlich ist nach allem, daß die beschriebene reformatorische Formation und Gliederung der Kirchengewalt mit der munera-Lehre nichts zu tun hat, keinen Anhalt oder Anlaß für den Übergang in diese Fassung des potestas-Begriffs geboten hat.

Über die Entstehung der Lehre von den drei Ämtern Jesu Christi hat Ludwig Hoedl eine Studie vorgelegt. Dort findet sich insbesondere eine Zusammenstellung der Quellenstellen in der patristischen und scholastischen Literatur, auf welche sich das II. Vatikanische Konzil berufen hat und welche Hoedl selbst noch erweitert. Er gibt folgende Entstehungsgeschichte:

„Die Lehre von den drei Ämtern Christi hat in der reformatorischen Theologie Ansehen und Bedeutung erlangt. Deren Urheber war aber nicht Luther. Er handelte lediglich vom Königtum und Priestertum Christi. ,Die Dreizahl scheint auf Andreas Osiander zurückzugehen. ... Allgemeine Anerkennung hat die Dreizahl der Ämter Christi durch Calvin errungen, der seit 1536 im Genfer Katechismus und in den verschiedenen Fassungen seiner Institutio christianae religionis die Dreiämterlehre verwendet hat. Von ihm hat anscheinend sowohl die reformierte als auch die spätere lutherische Orthodoxie die Dreiämterlehre übernommen.’ ,Die Auffassung, daß im Titel Christus drei Ämter zusammengefaßt sind — das des Priesters, des Königs und des Propheten —, ist gelegentlich schon bei den Kirchenvätern belegt, tritt dort aber nicht sehr häufig auf, und sie gewinnt in der alten Kirche keine Bedeutung für die christologische Systematik. Ähnliches ist von der Scholastik des Mittelalters zu sagen’. Das konziliare Schema über die Kirche merkte zu den entsprechenden Ausführungen über das dreifache Amt Christi die Fundstellen aus der alten und mittelalterlichen Theologie an.”28

Dazu bemerkt er unter Verweisung auf weitere eigen Studien:

„Aussageform, Deutekraft und Bedeutung des Ternars werden in der katholischen und evangelischen Theologie sehr unterschiedlich beurteilt. Kein Theologe der Gegenwart und Vergangenheit hat den Begriffsternar so umsichtig und weittragend verwendet wie K. Barth im 4. Band der Dogmatik, in der Lehre von der Versöhnung. Demgegenüber ist auch die Kritik W. Pannenbergs am Ternar nicht durchschlagend, und die Verwendung desselben in der katholischen Theologie nicht überzeugend.”29

P. Krämer nennt neben Calvin Buzer30.

Die Lehre ist also keinesfalls genuin reformatorisch, jedoch in der reformatorischen Theologie thematisch rezipiert, und zwar primär im calvinischen, sekundär im lutherischen Bereich.

Hoedl, der in seinen Schlußthesen dem sog. Ternar hohe Bedeutung zuschreibt, stellt jedoch in seiner Betrachtung die kirchenrechtliche Bedeutung und Eignung beiseite. Trotz der von Hoedl geschilderten Ausbildung der munera-Lehre im reformatorischen Bereich hat diese Konzeption in keiner Weise

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auf die potestas-Lehre eingewirkt. Man hat beides auf ganz verschiedene Zusammenhänge verrechnet.

 

4. Zur Lehre von der Kirchengewalt nach dem II. Vatikanischen Konzil

Das II. Vatikanische Konzil hatte die Aufgabe, die nach dem I. Vaticanum ausstehende Lehre von der Kirche dogmatisch zu formulieren. Dies ist in der Konstitution über die Kirche (Lumen Gentium) geschehen, welche im Kontext der vielberufenen „Nota explicativa praevia” auszulegen ist. Ich lege neben dem Konzilstext die Kommentierung zugrunde, die im Lexikon für Theologie und Kirche31 unter amtlichen Autorisation von namhaften katholischen Theologen gegeben worden ist.

Die Aussage in „Lumen Gentium” bringt in der Lehre von der Kirchengewalt eine überraschende Wende. Das Konzil hat nunmehr die Lehre von den drei munera nicht nur übernommen, sondern sogar an die Spitze gestellt — expressis verbis in Ziff. 21 der Konstitution.

Zur Sacra potestas-Lehre des II. Vatikanischen Konzils32 hat Peter Krämer in seiner Untersuchung über „Dienst und Vollmacht in der Kirche” aus den Akten des Konzils nachgewiesen, daß in der Vorbereitungsphase von vielen Seiten der Wunsch geäußert worden ist, es möge das Verhältnis zwischen potestas iurisdictionis und potestas ordinis geklärt werden. An diesen Stimmen ist vieles interessant. An keiner Stelle sind konkrete Vorstellungen und Vorschläge sichtbar. Man wendet sich weder gegen Auslegungen, die als falsch oder unzulänglich empfunden werden, noch werden bestimmte Auffassungen vertreten. Es gibt auch nicht etwa eine Faustregel des Verständnisses, welche durch eine bessere Lehre ersetzt werden soll. Vielmehr muß man zu dem Schluß kommen, daß seit ihrer Formulierung im 13. Jahrhundert diese Lehre in reinster Juxtaposition ohne eine materiale Klärung der positiven Beziehungen ihrer Elemente tradiert worden ist. Als einzige Insel in diesem Vakuum steht in den Vorbereitungsakten ein Hinweis, das Übergewicht des jurisdiktionellen Moments über das sakramentale bedeute eine Schwierigkeit im Verhältnis zur Ostkirche. Das ist eine altbekannte Beschwerde. Es geht hier mehr um eine Verschiebung des Schwerpunktes als um eine begriffliche Klärung.

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die langdauernden wissenschaftlichen Bemühungen um die Einordnung der potestas magisterii in das Zweierschema jene Stimmen motiviert haben, die aus dem Bereich des Kirchenregiments kommen. Jeder Hinweis darauf fehlt.

Eine zweite auffällige Erscheinung ist die Tatsache, daß — wie Krämer zeigt — im Verlauf der Konzilsberatungen ohne einen direkten Diskussionszusammenhang, ohne Motivation oder Appell, sich schrittweise, geradezu lautlos die munera-Lehre an die Stelle der potestas-Lehre gesetzt hat. Ohne Streit oder Begründung hat das eine das andere verdrängt. Objektiv erleichtert ist dieser

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Prozeß freilich dadurch, daß in der munera-Lehre im munus regendi und wie im munus sanctificandi die materialen Gehalte der bisherigen potestas iurisdictionis und potestas ordinis enthalten und aufbewahrt sind. Aber die traditionellen Begriffe sind vollständig verschwunden und nunmehr extra usum, wenn auch nirgends expressis verbis negiert.

Als Ergebnis des oben geschilderten Verlaufs stellt Krämer fest:

2. Die Zwei-Gewalten-Lehre finden in den Konzilstexten keine ausdrückliche Darstellung. Die Entwicklung verläuft jedoch so, daß diese Lehre anfangs fraglos übernommen, dann aber von Schema zu Schema mehr und mehr zurückgedrängt wurde.
3. Demgegenüber wird das Drei-Ämter-Schema sehr häufig herangezogen, um den gegenständlichen Bereich darzustellen, in welchem die „sacra potestas” wirksam wird. Die Entwicklung verläuft aber hier gerade umgekehrt. Nach anfänglichem Zögern wird dieses Schema mehr und mehr herangezogen, bis es endlich zu einem einheitlichen Einteilungsprinzip verschiedener Konzilstexte wird.33

Jedoch erörtert er nach der Darstellung dieses Entwicklungsganges die Lehren von Mörsdorf und Bertrams über die zweigliedrige potestas-Lehre. Das Konzil, das die zweigliederige Lehre wie beschrieben zurückgedrängt hat, habe eine Vermischung mit der Zweigewaltenlehre bewußt vermieden (?) bis zu der Aussage, daß das Konzil die im Schema von 1963 vorfindliche Dreiteilung der heiligen Gewalt aufgegeben habe. Während bisher die zweigliedrige und die dreigliedrige Konzeption immer als Alternativen verstanden worden sind und auch in den Ausführungen von Krämer nicht anders zu verstehen sind, erscheinen jetzt die munera als inhaltliche Bereiche, die potestates aber als verschiedene Vollmachten, „die in je eigener Weise auf die drei Ämter als ihren gegenständlichen Wirkungskreis bezogen sind” (80). Auf diese Weise erneuern sich dann für die zweigliedrige Lehre die ganzen, von den einzelnen Autoren behandelten Probleme. Bertrams dagegen behandelt potestas und munus als identisch, so daß tatsächlich die zweigliedrige durch die dreigliedrige Lehre ersetzt worden ist. Aber Krämer stellt fest, daß bei Bertrams die bisher der potestas-Lehre zugeschriebenen Wirkung der Entgegensetzung von äußerer und sakramentaler Kirche zurückkomme. Nunmehr werden wieder Lehre und Leitung der Jurisdiktion, die Heiligung dem ordo zugewiesen.

In den Zusammenfassungen erneuert Krämer noch einmal gegen Bertrams und Mörsdorf die Auffassung, die beiden potestates der klassischen Lehre seien korrelative Aspekte der einen geistlichen Vollmacht, deren Einheit auch dem Drei-Ämter-Schema vorgegeben sei, wenngleich sie in dessen Einzelbereichen zur Entfaltung kämen (115).

Ein Großteil der vorgetragenen Erwägungen ist für die Hauptfrage nach dem Verhältnis beider Konzeptionen ohne spezifische Bedeutung. Zu verstehen ist diese Aussage nur so, daß potestas-Lehre Strukturen, die munera-Lehre

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Inhalte oder Wirkungsbereiche meine. Dem widerspricht jedoch, daß mit den potestates bisher immer bestimmte Bereiche verbunden gewesen sind, sie ohne diese gar nicht gedacht werden können. Da aber in dieses Gefüge die potestas magisterii nicht schlüssig eingeordnet werden konnte, wenn man sie nicht aufteilte oder als ambivalent verstand, so erneuert sich nachträglich der gesamte Problembereich in einem regressus ad infinitum.

Der Begriff Komplementarität ist hier unspezifisch verwendet. Er meint in Wirklichkeit und seinem Ursprung nach nicht eine konvergente, wechselseitige Ergänzung, sondern zwei einander ausschließende Erscheinungsweisen des gleichen. Die Verbindung von Entscheidung und Vollzug, von Forderung und Gabe, ist jedoch etwas anderes. In Wirklichkeit drückt die Verwendung des Komplementaritätsbegriffs hier den Mangel einer einsichtigen Verhältnisbestimmung aus, in dem damit die Nicht-Definition eines solchen Verhältnisses gerechtfertigt wird.

Sieht man hieraus, daß ein mächtiger und unbestrittener Positivismus durch lange Jahrhunderte ein Problembewußtsein für das positive Verhältnis der beiden potestates nicht hat aufkommen lassen, so wird der vorkonziliare und außerkonziliare Verlauf der Debatte um so interessanter. Unter dem Dach der als selbstverständlich vorauszusetzenden Einheit erscheint die radikale, einer deutenden Vermittlung unzugängliche Trennung als Gegebenheit. Daraus entsteht in unserer Zeit die von verschiedenen Seiten geäußerte Sorge über die Spaltungswirkung der potestas-Lehre. In diesem eigenartigen Vorgang ist auch die Frage der Eignung der munera-Lehre als solche nicht erkennbar aufgeworfen worden.

Die Eignung der munera-Lehre zur Darstellung der Kirchengewalt war bis dahin von katholischer und evangelischer Seite gerade deswegen in Frage gestellt worden, weil hier die Verrichtungen und Wirkungsweisen der Kirche nebeneinandergestellt werden, ohne daß dabei inneres Verhältnis zueinander entfaltet wird und werden kann. Ist dies die Schwäche der munera-Lehre, so liegt heute ihre Bedeutung umgekehrt gerade darin, daß sie den Gesamtbestand kirchlichen Handelns zur Darstellung bringt und zusammenfaßt, ohne sich von der strukturellen Bestimmung und Zuordnung der einzelnen Vermittlungen abhängig zu machen.

Die Entwicklung der alten potestas-Lehre, gerade auch in den letzten 150 Jahren, läßt erkennen, daß eine anerkannte Theorie des Verhältnisses zwischen Jurisdiktion und Ordo nicht gewonnen worden ist. Nur ein Teil dieses Problems manifestiert sich in den Schwierigkeiten, die potestas magisterii sinngemäß einzuordnen. Auch das entscheidende Eintreten Mörsdorfs für die traditionelle Lehre und sein Versuch einer theologischen Begründung aus Wort und Sakrament haben nicht die Durchschlagskraft besessen, die erforderlich gewesen wäre, um eine solche Lehre zur Achse eines neuen Verständnisses kirchlicher Strukturen zu machen34.

In seiner ungedruckten Habilitationsschrift hat sich Johannes Neumann skeptisch zu den Übergang von der potestas-Lehre zur munera-Lehre geäußert.

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Er meint, man sei damit nur den bestehenden Schwierigkeiten durch relativ unbestimmte oder unbestimmbare Formulierungen ausgewichen. Diese Skepsis ist nicht ohne einigen Grund. Sie wird zunächst durch den geschilderten Verlauf bestätigt, in welchem die Fragen der potestas-Lehre nicht bis zum Ende verhandelt worden sind, um sie aus unerklärten Gründen dann zu verlassen. Es fehlte und fehlt nach wie vor eine zulängliche Theorie der potestas-Lehre. Gewiß hat man auch versucht, die systematischen Schwierigkeiten durch die Rezeption der munera-Lehre zu vermeiden.

Gleichwohl schließt dieser Hergang nicht aus, daß dieser Entwicklung eine nicht zufällige positive Bedeutung beizumessen ist. Denn so schlüssig die potestas-Lehre auch institutionsrechtlich interpretiert werden kann, und so unentbehrlich sie trotz der Rezeption der munera-Lehre bleibt, beseitigt die munera-Lehre nun doch einen gewissen Systemzwang, der den gesamten Bereich auf eine schlüssige Ebene zu bringen versucht.

Die Erwägung darüber, was dieser Wandel bedeutet, wird durch die Annahme fehlgeleitet, die munera-Lehre solle die potestas-Lehre im strikten Sinne ersetzen. Obwohl es sich so ansieht, ist es doch unbeweisbar, daß beide Konzeptionen sich nicht ohne weiteres intentional auf das gleiche beziehen. Sie enthalten verschiedenis und nicht das gleiche in unterschiedlichem Ausdruck. Die munera-Lehre beschreibt in der Übertragung der Ämter Christi auf die Kirche den Gesamtumfang dessen, was der Kirche zu tun aufgegeben ist. Sie ist eine materiale Beschreibung und damit zugleich eine Legitimationsformel. Sie drückt also nicht, wie die potestas-Lehre, die Struktur des Vollzuges unter Einschluß des Ziels aus, sondern sie bezieht sich auf die Diversität der Verrichtungen, welche zusammengenommen das munus der Kirche ausmachen. Etwas verkürzt ausgedrückt: sie ist eine materiale Aussage gegenüber der prozessualen der bisherigen potestas-Lehre35.

Dieser mißverständliche Übergang kann durch zwei Überlegungen begünstigt worden sein: einmal solle vermieden werden, eine spezifisch kanonistische Theorie als solche zu dogmatisieren, obwohl sie für das Verständnis von Inhalt und Vollzug der Ordination von hervorragender Bedeutung ist. Weit mehr dürfte sich darin der Wunsch ausdrücken, von der Dominanz eines jurisdiktionellen Denkens das Schwergewicht auf die materialen Inhalte des Handelns zu verlegen, im besonderen Maße auf die Sakramentalität der Kirche. Daß die Juxtaposition der munera keine deutliche begriffliche Abgrenzung enthält, kann dabei eine gewisse Entlastung gegenüber den Distinktionen der potestas-Lehre bedeuten.

Denn die neue Darstellung der potestas-Lehre in Gestalt der munera-Lehre trifft sich mit einem weiteren entscheidenden Schritt des Konzils: der Anerkennung der Sakramentalität der Bischofsweihe.

Die Kommentierung läßt erkennen, daß die Konzilsväter sich der zentralen Bedeutung des Gegenstandes für die Kirchenverfassung durchaus bewußt gewesen sind. Dagegen ist eine Besinnung auf die liturgische Basis der ordines nicht mehr erkennbar.

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Wo bleibt unter dieser Voraussetzung die bisherige ordo-Lehre? An keiner Stelle wird die Sakramentalität der drei traditionellen ordines als solcher, des Diakons, des Presbyters, des Bischofs, in Frage gestellt. Diese, auch über den Bereich der römischen Kirche weit hinaus bewahrte traditionelle Grundform bleibt unberührt. Dieser Schritt wird in Erläuterungen ausdrücklich damit begründet und zugleich gedeutet, daß damit das Bischofsamt im Gegensatz zu seiner bisherigen, überwiegend jurisdiktionellen Darstellung und Interpretation näher an das Sakrament herangerückt worden sei36. Im gewissen Umfange distanziert sich die Kirche in diesem Bereich und damit überhaupt von einer mißverständlichen und abstoßenden Dominanz des jurisdiktionellen Elements. Wenn in der Struktur der beiden Hierarchien und in der von mir beschriebenen Parallelverschiebung zwischen beiden Linien die Jurisdiktion eine Art ständigen Antriebsüberschuß enthalten hat, mit dessen Hilfe die Kirche in der Geschichte voranging, so besinnt man sich jetzt in höherem Maße auf den sakramentalen Charakter der Kirche. Freilich wird hier der Bischof nicht wie ursprünglich — und dann simultan mit dem Presbyter — von der Eucharistie her, sondern von seiner eigenen sakramentalen Weihe her verstanden. Es ist also gerade nicht die communio aller Gläubigen in der Eucharistie, sondern die pneumatische communio der Bischofsgemeinschaft, an die er jetzt mit großem Nachdruck herangerückt und verwiesen wird. Die erwähnte Umkehrung hat eine Folge, die ausdrücklich in Ziffer 2 der nota praevia zum Ausdruck kommt. Konzentriert man nämlich alle Kompetenzen im Vollamt des Bischofs, so könnte dies — so die Texte und Kommentare — gleichsam zu einer Art Beliebigkeit des Gebrauchs dieser Kompetenzen führen. Dies wird mit hoher Notwendigkeit dadurch eingeschränkt, daß die nota praevia die Ausübung des Amtes an die missio canonica und damit an die Verleihung und Zuweisung konkreter Jurisdiktionskompetenzen bindet. Erst so ist das bischöfliche Amt ein „expedites”, ein voll ausgerüstetes und auf sein Ziel ausgerichtetes. Damit kommt in neuer Weise die Jurisdiktion mit der missio canonica zur Deckung. Während der Begriff des ordo kaum noch vorkommt, aber keineswegs ausgeschlossen wird, tritt hier der Begriff der Jurisdiktion erneut in Wirksamkeit. So ist in einer zweiten Linie die alte potestas-Lehre im Schatten der neuen munera-Lehre aufgenommen und bewahrt, freilich in einem veränderten Stellenwert und Zusammenhang. Völlige sachliche und begriffliche Klarheit beansprucht jedoch auch der Kommentar für den Text nicht. So kann Kardinal Parente sagen:

„E’dal sacramento, e non da una delega papale, che derivano tutti i poteri dei vescovi, non solo il potere d’ordine ma anche quello di giurisdizione. Infatti, i potere che il Signore ha trasmesso agli Apostoli formavano un tutt’ uno ...”

Diese Umkehrung der Orientierung bringt freilich neue Probleme mit sich. Nach der bisherigen unbestrittenen Lehre erwirbt der zum Papst Gewählte die volle Jurisdiktion für die gesamte Kirche bereits mit der Annahme der Wahl, selbst wenn er Laie ist. Selbstverständlich ist ihm die alsbaldige Annahme der

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etwa fehlende Weihen zur Pflicht gemacht. Es ist undenkbar, daß er dieses Amt ohne die Weihen ausübt. Gleichwohl entsteht so ein Widerspruch. Wenn das bischöfliche Vollamt erst durch die missio canonica expedit wird, so ist die umgekehrte Reihenfolge im bisherigen Sinne — Erwerb der Jurisdiktion und danach die Weihe — nicht mehr möglich. Die Neuordnung der Papstwahl durch die apostolische Konstitution Romano Pontifice eliquendo vom 1. 10. 1975 trägt dieser Veränderung Rechnung (Ziff. 88, 89). Congar gibt dies wie folgt wieder:

„Nous lisons au nº 88: ,Après l’acceptation, l’élu qui a déja reçu l’ordination épiscopale est immédiatement évêque de l’Église de Rome et en même temps vrai Pape et chef du Collège épiscopal; il acquiert en acte et peut exercer le pouvoir plein et absolu sur l’Église universelle. Si l’élu n’a pas le caractère épiscopal, il doit aussitôt être ordonné évêque.’ Puis, au nº 89: ,Si l’élu n’a pas le caractère épiscopal, l’hommage lui est rendu et l’annonce est faite au peuple seulement après qu’il aura été ordonné évêque.’ L’intention est claire: la pape est essentiellement l’évêque de Rome.”37

Es geht aber um mehr als um eine verstärkte Rückbeziehung auf das römische Bischofsamt. Es bedeutet zugleich mit der Behebung der so aufgetretenen Schwierigkeiten, daß die außerordentliche Heraushebung einer alleinigen umfassenden und zentralen Jurisdiktionskompetenz in einer neuen Weise über die Beteiligung am Bischofamt mit dem Kollegium der Bischöfe vermittelt wird.

Das Hervortreten der Lehre von den drei munera Christi im Bereich der Ekklesiologie und Kirchenrechtslehre in dem Programm Gloeges wie auch in der Übernahme durch das Zweite Vatikanische Konzil machte eine Besinnung über die Entwicklung der Lehre von der Kirchengewalt erforderlich.

Bisher bleibt der unbefriedigende Tatbestand, daß das Verhältnis von potestas-Lehre und munera-Lehre ungeklärt ist. Die eine ist jetzt in der konziliaren Lehre begründet, die andere durch eine jahrhundertelang unbestrittene Tradition der Lehre und Praxis legitimiert, in der Hintergrund getreten, aber nicht außer Kurs gesetzt.

Die Schwierigkeit und der Mangel der geschilderten Kontroverse scheint mir darin zu liegen, daß man beide Lehren als alternative Lösungen für den gleichen Sachverhalt oder das gleiche Problem ansah, die man weder miteinander verbinden noch zwischen denen man sich entscheiden konnte. Wie aber, wenn beide Lehren diversa genera meinen? Die potestas-Lehre verbindet Rechtsbegriffe, welche ein statusrechtliches Geschehen bezeichnen und die Kompetenz zu solchen Handlungen implizieren.

Die munera-Lehre behandelt allein inhaltliche Aufgaben oder Kompetenzen, ohne über die Stellung der Kompetenzträger etwas auszusagen. Der Anreiz, trotzdem beide zu verschmelzen, liegt darin, daß zwischen beiden eine inhaltliche Überschneidung, aber keine Deckung besteht.

Die Ausübung der potestas ist eine ständige Kette von Handlungen: auf die Entscheidung der iurisdictio folgt der Vollzug der ordinatio, und der

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Ordinierte gibt in der Jurisdiktion seines Amtes dann den ordo weiter usf. Das Ganze setzt aber voraus, daß diese Kette einmal in einem vollgültigen originalen Anfang, letzten Endes aus der Fülle der Gewalt, d.h. der Vollmacht Christi begonnen hat.

Die initiative Entscheidung der iurisdictio ist die Vollzugsform des munus regale in der ganzen Erstreckung des Weges — mit der Entscheidung zur ordinatio ordnet das munus regale die Betroffenen in die eschatologische Gemeinschaft ein. Die potestas-Lehre bezeichnet die personenrechtlichen Eckpunkte des Geschehens, die munera-Lehre faßt dessen inhaltliche Dimensionen zusammen. Anders ausgedrückt: die potestas-Lehre ist die statusrechtliche, institutionelle Seite der munera-Lehre.

Die potestas-Lehre verhält sich zur munera-Lehre wie die Fassung zu einem Edelstein, der Leuchter zu einem Licht. Iurisdictio und ordo zusammen sind Träger des munus regale, das Ziel der ordinatio ist der Ort des Kultus. Sie schließen beide das munus propheticum in sich ein, das sich deshalb nicht auf die potestas-Lehre verrechnen läßt. Im munus propheticum fallen Wahrheit und Liebe, Person und Geschichte, Gericht und Gnade zusammen.

Indem die munera-Lehre
1. den Verhältnisbestimmungen der einzelnen munera untereinander und
2. damit auch dem Vorrang eines jeden von ihnen vor den anderen,
3. so auch den damit verbundenen Engführungen entgegenwirkt,
umschließt sich doch in ihrer Mitte die Wahrheit und macht die Besorgnis Gloeges ebenso verständlich wie gegenstandslos.

Die potestas iurisdictionis als Entscheidung über die Angezeigtheit des Handelns ist in besonderem Maße der Entleerung ausgesetzt durch nominalistische Absolutheit, durch Dezisionismus, durch Rationalismus der Deduktion. Sie kann davor nur bewahrt werden durch die Wahrung der Einsicht, daß es für sie immer um den Weg aus der communio in die communio geht. Die Versuchung, der Jurisdiktion ein dezisionistisches Übergewicht zuzumessen, entsteht in dem Maße, als die Inhalte dieses intendierten Geschehens vergegenständlicht, aber auch als Pluralität unterschiedlicher Wirkungen verstanden werden, anstatt daß die Integration des ganzen Menschen als Inhalt und Ziel erkannt wird.

 

5. Systembildung und Terminologie in der kanonistischen Gesetzgebung

Im CIC von 1917 entledigte sich die römische Kirche eines ungeheuren Ballasts gesammelter kanonistischer Normen, die auf dem Decretum Gratiani aufbauten, aber systematisch niemals durchgebildet waren. Es war die letzte der großen Kodifikationen, in welchen die abendländischen Rechtswissenschaft sich mit dem historisch erwachsenen Stoff durch begriffliche Ordnung auseinandersetzte. Dabei ist auffällig, daß ein so avantgardistisches Fach wie ehedem das lateinische kanonische Recht an einem solchen Ende zu stehen kam.

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Als Gliederung benutzte Kardinal Gasparri die traditionelle Formel „personae — res — actiones”, in welcher die Institutionen des römischen Rechts seit Gaius im 1. Jahrhundert überliefert worden waren — Institutionen als Lehrbuch und Einführung in Stoff und Denken einer großen Tradition. Der Kenner der Rechtssprache des Codex, Klaus Mörsdorf, hat mir auf direkte Anfrage versichert, daß mit dieser Anordnung kein theologisch relevanter Ansatz gemeint sei. Es wäre demnach nur eine pragmatische Lösung, welche zugleich die Ehrerbietung gegenüber der klassischen Tradition römischen Rechtsdenkens zum Ausdruck bringt. Wenn diese Deutung prima facie zutrifft, so muß doch wenigstens dieses Gliederungsschema als solches im großen gesehen für die Ordnung des Stoffes als geeignet betrachtet worden sein. Dies kann man in der Tat für die ersten beiden Leitbegriffe sagen. Denn der erste Teil umfaßt mit der vorausgesetzten Institution der Kirche deren Konstitution und eben deswegen vermöge des wesentlich personalen Charakters des kanonischen Rechts das gesamte Personenrecht, insbesondere das Amtsrecht, unter Einschließung des grundlegenden Canon 87 über die Konstitution der Person.

Der zweite Teil — „res” — ist nicht im Sinne der Verdinglichung zu mißdeuten. Unter „res” sind zunächst nur allgemein Gegenstand und Inhalt des aufgegebenen kirchlichen Handelns gemeint. Genauer auf den res-Begriff bezogen, geht es um Dinge, die nicht Objekte von Subjekten sind, sondern um solche, die durch Personen qualifiziert sind und Personen ihrerseits qualifizieren.38 Insofern besteht eine sachgemäße Beziehung zum Sakramentenrecht. Hier ist aber auch mit Recht die Wortverkündigung mit inbegriffen. Anstößig ist dies ebensowenig wie die Differenzierung zwischen fides qua und fides quae.

Sind diese beiden Teile gegebenen Gliederungen, so ist die Verwendung des Begriffs actiones der Formel fremd. Denn der römische Aktionenbegriff umfaßt materielles und Prozeßrecht in einer Form, welche unserem Rechtsdenken fremd geworden ist. In der Hauptsache sind hier alle die Verfahren gesammelt, in denen eine Status-Veränderung der Glieder der Kirche von der Heiligsprechung bis zur Exkommunikation in Rede steht.

Die vier Entwürfe einer Lex Fundamentalis Ecclesiae sind anders gegliedert. Die ersten beiden Fassungen enthalten vier Abschnitte: nach einem Prooemium einen Abschnitt über die Kirche als Volk Gottes, dann einen solchen über die munera ecclesiae und schließlich ein Caput unter dem Titel „De ecclesia et hominum consortione”.

Das Prooemium geht, wie die schon früher zitierten Parallelaussagen von Heckel und Barth zeigen, methodisch folgerichtig von einer Beschreibung des opus Christi aus. Der erste Haupttitel entspricht dann dem Abschnitt „de personis” im CIC unter Beschränkung auf die verfassungsrelevanten Materien. Der zweite Titel — „de muneribus” — zeigt nun ein für die nachkonziliaren Lage charakteristisches Moment. Es werden zunächst die munera docendi und sanctificandi vorangestellt. Erst dann folgt das munus regendi. Denn in der generellen Beschreibung des Canon 74 wird über das munus regendi ausgesagt, daß dieses regimen als potestas geordnet ist, welche sich als potestas

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legislative, executiva und iudicalis auseinanderlegt. Eine erweiterte Fassung von dem Textus emendatus von 1971 betont die beratende, überzeugend beispielhafte Weise dieses Regiments. Auch findet sich in § 2 eine einschränkende und kommentierende Aussage, wonach die Inhaber diese potestas allein zur Auferbauung des Volkes in Wahrheit und Heiligkeit gebrachen (sollen).39 Aber systematisch zeigt diese Formulierung, daß die Lex Fundamentalis durch die Ausscheidung der potestas-Lehre in der bisherigen Zweiteilung von potestas iurisdictionis et ordinis im Gegensatz zum Codex einer erneuten Definition und Einführung des potestas-Begriffs bedurfte. Anstelle der zweigegliederten traditionellen potestas aber wird nunmehr eine Formel verwendet, die eine Übernahme der säkularen Gewaltenteilungslehre bedeutet.40 Im Gegensatz zu dieser aber setzt diese Dreiteilung die gleichzeitige Gewalteneinheit der (päpstlichen) potestas voraus. Während also die weltliche Gewaltenteilungslehre die erstmatlige Ausbildung einer Gewalteneinheit geschichtlich voraussetzt, um diese in einer zweiten Phase durch Aufgliederung und wechselseitige Hemmung der Gewalten zu entmächtigen, wird diese Konsequenz durch die Gleichzeitigkeit von päpstlicher Vollgewalt und Gewaltenmehrheit behoben. Bei alledem ist aber hier eine durchgreifende Rationalisierung im Sinne des Gesetzesbegriffs vollzogen. Auf die Gesetzgebung folgt die konkretisierende Verwaltung und beide werden wieder durch die Rechtsprechung verreinigt und gegeneinander ausgeglichen. Das diskretionäre und kontingente Moment der Gewalteneinheit soll dann dazu ausreichen und Gewähr dafür bieten, daß diese Rationalisierung in der ihr eigenen Grenze gehalten wird. Voraus dagegen sind die Gegenstände dieser potestas in die Form des Gesetzes gebracht. Damit ist aber unversehens die Lehre von der Kirchengewalt aus dem unmittelbaren Zusammenhang mit den ihr eigenen Vollzügen und Inhalten herausgelöst. In der bisherigen potestas-Lehre bedeutete iurisdictio41 die jeweils notwendige Entscheidung über die Indikation des Handelns selbst; ihre Maßstäbe wurden also nicht aus einem Begriff, sondern aus dem Wesen dieses Vollzuges selbst entnommen. Die Taufpraxis orientiert sich an dem Wesen der Taufe. Dieses Verhältnis wird nicht vermittelt durch den Begriff und Inhalt eines Gesetzes, sondern durch die Sache selbst. In diesem Sinne ist gerade der res-Begriff des Codex seinen eigenen Gegenständen unendlich näher als die Fassung des Canons 75 LEF. Die Einführung der munera-Lehre hat also nicht dazu geführt, aus dem spezifischen Gehalt der einzelnen munera auch die Maximen des Handelns abzuleiten und zu legitimieren. Es wird vielmehr durch die Einführung des Gesetzesbegriffs eine andere Qualität dazwischengeschaltet.

Dem entspricht dann auch, daß bei dem munus sanctificandi die spezifische potestas ordinis als solche nicht mehr im bisherigen Sinne zutage tritt. Diese Begrifflichkeit paßt weder auf das munus docendi noch auf das munus sanctificandi. Sie führt zu dem problematischen Begriff der Exekution, der Gesetzesvollziehung.

Bedenklich ist, daß sich hier die kanonistische Doktrin auf eine Formel

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einläßt, die sich erst nach dem Abschluß der Glaubenskämpfe Ende des 17. Jahrhunderts und deutliche als deren negative Folge herausgebildet hat. Ist es wirklich die geschichtliche Konsequens dieser Glaubenskämpfe, daß das Papsttum als absolutes, souveränes Fürstentum definiert wird? Aber gleichzeitig wird die rationalistische Programmatik und Begrifflichkeit übernommen, welche sich die Einbindung und Entmächtigung der daraus entstandenen Machtkonzentration zum thematischen Ziel setzt. Das hieße, daß die Kirche sich gleichzeitig in der Form des Absolutismus und des gesetzesstaatlichen Konstitutionalismus darzustellen versucht.

Die Adoption einer in ihren Ursprüngen historisch nachweisbaren, sich kritisch gegen die Kirche wendenden säkularen, staatsrechtlichen Konzeption wirft ein eigentümliches Licht auf die verfassungsgeschichtliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Sie macht aber gleichzeitig den Abstand verständlich, der zwischen der früher zitierten Äußerung von Bellarmin und dem I. Vaticanum besteht. Es zeigt aber auch die Versuchung, die mit der Einführung von Verfassungsgedanken in die Kanonistik gegebenist, wenn die historische Entwicklung auf diesen Gebieten als neutral und deren Begriff als unbedenklich verwendbar angesehen werden.

Mit dieser methodischen Entscheidung stellte der Entwurf den Fortschritt in Frage, den er durch die Einführung der munera-Lehre gerade erst gemacht hatte.

Die Drei-Ämter-Lehre hatte schon einen deutlichen Auftrieb durch die Enzyklika Pius’ XI. „Quas primas” r. 11. 12. 1925 zur Einführung des Christkönigsfestes bekommen. Diese Enzyklika ist bekanntlich für die katholische Rechtslehre deshalb so interessant, weil sie eine andere Drei-Gewalten-Lehre, nämlich die Drei-Gewalten-Teilung Montesquieus aufnimmt und in Christus die gesetzgebende, richtende und vollziehende Gewalt gipfeln und gegründet sein läßt42. Dadurch gewann die Lehre von den drei „Ämtern” Christi als Priester, Lehrer und König in der Dogmatik immer mehr an Boden.

Daraus ergibt sich, daß der Papst — ebenso wie nach dem Kriege Karl Barth — motiviert durch plausible trinitätstheologische Fragen — den rechts- und geistesgeschichtlichen Stellenwert und die Struktur der Gewaltenteilungslehre nicht in Betracht gezogen hat — und so auf ein Derivat und Surrogat der Trinitätslehre geraten ist.

Dem Aufbau der neuen CIC 1983 ist die konziliare Konzeption der munera-Lehre zugrunde gelegt. Sie wird jedoch bemerkenswert frei behandelt. Denn anstelle vom munus regendi spricht der Titulus VIII von der potestas regiminis. Hier heißt es:

„Can. 129 — § 1. Potestatis regiminis, quae quidem ex divina institutione est in Ecclesia et etiam potestas iurisdictionis vocatur, ad normam praescriptorum iuris, habiles sunt qui ordine sacro sunt insginiti.
§ 2. In exercitio eiusdem potestatis, christifideles laici ad normam iuris cooperari possunt.”

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Die potestas wird also als legitime Gegebenheit vorgefunden. Darin wird offenbar kein Widerspruch zu der für das Ganze vorausgesetzten munera-Lehre gesehen. Zugleich aber erscheint wiederum die vetus partitio durch die Verweisung auf die Abhängigkeit vom ordo, also von der potestas ordinis. Zugleich aber wird iurisdictio als eine traditionelle Form des Ausdrucks vorgeführt, so ähnlich wie im Protestantismus (trotz CA XXVIII) der Begriff allgemein benutzt wird — in dem sachlich Indikation und Kompetenz enthalten sind.

§ 2 korrespondiert mit Canon 204, wo die Gläubigen als Teilhaber an allen drie munera vorgestellt werden.

Nicht unbedenklich ist es aus den früher dargelegten Gründen, wenn in Canon 135 § 1 die potestas regiminis — verstanden als Gewalteneinheit — in die legislative, exekutive und judiziale potestas gegliedert wird. Denn festzuhalten ist — und der Kontext widerspricht dem nicht —, daß die wesentlichen Entscheidungen im Personenrecht liegen. Das kanonische Recht ist im wesentlichen Personenrecht, und die potestas-Lehre hat ungeachtet jener Terminologie ihre Legitimität und Grenze darin, daß sie strukturell den konstituierenden Grundvollzügen von Taufe und Ordination entspricht.

 

Anmerkungen zu Kapitel XXI

1 K. Barth, Der römische Katholizismus als Frage an die protestantische Kirche, in: ders., Die Theologie und die Kirche, Gesammelte Vorträge 2. Bd., München 1928, 329-362, hier: 347.
2 Peter Krämer, Dienst und Vollmacht in der Kirche — Eine rechtstheologische Untersuchung zur Sacra Potestas-Lehre des II. Vatikanischen Konzils, in: Trierer Theologische Studien, Band 28, Trier 1973.
3 Klaus Mörsdorf, Einheit in der Zweiheit. Der hierarchische Aufbau der Kirche, in: AkathKR 134, 1965, 80-88, hier: 84.
4 Rudolf Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, FS für Wach, München/Leipzig 1918, Darmstadt 1967.
5 RdG II, Kap. VI, 103-129.
6 Thomas von Aquin, Summa II. 2 qu. 39. art. 3; zitiert nach: Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Bd. I, Graz 1959, 164, Anm. 1.
7 Catechismus Romanus P. II, cap. VII de sacramento ordinis, quaestio VI; Mejer/Sehling, Art. Kirchengewalt, in: RE, Leipzig 31901, Bd. 10, 383-386, hier: 384/34f.
8 Denzinger, Enchiridion symbolorum Ed. XXXVI, Freiburg 1965.
9 So etwa Denzinger, a.a.O. Ziff. 3011.
10 So auch Mörsdorf, der von einem inneren Bezug der Lehre zum

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Spendungscharakter der Weihegewalt spricht. Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, München/Paderborn/Wien 111964, Bd. I, 247.
11 Josef Fuchs, Vom Wesen der kirchlichen Lehrgewalt, Theol Diss. Münster 1946; Auszüge daraus: Magisterium, Ministerium, Regimen — Vom Ursprung einer ekklesiologischen Trilogie, Bonn 1941, und ders., Weihesakramentale Grundlegung kirchlicher Rechtsgewalt, in: Scholastik 16, 1941, 496-513. (Vgl. Mörsdorf a.a.O., Anm. 1.)
12 Alfons Stickler, Das Mysterium der Kirche im Kirchenrecht, in: Ferdinand Holböck/Thomas Sartory (Hg.), Mysterium Kirche in der Sicht der theologischen Disziplin, Salzburg 1962, 2. Teil, 571-647, hier: 623.
13 Klaus Mörsdorf, Einheit in der Zweiheit, Der hierarchische Aufbau in der Kiriche, in: AkathKR 134, 1965, 80-85, hier: 81 f.
14 Wilhelm Bertrams, Papst und Bischofskollegium als Träger der kirchlichen Hirtengewalt, München/Paderborn/Wien 1965, 10 und Anm. 5, 10 f.
15 Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, München/Paderborn/Wien 111964, Bd. I, 247.
16 Nikolaus Milasch, Bischof von Zara, Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirche, Mostar 21905, 235.
17 Vgl. auch die einzelnen Quellennachweise bei Othmar Heggelbacher, Geschichte des frühchristlichen Kirchenrechts bis zum Konzil von Nicaea 325, Freiburg/Schweiz 1974, insb. Teil II, 36 ff.
18 Mejer/Sehling, Art. Kirchengewalt, in: RE, Leipzig 31901, Bd. 10, 383-386, bes. 385.
19 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hgg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 81979, 400/13 ff.
20 Wilhelm Bertrams a.a.O. 10 und Anm. 3.
21 Ich verweise hier auf die früheren Ausführungen über die zwei Hierarchien, die liturgische (presbyteral) und die regimentale (episkopal), deren Spannung bis zum II. Vatikanischen Konzil erhalten geblieben ist, und bringe hier nur Einzelheiten zur Entwicklung der Frage nach. Vgl. Kap. VII.
22 Luther WA 12/182, 9 ff.
Vgl. Peter Manns, Amt und Eucharistie in der Theologie Martin Luthers, in: Peter Bläser u.a., Amt und Eucharistie, Paderborn 1973, 68-173, hier: 159.
23 Peter Manns a.a.O., 122.
24 Peter Krämer a.a.O., 9.
25 BSELK, a.a.O., 725 ff.
26 Siegfried Grundmann, Art. Kirchengewalt, in: RGG, Tübingen 31962, 1434 f., hier: 1435.
27 RdG II, Kap. VII/2, 141-154.
28 Ludwig Hödl, Die Lehre von den drei Ämtern Jesu Christi in der dogmatischen Konstitution des II. Vatikanischen Konzils ,über die Kirche’, in: Wahrheit und Verkündigung, FS für Michael Schmaus, München/Paderborn/Wien 1967, Bd. II, 1785-1806, hier: 1793. Als Fundstellen werden angegeben: Schema Constitutionis dogm. De Ecclesia p. I, 1963, Anm. 10. De triplici

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munere messianico cf. etiam Eusebius, Hist. Eccl. 1, 3: PG 20, 68-73 et Demonstr. Evang. IV, 15: PG 22, 290-291; Jo. Chrysostomus, in 2 Cor. hom. 3, 5: PG 61, 411; Fastid. Britt. De Vita Christi, 1: PL 50, 384; S. Thomas, Ad Rom, lect. 1 et Summa Theol. III, q. 31, a. 2; Catechismus Tridentinus I cap. 3, 7. Accedunt pluria documenta pontificia Leonis XIII, S. Pii X et Pii XII. Zu ergänzen wäre Petrus Chrysologus, Sermo 59, PL 52, 563.
29 Ludwig Hödl, a.a.O. 1801. Hödl verweist auf folgende Literatur: Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV, Die Lehre von der Versöhnung 1. Teil, Zürich 1953, 2. Teil, 1955, 3. Teil, 1959; Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964.
30 Peter Krämer, a.a.O. 13.
31 LThK, Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil I, Freiburg 21966.
32 Peter Krämer, a.a.O., 73ff.
33 Dies als verkürzte Wiedergabe der Zusammenfassung Krämers, a.a.O., 22-34.
34 Vgl. Karl Rahner, Kommentar zum III. Kapitel, Art 18-27, in: LThK, a.a.O., 210-247, hier: 219, Anm. 7.
35 Karl Rahner, a.a.O., 218.
36 Joseph Ratzinger, Kommentar zu den „Bekanntmachungen”, in: LThK, a.a.O., 348-361, hier: 352.
37 Yves Congar, Bulletin d’Ecclésiologie, in: Revue des Sciences Philosophique et Théologiques 60, 2, 1976, 281-308, hier: 297.
38 Dombois, Mensch und Sache — zum Problem des Eigentums, in: ZGStW 110, 1954, 239-256 und in: ders., Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967, 181-202.
39 S. Kap. XIII. 240.
40 Der Begriff „executiva” ist ebenso fragwürdig wie der in Art. VII CA eingeführte Begriff der Administration.
41 Vgl. Kap. I.
42 AAS 17, 1925, 593-610.