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Kapitel XVIII

Die Ekklesiologie Gerhard Gloeges

1. Kritik der Orthodoxie

Gerhard Gloege hat einen Sammelband theologischer Arbeiten veröffentlicht, unter denen sich eine eigenständige, für die Kirchenrechtslehre bedeutende Abhandlung über die Einheit der Kirche befindet.1 Sie ist untergliedert in drei Abschnitte: Das Wesen, das Dasein und das Gefüge der Einheit.

Gloege betont im ersten Abschnitt die Vorgegebenheit der Einheit der Kirche. Von da aus sieht er diese Einheit nicht in einer sichtbaren Gestalt, sondern in ihrer geistlichen Existenz selbst. Er verschließt sich aber nicht der Notwendigkeit, sie zu konkretisieren. Er schließt aber das Ziel einer sichtbaren Einheit in der Gemeinsamkeit allgemeingültiger Grundsätze aus und definiert sie von vornherein als Einheit in der Verschiedenheit (195), ohne die exegetische Theorie über die Begründung der Konfessionen innerhalb des Kanons konstruktiv zu benutzen. So heißt es bei ihm: „Das Wort allein schafft die Einheit der Kirche so, daß sie als geschichtliche konkrete Wirklichkeit ins Dasein tritt” (198). Dieses Wort, das die Kirche als sein Geschöpf (ecclesia = creatura verbi divini) leben läßt, überwinde das „fit” und das „significat” der zwinglianischen Lehre durch das göttliche „est” und schließe damit alles menschliche Machen aus. er unternimmt auch, den Artikel VII CA durch die Auslegung zu rechtfertigen: das dialektische Verhältnis von „Genug” (satis) und „Notwendig” (necesse) reiche nicht nur aus, sondern sei grundlegend. Daher sei für die lutherische Theologie die Ordnung der Kirche weder heilsnotwendig wie für Rom noch Zeichen der Kirche neben Wort und Sakrament wie für Butzer oder Calvin. Sie möchte der gesetzlichen Werkgerechtigkeit nicht dadurch entfliehen (?), daß sie organologischen oder organisatorischen Tendenzen nachgebe (202). Denn das hieße, thetisch oder antithetisch, die Gefahr einer neuen Ordnungsgerechtigkeit heraufbeschwören. Sie habe sich abzugrenzen sowohl vom hierarchischen wie vom bürokratischen (?) Mythos in jeder Form.

Die Verschiedenheit in der Einheit leitet er aus der Unterschiedenheit der Gnadengaben (charismata) her, die als solche darum gerade jeden Totalitätsanspruch ausschließe. Ohne jedoch die konkrete Verschiedenheit der charismata als Basis zu verstehen, stellt er die Kirche als sinnvolles Gefüge dar (196). Dessen Struktur aber entspringe der Struktur des dreifachen Amtes Christi. Schon im AT verwirkliche sich die Bundesgerechtigkeit in den konkreten Gestaltungen von Ordnung, Gottesdienst und Lehre, — aber der Gestalt gehe die Wahrheit immer voraus. Dies habe sich im Spätjudentum in das Gegenteil verkehrt und sei in der neutestamentlichen Gemeinde wieder richtiggestellt.

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In der von Luther vorgetragenen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sei die lebendige Wahrheit wiederentdeckt, aber die Kirche besitze keine Ordnung, die in sich Heilscharakter besäße. Dabei vertritt er die Auffassung, daß schon die urchristliche Gemeinde beachtenswerte liturgische Formen und eine relevante form der Ordnung besessen habe. Auch kenne die urchristliche Gemeinde keine bestimmte Lehre im Sinne einer intellektuell anzunehmenden Theorie, die die Einheit der Kirche herstellen oder garantieren könne. Am Ende findet sich aber folgende kritische Besinnung:

„Die Geschichte des Luthertums zeigt, aufs Ganze gesehen, eine betrübliche Entwicklung. Wohl wurden die ’traditiones humanae’ und die ‘ritus et ceremoniae ab hominibus institutae’ (CA VII), d.h. die Elemente der Verfassung und des Kultus, hinsichtlich der Gestalt der einen Kirche für theologisch irrelevant angesehen. Dafür wurde aber die ‘doctrina evangelii’ im Sinne der korrekten Doktrin als der entscheidende kirchengründende und einheitsbildende Faktor behandelt. die dadurch geförderte lutherische Orthodoxie überließ, infolge der Konzentration auf die ‘reine Lehre’, die kirchliche Rechtsordnung der Sorge der weltlichen Obrigkeit und die Gestalt des Gottesdienstes dem Geschmack des jeweils herrschenden Brauchtums. So begünstigten sich der theologische Nomismus einerseits und der kirchenrechtliche und kultische Antinomismus andererseits wechselweise. Die zwiespältige Grundeinstellung zu den adiaphora mußte — mittels einer verfälschten Zwei-Reiche-Lehre — das Verhältnis der Kirche zum allgemeinen politischen und kulturellen Dasein zutiefst verderben. Heute gilt es, die prinzipielle Gleichläufigkeit zwischen den drei notwendigen Lebensäußerungen der Kirche (Verfassung, Kultus, Lehre) im Blick auf die übergreifende Struktur zu sehen und aus CA VII die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Die Erkenntnis der Dialektik des ’satis est …, nec necesse est …’ gilt gerade auch von der ‘Lehre’.” (205 f.) (Hervorhebungen vom Verf.)

Gloege bezieht sich für die Fragen des Gottesdienstes auf das bekannte Werk von Graff2 über den Verfall der gottesdienstlichen Formen.

Mit eigener Betonung, unter Verweisung auf Käsemann,3 hebt Gloege auch das der Kirche eingestiftete Rechtselement hervor. Problem und Begriff der Institution sind nicht erörtert. Der bedeutendste Satz ist der oben hervorgehobene, in welchem von einer prinzipiellen Gleichläufigkeit zwischen den drei notwendigen Lebensäußerungen der Kirche (Verfassung, Kultus, Lehre) die Rede ist. Die objektive, wissenschaftlich erforschte Kirchenrechtsgeschichte wird von Gloege freilich ebensowenig berücksichtigt wie der methodische und sachliche Stand der rezenten Kirchenrechtslehre. Das Wertungsschema — Absolutheit oder Relativität der theologischen Bedeutung von Ordnung und Einheit —, und der grundsätzliche Sprung von der Urkirche zu Luther sind angesichts der Gesamtgeschichte de rKirche in ihren Leitungsformen nicht haltbar.

Der Versuch einer Auswertung und kritischen Prüfung diese bedeutenden, aber in seinem systematischen Gehalt nicht beachteten Entwurfs führt zu

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mehreren Rückfragen. Gloege ist, soweit ich sehe, der lutherische Systematiker, welcher die schwerwiegendsten Verkürzungen und Ausfälle im Gefüge der eigenen Kirche und ihrer Geschichte mit voller Offenheit darstellt. In dieser Kritik der Orthodoxie ist verdeckt die bekannte Form der Abfalltheorie enthalten, nach der eine jede pneumatische Bewegung in der Geschichte nach ihrer vollen Manifestation alsbald der menschlichen Bemächtigung und rationaler Objektivierung verfällt. Das Pneuma wirkt wie eine Art Explosion, welche niemals legitime Geschichte aus sich zu entlassen vermag.

Daß es sich in dem von Gloege Beschriebenen nicht um Verfall, sondern um Konsequenz gehandelt hat, zeigt die Symmetrie der Reduktionen. Das Moment der Herkunft, Stiftung, Legitimität und Legitimation wie das der im Kultus sich darstellenden Eschatologie werden zusammen auf das Moment der jederzeitigen Wahrheit zurückgenommen, konzentriert und reduziert. Dies erscheint sogar als notwendig, wenn es Reformation und nicht Reform sein soll. Eben deshalb setzen die von ihm beschriebenen verderblichen Wirkungen so früh an und ein, daß sie nicht der altprotestantischen Orthodoxie als Ursprung zuzuschreiben sind, sondern in ihr lediglich zu Entfaltung und Ausdruck kommen. Vollends die Preisgabe der Rechtsordnung an die Obrigkeit war schon längst vorentschieden. Mit der schlagenden Beschreibung der zerstörenden Wirkung gegensätzlicher Anwendungen der Gesetzeslehre triff sich Gloege mit der Kritik von Erik Wolf, der in der gleichen Linie von einer „Entwesung” des lutherischen Kirchenrechts spricht.4 Demgegenüber sind die übrigen Positionen im wesentlichen theologische Grundaussagen und Postulate, die im Widerspruch zur geschichtlichen Entwicklung der eigenen Konfession stehen. Was Gloege feststellt, liegt im Ansatz und nicht in der Entwicklung. Diesem Tatbestand gegenüber hält Gloege, wie zitiert, die traditionelle Kritik des Luthertums an einer Ordnungsgesetztlichkeit sowohl der katholischen als auch der reformierten Kirche aufrecht. Der hier festgestellte Gegensatz ist also nicht auf denjenigen zwischen Reformation und Katholizismus zu verrechnen, sondern eine Differenz, die sich auch innerhalb der reformatorischen Kirchen vorfindet. Geht man von Gloeges Kritik aus, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die geschichtlichen Konfessionen des lateinischen Christentums außerstande gewesen sind, die von ihm vertretenen drei essentiellen Elemente der Kirche adäquat darzustellen. Denn entweder zerreiben die beschriebenen Konsequenzen der Gesetzeslehre, so wie sie sich mit großer Wirkung durchgesetzt haben, mindestens zwei der Dimensionen der Kirche, deren Notwendigkeit er vertritt — oder es vermögen die anderen Konfessionen sie nur „gesetzlich” darzustellen. De facto hat also niemand zwischen „falscher Heilsbedeutung” und Preisgabe der Bereiche einen tragfähigen Boden und eine sich durchhaltende Gestaltungsform gefunden. Dabei würde auch die von Johannes Heckel in sachlicher Übereinstimmung mit der kanonistischen Tradition vertretene Abschichtung von heteronomem und autonomem Kirchenrecht — ius divinum und ecclesiasticum — nichts helfen. Gloege hat sich hier selbst widersprochen.

Ebenso grundsätzlich ist der Widerspruch, der in dem Rückgriff auf die

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übergreifende Bedeutung der „Wahrheit” liegt. Entgegen seiner eigenen Kritik an dem doktrinären Charakter übersieht er, daß die Theologie des Wortes selbst eine Verengung der theologischen Erkenntnisformen mit sich gebracht hat, die der Dreiheit der munera widerspricht. Der reflexiven Theologie des Wortes mit der Bindung an die Philologie stehen die Formen der Theologie gegenüber, welche, regiminal und kultisch, wesentlich auf Erfahrung beruhen, sich in Vollzügen und Strukturen niederschlagen. Diese Weisen der Theologie sind die legitimen Formen der „Gewaltenteilung”, welche die Kirche kennt. Hier geht es nicht um die Belange und den Ausgleich antagonistischer Kräfte, sondern um die wechselseitige Ergänzung. Aber es ist charakteristisch, daß die eingeschliffene Bindung an die Wörtlichkeit der Wahrheit ihn trotz seiner kritischen Beobachtungen nicht erkennen läßt, woher die beschriebenen Verluste methodisch kommen.

Noch bedenklicher ist seine oben zitierte Aussage: „Die Wahrheit geht der Gestalt voraus.” 5 Dies führt etwa zum „operari sequitur esse”, womöglich auch zum Subjekt-Objekt-Schema. Es zerstört vollends Möglichkeit und Verständnis von Gestalt, weil eben die Wahrheit in der Gestalt erscheint und sichtbar wird.6 Die lutherische Kirche ist mit einer Dominanz der Lehre in die Geschichte eingetreten, von der sie sich nicht freizeichnen kann. Hier zeigt sich erneut der immanente Widerspruch zwischen Gloeges Konzeption und der geschichtlichen Wirklichkeit.

Diese generalisierende Rückbeziehung ist auch biblisch nicht zu halten; denn an keiner Stelle sagt der biblische Jesus: „Ich bin die Wahrheit.” Er sagt vielmehr nach dem johanneischen Text: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.” Die transzendente Bedeutung der Wahrheit ist impliziert, aber nicht die alleinige Form, in der sie sich darstellt. Im sakramentalen Geschehen begegnet uns nicht etwas Unwahres, vielmehr die Wahrheit in der Form der Wirklichkeit. Bei dieser Rückbeziehung bezöge sich das Kirchenregiment im Lichte des munus regendi auf den Weg; der Kultus in seiner eschatologischen Ausrichtung des priesterlichen Dienstes („bis daß er kommt”) auf die Zoé. Es können keinesfalls diese beiden munera aus der Prophetie, aus der Wahrheit abgeleitet und ihr nachgeordnet werden.

Dies um so weniger, als sich hier die Gefahr der Einbringung des Subjekt-Objekt-Schemas abzeichnet: denn so könnte durch die (innere) Annahme der Wahrheit ein Subjekt begründet werden, welches die (äußeren) Verrichtungen der Leitung und des Kultus als Objekte seines Bewußtseins und seines Handelns wahrzunehmen hätte. Jene Vorordnung der Wahrheit allein liefert das Evangelium nicht weniger der Selbstmächtigkeit aus wie die Werkgerechtigkeit —, daher ist die Alte Kirche dieser Versuchung in der Erkenntnis und dem Grundsatz der Formel: lex orandi — lex credendi — entgegengetreten.

Die These, daß die abgelehnte Verengung eine Frucht der altprotestantischen Orthodoxie sei, wird weder dem geistigen Rang, der hohen Leistung noch der Notwendigkeit der Ausbildung einer solchen Dogmatik gerecht, deren Entstehung durch die Streitigkeiten des nachreformatorischen Jahrhunderts

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als Folgelast bedingt war. Der Selbstwiderspruch Gloeges läßt erkennen, daß er durch unabweisbare Erkenntnisse in Konflikt mit dem traditionellen Theoriebestand geraten war. Indem er aber den Ausfall von Regiment und Kultus zusammen sah, statt sie einzeln zu behandeln, statt den Text der Bekenntnisschriften über die Sakramente als Postulat für die Wirklichkeit zu nehmen, indem er dann beide gleichberechtigt mit der Lehre zusammenband, erreichte er ein ganz anderes, und zwar erstmalig ein adäquates ekklesiologisches Niveau — nämlich ein trinitarisches, in welchem Providenz (Herkunft und Legitimation), Inkarnation, Präsenz und Eschatologie in der Eucharistie je zu ihrem eigenen Recht kommen, aber nunmehr beieinander bleiben. Dies ist nur ein Anfang, aber ein Schritt, der, einmal geschehen nicht mehr rücknehmbar ist, auch wenn er vorerst nicht beachtet worden ist. Während im Konzil mehr eine Stimmung als eine geklärte Position sich durchsetzt, war es hier zunächst ein einzelner, der einen entscheidenden konstruktiven Schritt von anderem Rang als mühsame Annäherung und dialektische Interpretationen enthält.

Die treffende Schilderung, welche Gloege gibt, verbürgt noch nicht die Richtigkeit ihrer historischen Ableitung. Das präzise — und erschreckende — Bild des denkerischen Mechanismus, den er darstellt, deutet in jedem Fall auf sehr viel ältere Wurzeln und ist ohne Grundlage in den Ansätzen der unmittelbaren Reformationszeit schwerlich denkbar. Es handelt sich auch nicht um den veränderten Aggregatzustand eines homogenen Inbegriffs von Lehren und Vorstellungen. Vielmehr sind hier deutlich zu unterscheiden die Ausdehnung der Doktrin und der Verfall der Bereiche, welche der praxis pietatis, der Erfahrung und Gestaltung, angehören. Beide Bereiche treten deutlich auseinander.

Das erstere zeigt sich schon in der Neigung des späten Luther — aus einer Art Enttäuschung oder Erschöpfung —, immer stärker die Doktrin zu betonen. Melanchthon hat beweglich über die ungebändigte rabies theologorum geklagt, die ja keine nur sekundäre Tatsache ist. Was durch Gloege deutlich wird, ist eine Veränderung des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Das durch die Scholastik begründete Mißverhältnis beider ist durch die Reformation nicht geheilt, sondern eher noch verstärkt und in neuen Formen weitergebildet worden. Gegenstand und Methode geraten immer mehr in Spannung.

Es ist jedoch von hervorragender Bedeutung, daß ein namhafter lutherischer Systematiker den verhängnisvollen geistigen Mechanismus aufgedeckt und einsichtig gemacht hat, einen langfristig wirkenden Ansatz zur Engführung, der erstaunlicherweise bisher nicht erkannt, nicht einmal gesucht worden ist. Gloege versucht, die aufgedeckten Schäden zu heilen, indem er die lutherische Kirche auf die Lehre von den drei Ämtern Christi verweist. Aber niemand auf der lutherischen Seite ist auf dieses Postulat bisher eingegangen. Es fehlt jeder Anhalt, um sie in das vorgeprägte Gefüge der lutherischen Ekklesiologie einzubringen. Der Versuch Gloeges ähnelt dem medizinischen Versuch einer Organverpflanzung, welcher eine Unverträglichkeit des aufnehmenden Körpers entgegensteht.

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Werner Elert allerdings hat eine Neufassung der in Erlangen ausgebildeten lutherischen Ordnungstheologie vorgelegt, um sie aus einer angreifbaren älteren Terminologie herauszulösen. Er sagt:

„Der Nomos Gottes bezeichnet die Gesamtwirklichkeit, in der wir uns vorfinden, als Ordnungsbereich Gottes, aber eben deshalb auch als Zwangswirklichkeit, und den Zwang, dem wir damit unterliegen, nicht als ein fatales Ungefähr, sondern als eine an uns persönlich gerichtete Nötigung.”

Peters erläutert dieses Zitat:

„Im Lichte des auch für Elert erst durch das Christusevangelium wahrhaft eröffneten Schöpferglaubens wird jene alle Menschen einschließende Wirklichkeit dreifach entfaltet, als Gottes Erhalterwalten (Gubernatur), Gesetzgeben (Legislatur) und Gerichthalten (Judikatur)” 7

Beim ersten handelt es sich nach der Interpretation von Peters um ein Seinsgefüge, beim zweiten um ein Sollensgefüge und zum dritten um eine Vergeltungsordnung des eschatologischen Richters.

Was hier nicht zur Erörterung steht, ist die Konversion dieser dreifachen Entfaltung des Gesetzes in das Evangelium, die ich methodisch in meinem Buch „Evangelium und soziale Strukturen” begründet habe.8 Es ist aber deutlich, daß diese Dreiheit einer Analogie zur munera-Lehre fähig ist. Dies wäre neben Gloege der einzige Hinweis für eine Disposition lutherischer Theologie in Richtung auf einen consensus über diese Lehre.

Die Fremdheit dieser Konzeption im Raum der lutherischen Theologie beruht jedoch darauf, daß infolge der allumfassenden und damit unifizierenden Wirkung des Wortbegriffs ein distinktes Nebeneinander von drei eigenständigen Dimensionen oder Momenten des Kirchenbegriffs keinen Ort oder Anhalt findet. In der Ekklesiologie und den entsprechenden sola-Formeln setzt sich eine Monoformität aller Gestaltungen der konkreten Kirche durch: ein Amt, eine einzige Form von congregatio als Gemeinde, eine einzige Trägerschaft der Lehre als wissenschaftliche Theologie,wie die Analyse von Art. XXVII ergibt, und implizit auch die Dominanz der Lehre selbst, welche Gloege als Verengung darstellt.

Gloege hat sich nun in der Durchführung seines Gedankens in zwei Schwierigkeiten begeben: Zunächst durch die zweifache Einbeziehung des Wahrheitsbegriffs, der einmal als Generalbestimmung, das andere Mal in der Lehre als eines der drei munera vorkommt.

Die zweite Schwierigkeit lieft auf ökumenischem Gebiet. Gloege behandelt die ökumenische Frage zwar nur indirekt, aber doch im Ergebnis negativ, indem er gegenüber der pneumatisch bestehenden Einheit konkret-verpflichtende Verbindungen grundsätzlich in Frage stellt. Wichtig ist, daß er mit dem Vorwurft der „Ordnungsgerechtigkeit” gegen Katholizismus wie Calvinismus eine unübersteigbare Grenze zwischen den getrennten Kirchen aufrichtet.

Wenn er auch nur die beiden Konfessionen nennt, so muß er dieses Urteil praktisch auf sämtliche verfaßten Kirchen ausdehnen, die in mehr oder minder verschiedener Weise Verfassungselemente für essentiell halten. Dies würde ihn

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konsequent bis in die frühe Kirche zurückführen, bis vor Ignatius, und eine Erneuerung der Abfalltheorien bedeuten.

Das würde bedeuten, daß die lutherische Kirche sich in völliger Isolierung befindet und sich zwar nicht als „allein seligmachende”, aber doch als „allein freimachende” verstände.

Das Ergebnis ist absurd. Während Gloege selbst seiner Kirche den Mangel an Kirchenregiment vorhält, wären alle übrigen Kirchen hier ihrem Anathema wegen Gesetzlichkeit unterworfen. Gloege und Tillich stellen in ihrer Kirche den Schwund oder Ausfall der gottesdienstlichen Dimension fest. Es ist aber schwer vorstellbar, daß die von Gloege geforderte Parallelität und Gleichläufigkeit aller drei munera verwirklicht werden kann, wenn nicht Verfassung und Gottesdienstformen eine wesentliche höhere und andere Rolle und Dignität erhalten als bisher. Zugleich aber wäre die lutherische Kirche, die dies versäumt hat, angeblich die einzige, die hier frei von Gesetzlichkeit zu sein vermöchte. Das ist die Quadratur des Zirkels, Widerspruch oder Anmaßung oder beides.

Eine Untersuchung des Begriffs „Ordnungsgerechtigkeit” in der konkreten Anwendung zeigt aber, daß dieser sehr viel schwieriger nachzuweisen ist als die pauschale Ablehnung behauptet.

Das Urteil Gloeges über den Calvinismus ist schon insofern irrig, als dieser allein dem geistlichen Amt den Charakter des ius divinum zuspricht, während die übrigen Ämter ihrer pluralen Ordnung nur als solche guter biblisch-kirchlicher Tradition verstanden werden. Sonst wäre eine gegenseitige Anerkennung der Ämter in der Leuenberger Konkordie — die allerdings ohne konkrete Prüfung des Amtsverständnisses und der Ordinationsformen der Beteiligten erfolgt ist — unmöglich gewesen.

Eine wichtige Erläuterung zu diesem Problem ergibt sich aus einer Stellungnahme des Theologischen Ausschusses der VELKD, die im Zusammenhang mit Arbeiten über die Rechtfertigungslehre zu folgenden Aussagen kommt:

„Daraus aber ergibt sich, daß über diese Institution der Verkündigung des Evangeliums und des Glaubens hinaus keine kirchliche Ordnung als menschliche Tradition conditio salutis sein kann (CA XV). Kirchliche Traditionen sind Ausdruck des Heilsempfangs. Wo Zweifel an dieser ihrer Dignität besteht, wo sie als ,Zusatzbedingungen’ zum Heilsempfang neben den Glauben an das Evangelium treten, da sind nach reformatorischem Verständnis die christliche Freiheit und damit das Heil überhaupt gefährdet. Das reformatorische Bekenntnis ist deshalb verbunden mit einer Kritik kirchlicher Institutionen und Traditionen, die nach reformatorischem Verständnis die christliche Freiheit und damit das Heil überhaupt gefährden, und die sich nach reformatorischem Verständnis nicht als Ausdruck des Evangeliums begreifen lassen (CA XXI ff.).”

Die Erklärung bringt einen wichtigen Begriff, den der „Zusatzbedingungen”, deren Vorliegen also erwiesen werden müßte. Wenn beispielsweise das Abendmahl

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nur für und unter Getauften gefeiert werden kann, so handelt es sich offensichtlich nicht um einen „Zusatz”, sondern um eine immanente, unbestrittene Voraussetzung. Unbestritten ist ferner auch auf der katholischen Seite, daß die Kirche zur Abänderung der essentiellen Merkmale der Sakramente nicht befugt, wohl aber zu einer sinngemäßen Ausgestaltung verpflichtet ist. Es kann sich also dann entweder nur um unterschiedliche Interpretationen des aufgegebenen Handelns oder um die Frage der Legitimation der beteiligten Personen handeln. Der weitverbreitete Gedanke etwa, daß die Sakramente grundsätzlich nur innerhalb der pneumatischen Gemeinschaft der Kirche ihren legitimen Platz haben können, läßt sich verschieden ausdeuten. Es stellt sich dann die Frage, ob die in diesem Horizont u verstehende Lehre von der apostolischen Sukzession durch den Begriff des „Zusatzes” zutreffend bezeichnet werden kann. Andererseits können liturgische Formen, die sich selbst nicht als notwendig (Bedingungen gültigen Handelns) verstehen, nicht zum Gegenstand des Vorwurfs gemacht werden. Hier macht sich die in den Bekenntnisschriften immer wieder erschwerend auftretende Verzahnung von Grundsatz und Mißbrauch für die Klärung hinderlich bemerkbar. Die weitreichende Revision der katholischen Liturgien nach dem II. Vatikanischen Konzil und die Papstwahlordnung wären für die Würdigung dieser Tatbestände wesentlich. In dem Augenblick nämlich, in dem der Papst die Vollgewalt erst durch bzw. vermöge der Bischofskonsekration erlangt, also der besondere Rechtskreis eines transzendentalen Kirchenrechts aufgehoben und in die epikletische Ordnung zurückgenommen ist, entfällt das Erfordernis der Legitimation sakramentalen Handelns durch eine Instanz, die aus dem Gefüge des epikletischen Kirchenrechts herausragt. Die Substanzierung dieses Vorbehalts als „Zusatz” ist also notwendig, aber nicht so selbstverständlich wie angenommen. Denn das Problem der Kirche als Geistgemeinschaft tritt neben die Frage der inhaltlich-gegenständlichen Bestimmtheit des Handelns. Ist etwa das pneuma ein Zusatz zum Stiftungswort? Hier zeigt sich das Phänomen dualer Strukturen, welche Person und Handlungsinhalt verbinden.

Der von Gloege beschriebene Tatbestand wird schon von Friedrich Brundstäd in seiner Schrift „Die Kirche und ihr Recht” 9 berührt. Er warnt hier zugleich vor Übersteigerung wie vor Entleerung des kirchlichen Rechts. Vorsichtiger als Gloege sieht er die reformierte Kirche in der Gefahr, auf den Abweg des geistlichen Rechts und der Gesetzlichkeit, umgekehrt die lutherische Kirche in eine falsche Veräußerlichung und Vergleichgültigung der Rechtsformen zu geraten.

Er versucht, dies durch die Formel auszugleichen:

„Die Wahrheit der Kirche besteht nicht in bestimmten Verfassungsformen; aber die Kirche kann sich ihrer Wahrheit gemäß in bestimmten Formen recht auswirken und ist durch andere im Dienst an ihrer Wahrheit gehemmt und gelähmt.” (22)

Brunstäd und Gloege bestätigen sich gegenseitig und berechtigen zu der

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Aussage, daß dieser Tatbestand als gesichert erscheint. Aber Gloege sieht die Situation in ihren Auswirkungen schärfer. Der konkrete Raum für die Verwirklichung zeigt sich nicht nur als ein Pfad, der nach beiden Seiten am Rande von Gefahren verläuft. Er ist vielmehr so schmal, daß der Versuch, dem einen wie dem anderen zu entgehen zu einer Art ständigem Balance-Akt wird, kein Weg für gewisse Tritte. Diese Dialektik hebt sich in der Praxis selbst auf und führt durch ihren eigenen Ansatz in die bloße Banalität alltäglicher, pragmatischer Entscheidungen. Dieser Konzeption muß ein Fehler zugrunde liegen, der es verhindert, mit unbefangener Gewißheit die notwendigen Dinge zu tun und festzuhalten.

Wenn die vorreformatorischen Kirchen das sie trennende Anathema von 1054 aufgehoben, die Reformierten ihre Beschimpfung der Messe suspendiert, Karl Barth in „Ad limina Apostolorum” mit Heiterkeit bezeugt hat, daß der Papst nicht der Antichrist sei,10 wenn die beiden reformatorischen Konfessionen sich in der Leuenberger Konkordie Kirchengemeinschaft zugestanden haben, dann sollte die lutherische Orthodoxie, wer sie auch immer vertritt, den fragwürdigen Vorwurf der sogenannten „Ordnungsgesetzlichkeit” gegen andere aufgeben — nicht zuletzt wegen ihrer eigenen, nicht zu verleugnenden Mängel.

Wenn eine Konfession allen übrigen mangelnde Radikalität in Tateinheit mit wenigstens einem Rest falscher Eigenmächtigkeit vorwirft, und sich jetzt mit der Anerkennung ihres geschichtlichen So-Seins begnügen will, kann sie solche Urteile nicht aufrechterhalten.

 

2. Die munera-Lehre — kritische Funktion

Diese Lehre erweist sich a posteriori als ein Schlüssel-Begriff, der sich durch die Evidenz seiner Anwendbarkeit, seine kritische Ergebnisse selbst ausweist und bestätigt. Gloege hat sich nicht die Frage gestellt, ob die historisch-konkreten Kirchen imstande sein können, die Forderungen der munera-Lehre in angemessener und ausgewogener Weise zu verwirklichen: ob nicht etwa gerade ihre Unterschiedlichkeit jeweils zu der Dominanz des einen oder anderen Moments führen müßte und tatsächlich geführt habe. Dann müßten freilich immer die weniger stark vertretenen, rezessiven Kräfte und Aufgaben in einem wesentlichen Sinne in einer Art Perichorese zur Wirkung gebracht werden.

Der Gedanke der munera-Lehre bedeutet einen strengen Maßstab, weil die Verdrängung oder Vernachlässigung eines dieser munera das Urteil begründen würde, daß eine solche Kirche defizient, in der Wahrnehmung ihrer essentiellen Aufgaben säumig, positiv betrachtet einseitig, im Endergebnis also funktional-häretisch ist. Tatsächlich kann man solche funktionalen Häresien in vielfacher Weise konstatieren: sie sind zugleich — ohne diese spezifische

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Erkenntnis und Bezeichnung — Inhalt gegenseitiger Kritik zwischen den getrennten Kirchen.

Die orientalischen Kirchen werfen dem lateinischen Zweig der Kirche Rationalismus und Juridismus vor: d.h. Überziehung der Anforderungen an rationale Durchbildung und Gültigkeit der Lehre, ebenso der rechtsbegriffliche Versuch, pneumatische Tatbestände in rationaler Form als judiziabel zu verstehen und zu entscheiden. Die westlichen Kirchen halten den Ostkirchen vor, daß sie nicht bereit seien, sich den Fragen an die Christen zu stellen, die die Geschichte des menschlichen Geistes neu hat hervortreten lassen, und daß sie einen Mangel an Predigt, Katechese und Sozialethik aufwiesen.

Wenn traditionell und offiziell die Orthodoxie gegen den Rationalismus der westlichen Theologie streitet, so wird nicht deutlich, in welchem Maße und in welcher Weise sie die auch in ihrer Tradition erhaltene bedeutende Rationalität versteht und abgrenzen will.11

Entgegen der Kritik nach beiden Richtungen hat auf dem IV. Kongreß der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen in Regensburg 1978 der lutherische Kirchenrechtler Link ausgeführt, daß z.B. die in Deutschland hervortretenden Streitigkeiten der verschiedenen orientalischen Jurisdiktionen nicht weniger skandalös seien als diejenigen der rationalen Theologen für die Ostkirche.12 — Hier wird sichtbar, daß das orientalische Kirchenrecht so unzulänglich weitergebildet ist, daß die Klärung selbst sehr untergeordneter Fragen weder in der Sache noch durch die Gültigkeit und Autorität der Entscheidungen zustande kommt, daß also die koinonia nicht ausreichend imstande ist, Frieden zu stiften. So stellt sich die Ostkirche als eine solche des Kultus dar, in der Lehre und Kirchenregiment in unterschiedlichem Grade notleidend sind.

Die lutherischen Bekenntnisschriften sind voller Vorwürfe gegen die römische Kirche wegen eines selbstgesetzlich sich fortbildenden oder willkürlich verordneten Kultus, während die Lehre des Evangeliums vernachlässigt werde. Schon die Wirksamkeit der frühen Predigtorden war gegen eine solche einseitige Tendenz gerichtet. Nicht weniger richtete sich nun die Kritik gegen eine Überziehung der Rechte des Kirchenregiments. Viele dieser Vorwürfe hat schon die katholische Gegenreformation gegenstandslos gemacht, — doch die Kritik blieb im Grundsatz bestehen. Aber was Gloege seiner eigenen Konfession vorzuhalten hat, ist die umgekehrte Haltung: Schwinden des Kultuselements und Preisgabe eigenständiger Kirchenleitung. Positive Überziehung und Mißbrauch schlugen in Schwund und Preisgabe um. Geht man also über die abstrakte, zweiwertige Wahrheitsfrage und die Frage des abusus hinaus zu dem Gesichtspunkt der in der munera-Lehre enthaltenen Forderung, unterschiedliche Verrichtungen am Leibe Christi wahrzunehmen und zu verbinden, so sieht man, daß überall funktionale Häresien auftreten. Die Abwehrhaltung gegen solche Mißstände dagegen führt in weitem Umfange zu verfestigten Haltungen der Verneinung, welche gerade die umgekehrte Häresie legitimieren. So ist es im Protestantismus deutlich gegenüber Kultus und Kirchenrecht, wie Gloege ungeschminkt darlegt. Die Weigerung, sich auf bestimmte

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Bereiche einzulassen, oder sie durch minimalistische Behandlung sozusagen ungefährlich zu machen, verstärkt und bestätigt die Gegenhäresie.

Nun kann man der römischen Kirche sehr vieles vorhalten — ich habe dies an manchen Stellen und Gelegenheiten — auch in Rom selbst — getan. Aber man kann ihr nicht abstreiten, daß sie versucht hat, durch eine, mit großen geistigen Mitteln ausformulierte Lehre, eine sorgfältige Tradition und Disziplin des Kultus und eine umfassende Organisation der kirchlichen Einheit, alle drei Elemente verantwortlich wahrzunehmen. Sie hat insofern den Mut zum Sein, den Mut zur Übernahme ihrer geschichtlichen Existenz immer bewiesen. Daß gleichwohl ihr die eine Hälfte der Christenheit, die gleichaltrigen Ostkirchen und die nachgekommenen reformatorischen Kirchen die Zustimmung verweigert haben, zeigt an, daß es nicht nur um die Pluralität der munera als solcher, sondern, „in zweiter Potenz” und unter ihrer Voraussetzung um den logos ihrer Gemeinsamkeit, ihres Innenverhältnisses geht. Denn logos heißt Proportion, wie im Wort „log-arithmus”. Ohne diesen logos gibt es keinen schöpferischen Sinn des Handelns der Kirche und seine Einheit. Dieser logos der munera begründet den Sinn des Handelns der Kirche und seine Einheit, er begründet den Sinn des biblischen Begriffs der oikonomia und oikodomé. Alle Erwägungen über eine Generalbestimmung für Ekklesiologie und Kirchenrecht (denn Kirchenrecht ist das Recht aller munera) setzen die materiale Pluralität notwendig voraus. Sie kann nur in der Weise ihrer konkreten Vermittlung und Wahrnehmung bestehen, also nicht in der Unterordnung unter ein allgemeingültiges Prinzip, sondern in der Wahrnehmung der Bezüglichkeit selbst. Sie ist ein Integrationsvorgang.

Wenn also die katholische Kirche unzweifelhaft mit großer Konsequenz unternommen hat, alle drei munera ebenso wahrzunehmen wie auch miteinander zu verbinden, so zeigt sie sich nur in einem formalen Sinne als ecclesia perfecta — weil sie nämlich jedenfalls keines der drei munera entwertet oder grundsätzlich zurückgestellt hat. Sie hat aber zugleich den logos und modus der Verwirklichung und Verbindung mit der Wirkung verfehlt, daß die andere Hälfte der Christenheit in der katholischen Gestalt und Praxis nicht die angemessene Darstellung und Verfassung dieser munera hat sehen können. Eine Prävalenz des Regiminalen auf der katholischen Seite ist nicht zu verkennen. Die anderen haben protestiert und sind ausgeschlossen worden — das sind zwei Seiten des gleichen Vorgangs. Ecclesia Romana ut societas perfecta profecta est in historia per amputationem membrorum (1054, 1563, 1870). Die Schwierigkeiten liegen zusammen mit jenem Übergewicht der Jurisdiktion im Bereich der Geschichtlichkeit und Rationalität. Ein Bewußtsein dafür findet sich im Konzilsband des Lexikons für Theologie und Kirche,13 daß die Kirche ihren Schwerpunkt von der Jurisdiktion auf die Sakramentalität zu verlegen unternommen habe. Das Programm der „nouvelle théologie” im französischen Katholizismus und den großen Orden kann man geradezu als das Ziel umschreiben, die handgreiflichen und beschwerlichen Disproportionen in Lehre und Regimentspraxis der Kirche auszugleichen. Die Frage nach dem logos der

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Kirche gestellt zu haben, ist die virtus des Heckelschen Versuchs, diesen in der lex charitatis bei Luther nachzuweisen. Aber der logos als modus der Proportionalität ist verfehlt, wenn er keine konkreten portiones verfaßt, deren Diversität eben zu integrieren ist. Das Geheimnis der Kirche ist das Geheimnis ihrer geistlichen Ökonomie. Unifizierung wie Partikularisierung sind schon begrifflich gleich weit davon entfernt.

Die lutherische Kirche hat drei signa ecclesiae — Amt, Predigt und Sakramente. Wenn diese Dreiheit im Vollsinn verstanden und erhalten worden wäre, so wäre es auch um die Frage der Einheit anders bestellt. Wenn das proprium der Sakramente im Verhältnis zur Predigt, und zugleich die Sakramentalität des Amtes mit voller Deutlichkeit bewahrt und ausgebildet, und diese drei als wirkliche perichoretische Einheit verstanden worden wäre, dann wäre eben darum auch die leibhafte Einheit der ganzen Kirche nicht aus dem Blick gekommen. Die akademisch-humanistische und doktrinäre Verengung des Wortbegriffs hat mit dieser lebendigen Einheit auch die Einheit der Kirche entwertet und verfallen lassen.14

Wenn die munera-Lehre drei verschiedene Mandate umschreibt und zusammenbindet, ohne auch Unterscheidung zu zielen, so dient sie im eminenten Sinne der Konzentration. Durch die Verbindung der munera und ihre Gleichwertigkeit schließt sie den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Handlung und Lehre aus. Keines von beiden kann dem anderen vorangestellt werden. Sie trifft sich hier insoweit mit Barth, als dieser in der Dualität von bekennendem und liturgischem Kirchenrecht zwei verschiedene Weisen des Handelns nebeneinanderstellt und zusammenschließt. Nicht die Leitung dort und nicht die Doktrin hier sind ein apriori, aus denen alles abgeleitet wird — und die Eschatologie darf nicht zur Entwertung der vorfindlichen Kirche dienen.

Zugleich ist die munera-Lehre eine überraschende Auslegung des biblischen Berichtes in Acta 2, 42. Dieser kann dem Leser zunächst wie ein idyllisches Bild erscheinen, das Interieur eines Malers, der eine kleine Frühgemeinde, jetzt ohne den Herrn, geduldig und abgesondert, ohne besondere Merkmale in unbefangener Einheit darstellt. In Wahrheit ist dieser biblische Bericht eine gewichtige Aussage: ebenso gefüllt wie folgerichtig. Er verweist auf die apostolische Legitimation und Herkunft, die damit vorgegebene Weisung und Leitung. Er beschreibt das Beieinanderbleiben als congregatio in dieser Legitimität. Er vermeidet es, den schöpferischen Akt der Berufung zu dem Sein in der Gemeinschaft in Gegensatz zu stellen. So bedeuten die Merkmale der Herkunft und Anleitung und des Kultus etwas in ihrer eigenen Struktur. Sie können nicht aus einer vorgängigen Doktrin zulänglich deduziert werden. Dieselbe Gemeinschaft, so geleitet und verbunden, vereinigt bereits Institution und Konstitution, lebt zugleich in Lehre, Anbetung und Eucharistie. Es sind also drei verschiedene Weisen, apostolische Begründung, Existenz als Gemeinde, Lehre und eschatologische Ausrichtung in einem Satz zu einer Einheit zusammengeschlossen. Die frühe Gemeinde wird in aller Schlichtheit in der Analogie

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der Nachfolge gezeigt, indem die stiftende und berufende Begründung im Miteinanderleben bis zum Horizont der letzten Dinge als ein Geschehenszusammenhang durchgehalten wird. Damit umschließt dieser Text gleichzeitig alle drie Formen der Zeit: das Herkommen von dem Herrn, das Leben in ihm und die Ausrichtung auf den kommenden Herrn. Es darf daher die Pluralität der Zeiten, der Zeit und ihrer modi, weder gegeneinander ausgespielt noch ein modus der Zeit als Achse des Ganzen vorgestellt werden. Wenn dies alles aber legitim nicht als Forderung, sondern als Beschreibung gesagt wird, so ist auch die Analogie unanstößig, die dasselbe christologisch in der Selbstaussage Jesu im Johannes-Evangelium wiederfindet.

Gloege war nicht der erste namhafte lutherische Theologe, der seiner eigenen Konfession eine wesentliche Defizienz vorgehalten hat. In der Kritik der Orthodoxie hatte Gloege allerdings den Rückgang auf die Ursprünge dieser Engführung schonend vermieden. Ihm ging Paul Tillich voraus. Seine Arbeiten über das Verhältnis von Protestantismus und Katholizismus machen den ganzen Band 7 seiner Werke aus. Mit prägnanter Schärfe hat er Legitimität und Auftrag der Reformation zwischen Katholizismus und säkularer Autonomie formuliert und verteidigt. Aber gleichzeitig verzeichnet er für die (ihn primär beschäftigende) lutherische Reformation einen konstitutiven Mangel im sakramentalen Bereich Er scheut sich nicht zu sagen:

„Luther brach mit Zwingli, weil eine sakramentsfeindliche Haltung dem mystischen Element in Luthers Glauben unerträglich erschien, ohne daß es Luther gelang, eine klare und konsequente Sakramentslehre zu entwickeln.” 15

Indem er von der „grundlegenden Bedeutung des Katholizismus für den Protestantismus” 16 spricht, erklärt er die Reformation für außerstande, ohne eine Ergänzung ihre Intention, ihren Anspruch, das Ganze des christlichen Glaubens zu vertreten, das proklamierte Miteinander von Wort und Sakrament durchzuhalten und zu verwirklichen.

Er ist der erste Vertreter einer Defizienztheorie. Damit tritt das Konfessionsphänomen in ein neues Licht, ohne daß Tillich dies als ökumenisches Problem ins Auge faßt.

Seine Kritik bewährt sich in der Tatsache, daß es allenfalls noch eine jeweils isolierte Sakramententheologie oder eine solche einzelner Sakramente gibt, aber nirgends eine konstruktive Verbindung von Wort und Sakrament.

Die kirchenrechtliche und rechtstheologische Dimension seiner These lag außerhalb seines Interesses — mein Versuch der Anknüpfung schlug fehl. Wenn er freilich Protestantismus als Religion „der Forderung”, Katholizismus als solche „der Gabe” definiert (124), so war ihm die Beobachtung fremd, daß er hiermit rechtliche Grundbegriffe und Phänomene verwendete, deren Interpretation und Verbindung angezeigt gewesen wäre.

Die Selbstverständlichkeit, mit der er theologisch-kirchliche Probleme von deren institutionellen Formen trennt, zeigt ihn generationsmäßig in einer früheren Zeit — auch das Wort von der „Gestalt der Gnade” bietet ihm weder

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Anstoß noch Brücke. Roger Schütz/Taizé sagt über den Protestantismus in Europa:

„Der Protestantismus deutscher Prägung — man nannte ihn einmal in gewagtem Gegensatz zur ,anbetenden Herzen der Orthodoxie’ und zur ,ordnenden Hand Roms’ das ,arbeitende Gehirn der Kirche‘ — hat der Christenheit zweifellos einen schier unübersehbaren Schatz theoretischer Erkenntnisse, wissenschaftlicher Durchdringung und exegetischer Forschung gebracht. Aber die Wahrheit will nicht nur gedacht und systematisiert, sie will vor allem gelebt sein. Und in Wirklichkeit widersprechen sich die Wahrheit des Lebens und die der Wissenschaft, wenn beide aus Christus geboren sind, niemals.” 17

Zu dieser Schilderung gehört freilich die Tatsache, daß es im Bereich des Weltprotestantismus allein im deutschen Sprachgebiet, in den Niederlanden und bei den Waldensern, eine Kirchenrechtslehre und ein entsprechendes Problembewußtsein gibt.

So gewiß Schütz mit seinem Schlußsatz Recht hat, so gewiß stellt sich damit in einer sehr viel weiter reichenden Weise das fundamentale Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Den Theoretiker als eine Person vorzustellen, die imstande ist, das Erforderliche zu tun, indem der Geist ihn als Glaubenden zu dieser Freiheit ermächtigt, reicht für diese Frage gewiß nicht aus. Sie tritt durch die Ausführungen von Gloege und seine Verweisung auf die Parallelität und Unverzichtbarkeit der Dimensionen der Ekklesiologie im Gegenteil erst recht hervor. Wenn eben jene von Schütz beschriebene Fähigkeit und Funktion zugleich verbunden, ja sogar bedingt ist, mit der und durch die Ausblendung anderer, notwendiger gegebener Dimensionen, so verschärft sich diese Frage. Kann man die Kirchen der Reformation als eine Art Vorreiter im Forschen und Bedenken betrachten, wenn zugleich diese Avantgarde gewisse Dimensionen, vor allem aber Existenzerfahrungen in diesen Bereichen zurücktreten läßt oder sogar tendenziell ausschließt?! Es wäre zu erwägen, in welchem Maße die in der römischen Kirche dominierende Praxis und Erfahrung des Kirchenregiments auch in der Verbindung mit dem groß angelegten Versuch, den christlichen Glauben denkerisch zu entfalten, an deutliche Hindernisse und Grenzen gestoßen ist.

Die Bemerkung von Roger Schütz über die drei Teile der Ökumene bringt den Leser in Versuchung, sie mit den Ringparabel Lessings in „Nathan der Weise” in Vergleich zu setzen. Es zeigt sich allerdings gleichzeitig, daß die früher durchgeführte kritische Anwendung der munera-Lehre — die bei Schütz sozusagen durchschimmert —, in der Auslegung weiterführt, weil sie ausdrücklich auf Ausfallerscheinungen, auf das Phänomen der Defizienz hinweist. Wiederum kann man die Schützschen Bemerkungen zu dem Hinweis benutzen, daß das methodische, proportionale Mißverhältnis in bemerklichem Unfang nicht nur auf der katholischen Seite, sondern auch bei Orthodoxie und Protestantismus vorkommt, bei letzterem in einem deutlichen Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis, auf der orthodoxen Seite zwischen Kontemplation und Mystik einerseits, Rationalität andererseits.18

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Wenn man die Stellung und Bedeutung des Protestantismus nicht aus Zielsetzungen und Postulaten oder einer abstrakten Wahrheit entnehmen will, sondern aus den Gaben, die ihm sichtbar verliehen sind, aus deren Bewährung und Wirkungskraft, so stellt sich in der Tat der Sachverhalt und die Frage, welche Roger Schütz formuliert. Ist also etwa der Protestantismus die Speerspitze des kritischen Bewußtseins der Kirche im Wagnis der Wahrheit und der denkerischen Verantwortung des Glaubens, so bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Wort und Wirklichkeit, von Theorie und Praxis, von Glauben und Leben.

Daß diese Frage mit der Verweisung auf die unvermeidliche Differenz zwischen Aufgabe und Vermögen nicht zu beantworten ist, liegt auf der Hand, wenn sie auch allzuoft so dissimuliert wird. Dagegen haben Tillich und Gloege den konstitutionellen Dimensionsverlust — wiederum umbeachtet! — herausgestellt, der mit diesem Fortgang der Kirchen- und Dogmengeschichte verbunden gewesen ist. Man ist versucht, an den Mythos von den sibyllinischen Büchern zu erinnern: für den hohen Preis des vollen und ganzen Glaubens erhält der den Büchern der Weisheit begegnende Mensch am Ende nurmehr eines von dreien. Wer der geistliche Wirklichkeit des Kultus begegnet ist, findet diesen als Protestant in der eigenen Kirche mit dem Anspruch der Gültigkeit und Ganzheit nur in einer höchst gebrochenen Weise, wenn überhaupt, oft in der Hand von Leuten, die wenig oder nichts davon wissen und auch nicht wissen wollen.

Das Analoge gilt für das Kirchenregiment. Das letzte ergreifende Wort Luthers handelt davon. Wer Erfahrung auch nur in etwa und Sensorium für das Wesen öffentlicher Verantwortung und den transsubjektiven Horizont ihrer Wahrnehmung hat, wird empfinden, daß das Kirchenregiment, verstellt durch die verschiedensten Vorbehalte und Mißverständnisse, in der lutherischen Kirche kaum sichtbar ist. Von beiden Seiten, seinen Trägern wie den ihm Anvertrauten, fast zu Tode problematisiert, hat es seine Unbefangenheit und Kraft verloren.

Eine planlose Vielfalt sich kreuzender Mitwirkungsrecht kann jede Leitung unwirksam machen, die wie ein überlastetes Gewässer umkippt. Ein evangelischer Bischof gestand mir, daß das bescheidene Maß seines Einflusses wesentlich auf der Länge seiner Amtszeit beruhe.

Ist dies eine genetische Schädigung gleich der Wirkung von Kontergan, die mit Prothesen ausgeglichen wird — oder sind es chinesische Elfenfüße, die man zu freier Bewegung und Entwicklung losschnüren muß?

Was also, wenn die radikal gesuchte Wahrheit die Wirklichkeit nur verkürzt und ausschnittsweise erreicht, weil sie Dimensionen der Existenz und Erfahrung nicht adäquat erschließen kann — wenn die Wahrheit im Verhältnis zum Weg der Geschichte und zu den letzten Dingen sich uns als partikular erweist, obgleich sie nur universal gültig gedacht werden kann?!

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Anmerkungen zu Kapitel XVIII

1 Gerhard Gloege, Die Einheit der Kirche, in: ders., Heilsgeschehen und Welt. Theologische Traktate Bd. I, Göttingen 1965, 174-208.
2 Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der Evangelischen Kirche Deutschlands, Göttingen 21937/39.
3 Ernst Käsemann, Sätze heiligen Rechts im Neuen Testament, in: NTS 2, 1955, 248-260.
4 Erik Wolf, Ordnung der Kirche, Frankfurt 1961, 501.
5 Gerhard Gloege, a.a.O., 197.
6 Vgl. Kap. VII, Amt und Ämter.
7 Albrecht Peters, Gesetz und Evangelium, Handbuch Systematischer Theologie Bd. 2, Gütersloh 1981, 168.
8 Dombois, Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967, 13 ff.
9 Friedrich Brundstäd, Die Kirche und ihr Recht, Halle 1935.
10 Karl Barth, Ad limina Apostolorum, Zürich 21967, 18.
11 Vgl. Dombois, Gemeinsames Verständnis der Christen hinsichtlich Autonomie und Zentralgewalt in der Kirche vom Standpunkt der evangelischen Theologie, in: Kanon IV/1, 1980, 113-129. (Referat auf dem IV. Kongreß der Gesellschaft für das Recht der Ostkirchen, Regensburg 1978.)
12 Christoph Link, Die Rechtsgrundlage der Ostkirchen nach dem Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Kanon IV/1, 1980, 34-44.
13 Joseph Ratzinger, Kommentar zu den „Bekanntmachungen”, in: LThK, Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil I, Freiburg 21966, 348-361, hier: 354 f.
14 Vgl. Kap. IX Art. VII — De Unitate Ecclesiae.
15 Paul Tillich, Natur und Sakrament, in: ders., Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Schriften zur Theologie I, Gesammelte Werke Bd. VII, 105-123, hier 105.
16 Paul Tillich, Die bleibende Bedeutung der Katholischen Kirche für den Protestantismus, in: ders., a.a.O., 124-132, hier: 128.
17 Dokumenten-Heft der Zeitschrift für übernationale Zusammenarbeit, Verlag der Dokumente, Köln 1957, Nr. 3.
18 Vgl. Anmerkung 11.