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Luther hatte zunächst 1517 — in der traditionellen und als solche keineswegs anfechtbaren Form des Thesenanschlags zur Herausforderung der Auseinandersetzung — in der Form der Prophetie gesprochen und dies in vielfachen Ermahnungen, an den Adel usw., fortgesetzt. Prophetie bedeutet aber eine richtende Verzahnung und Weisung kraft göttlicher Berufung, daß Priester, Könige und Volk auf einem falschen Wege umkehren sollen — die Aufforderung, das andere Verantwortliche etwas tun, was der Rufer selbst gar nicht tun kann.
Ein anderes ist der Streit der Lehre: hier kann der Professor nur seine Erkenntnis der Wahrheit bezeugen, die unabhängig von seiner Person unverrückbar für und wider jedermann gilt. Den Grad der Wirkung muß er der Sache selbst überlassen, so sehr er sie auch vertritt.
Ein Drittes ist schließlich die Haltung des Reformators, der in das Kirchenregiment eingreifend Bestehendes abbricht, umbaut, Neues gestaltet. Hier geht es nicht um die fremden Haltungen und Wirkungen, die Bußruf und Evidenz der Wahrheit selbst hervorrufen. Hier greift er in die sichtbare, konkrete, institutionelle Geschichte ein; hier wird er verantwortlich und kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Er muß gerade auch für die Folgen stehen. Die Differenz dieser Rollen ist bisher nicht genügend beachtet worden: sie sind gegenseitig nicht austauschbar — auch wenn sie sich berühren und überschneiden.
Mit dem Appell an die Stände im weitesten Sinne machte Luther selbst sich dafür verantwortlich, daß nach seinen Grundsätzen alles, was zur Kirche gehöre, im Vollsinn intendiert und ermöglicht würde. Er machte sich haftbar nicht nur für seine Grundsätze, sondern auch für deren Suffizienz, in materialem Sinne für deren Katholizität. Für alles dieses mußte er zunächst in Person einstehen, wurde er selbst in Anspruch genommen. Johannes Heckel betont, wie andere lutherische Autoren, daß Luther das landesherrliche Kirchenregiment nicht gewünscht habe. Angesichts des offenkundigen Vakuums an Organen der Leitungsverantwortung im Programm der Bekenntnisschriften geht er dann unmittelbar mit sichtbarer Erleichterung auf den der Kirche dienstwilligen Landesfürsten über. Die Weichen waren in Wirklichkeit von vornherein gestellt: durch die grundsätzliche volkskirchliche Einstellung Luthers,1 durch die Inanspruchnahme obrigkeitlicher Hilfe, vor allem aber einer — aus einer Gesetzesangst stammenden — tief verwurzelten Institutionsfremdheit Luthers, dem sein Freund Bugenhagen nur mit Mühe die Zustimmung zu den
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niederdeutschen und skandinavischen, nachmals berühmten Kirchenordnungen abringen konnte.
Von dieser Situation haben dann auch die Gegner der Bewegung profitiert. Wie bei der Entstehung der politischen Parteien im 19. Jahrhundert hatte sich zunächst eine progressive Partei gebildet, was folgerichtig zur Bildung einer konservativen Partei führte. Diese wirkte im entgegengesetzten katholischen Sinne genauso wie die ständischen Vertreter der Reformation. Sie befestigte den Katholizismus und drängte nach Vermögen die reformatorische Bewegung in ihren Gebieten zurück. Die Stärke der Reformation, die in dem relativ schnellen Beitritt bedeutender Stände lag, hob sich also durch die parallele Gegenwirkung bis zu einer Art Gleichstand auf. Die religionspolitischen Parteien haben sich nach 1555/1648 in der verfassungsmäßigen itio in partes auf dem Reichstag fortgesetzt.
Das Programm Luthers begründete und sicherte die Durchsetzung der Reformation und verhinderte gleichzeitig ihren vollen Erfolg. Daß die Bewegung trotz ihrer tiefgreifenden Wirkung und gleichzeitigen Popularität keine vollständige Wirkungskraft besaß, zeigt dabei die Lage in der Schweiz, wo, unabhängig von jeder Landesherrschaft, ein Teil der Kantone entschlossen katholisch blieb.
Nach diesen Vorentscheidungen und auf ihrer Grundlage wurde der Prozeß um das Bekenntnis auf dem Reichstag eröffnet. Das Augsburgische Bekenntnis wird gemeinhin als eine Lehrschrift verstanden, die in einer besonderen öffentlichen Streitsituation entstanden ist. Sie ist jedoch zu allererst eine Verteidigungsschrift in einem Rechtsverfahren. Der Gang dieses Verfahrens als solcher muß analysiert werden, um Inhalt, Tragweite, Schicksal und Wirkung dieses Dokuments zu verstehen. Es tritt toto coelo unter ein rechtliches Vorzeichen.
Die CA hat vom ersten Satz an rechtlichen Gehalt und rechtliche Bedeutung. Sie nimmt Rechte in Anspruch und greift in Rechte ein. Lehrschrift ist die CA erst in der Folge geworden; diese Qualifikation ist eine notwendig sekundäre, die die Etablierung einer getrennten bereits zur Voraussetzung hat.
Juristisch handelt es sich um ein Verfassungsgerichtsverfahren vor dem Reichstag, welches für unsere heutigen Begriffen mutatis mutandis vor dem Bundesverfassungsgericht hätte stattfinden können. Naturgemäß gab es damals keine Gewaltenteilung. Auch heute haben freilich in manchen Staaten gesetzgebende Versammlungen einen Rest von richterlichen Kompetenzen.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war ein katholischer Staat. Der römische Katholizismus unter der Jurisdiktion des Papstes war die anerkannte Religion des Reichs, nach damaligem Verständnis zugleich die Voraussetzung für seine Legitimität wie für sein Gedeihen. Die Veränderungen,
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welche von einer Reihe von Reichsständen, Fürsten wie Reichsstädten auf kirchlichem Gebiet vorgenommen worden waren, waren unbestritten Verletzungen des geltenden Reichsrechts, welches die Integrität der katholischen Kirchenverfassung für sein Gebiet verbürgte. Infolgedessen war der Kaiser als Hüter der Verfassung verpflichtet, für die Aufrechterhaltung der katholischen Religion im Reich in ihrem vollen Umfange zu sorgen.
Das grundsätzliche Element der Verfassung und das politische Element der Friedenserhaltung trafen hier, unabhängig von der persönlichen Stellung des Kaisers zu den Glaubensfragen, zusammen. Ein solcher Verfassungsprozeß wurde vor der gesetzgebenden Versammlung des Reiches, dem Reichstag, verhandelt. Parteien dieses Prozeß waren Kaiser und Reich einerseits, die der Reformation zugewandten Reichsstände andererseits, die zugleich selbst Mitglieder der beschließenden Versammlung waren. Dagegen war die Kirche als solche in keiner Form Prozesspartei. Da aber die theologischen Probleme auf der einen Seite nur durch das allein entscheidungsberechtigte zentrale Kirchenregiment in Rom, auf der anderen Seite nur aufgrund der Sachkompetenz der Reformatoren verhandelt werden konnten, waren die Vertreter der Kurie wie die Vertreter der reformatorischen Bewegung, als Wortführer primär Melanchthon, notwendige Teilnehmer an dem Prozeßverfahren, ohne formell Prozeßpartei zu sein.
Das Reich war weder eine Theokratie noch ein Caesaro-Papismus; der Kaiser regierte nicht die Kirche, auch nicht die Reichskirche, und der Papst nicht das Reich. Es ist verfassungsgeschichtlich anerkannt, daß diese eigentümliche Parallelschaltung beider Gewalten eine folgerichtige Konzeption war, die eben darum mit den erwähnten, oft erörterten Begriffen nicht erfaßt werden kann. Waren in dem Verfassungsverfahren also nur der Kaiser, die Reichsstände insgesamt und die lutherischen Stände als Beschuldigte beteiligt und Partei, so war doch gleichzeitig die päpstliche Gesamtkirchenleitung ein notwendiger Teilnehmer des Verfahrens. Denn sie allein konnte die dogmatischen und kanonistischen Entscheidungen treffen und verantworten, die in einem solchen Streit erforderlich waren. Infolgedessen war es legitim, daß diese, nach juristischem Sprachgebrauch „Inzident-Entscheidungen” durch päpstlichen Legaten getroffen wurden — nicht etwa durch Reichsbischöfe.
In genau derselben Rechtslage befanden sich aber auch die Vertreter der CA. Verantwortliche Subjekte des Reichsrechts waren die der Reformatoren zugewandten Stände allein. Aber die theologischen Entscheidungen konnten, wie auf der anderen Seite, nur die maßgeblichen Theologen verantworten. Sie allein konnten entscheiden, für welche dogmatischen Positionen unbedingt gestanden werden mußte, in welchen Fragen, etwa liturgischer oder disziplinarer Art, Variationen und Disposition zulässig waren. Daß es hier zwischen der reichsrechtlichen Verantwortung und den kirchlichen Stellungnahmen eine Grauzone der Abwägungen und Maßgaben gab, ist nicht verwunderlich, aber auch kein bedeutsamer sachlicher Einwand gegen die innere Folgerichtigkeit dieser beiderseitigen Streitgemeinschaft.
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Durch diese Lage ist auch die Textfassung der CA deutlich beeinträchtigt. Die Reformation stand auf der Erfahrung, daß eine hundertjährige, mit nicht geringen Kräften versuchte Reform der Kirche zu keinem wesentlichen Ergebnis geführt hatte. Infolgedessen forderte Luther nicht Reform, sondern Reformation, eine durchgreifende Änderung vom Grundsatz her. Andererseits warben die Reformatoren um Zustimmung. Sie konnten auch, wie immer sie die Aussichten einer Verständigung mit der Gegenseite einschätzten, diese nicht von vornherein für unmöglich erklären oder durch aggressive Formulierungen behindern. Infolgedessen wurde — von Luther ausdrücklich gebilligt — ein wesentlicher Teil der Aussagen in einer sehr milden, reformistisch erscheinenden Fassung formuliert, welche die Grundsätzlichkeit bis zu einem gewissen Grade verdeckt. Dies hat bis in die Gegenwart die Klärung der strittigen Fragen deutlich erschwert. Joseph Lortz hat dies ausdrücklich bedauert.
Unbeschadet der immanenten strengen Logik des Rechtsganges kann man natürlich nicht übersehen, daß dieses Verfahren vor dem Reichstag zugleich ein kirchenpolitisches war. Es ging um die Autorität des Papsttums als solche; und diese hing und hängt bis zu einem gewissen Grade auch von der Praxis ihrer Träger ab. Und diese Praxis hatte seit Generationen vieles dazu getan und weniges unterlassen, die Autorität des Amtes zu belasten und in Frage zu stellen. Die liturgische Hierarchie der ordines ist aus einem meditativen Durchgang durch das Geschehen der eucharistischen Feier entstanden, welches sich in der dreifachen Dialektik von Gesetz und Evangelium auf das Zentrum, die Eucharistie selbst in der Gestalt des Priesteramtes zubewegt. Die regiminale Hierarchie dagegen bildet sich durch die Notwendigkeit, mit dem Höchstmaß an Unabhängigkeit, Übersicht und verantwortlicher Klugheit entscheidende Lebensfragen mit Autorität zu klären. So unabhängig man diese Autorität immer denken mag, so wenig darf man verkennen, in welchem Maße sie von ihren eigenen Substrukturen und deren Intaktheit abhängig ist. Diesen Unterbau aber hatte das Papsttum durch Willkürentscheidungen gerade gegen Fundamentalgrundsätze der kanonischen Ordnung schwer geschädigt. Wenn der Kirchturm baufällig wird und kein Baumeister für die Herstellung Sorge trägt, so wird schließlich auch die Kirchturmspitze samt dem Hahn des Petrus vom Einsturz bedroht. In dieser prekären Lage befand sich das Papsttum, das erst wenige Jahre zuvor das Menetekel des Sacco di Roma an seiner Wand hatte lesen müssen.
Der Verfassungsprozeß hat sich wie andere Prozesse durch den Vortrag und Austausch umfänglicher Schriftsätze abgespielt, in dem die einzelnen Artikel thesenartige Zusammenfassungen von Grundsätzen waren. Insgesamt bedeuteten die Aussagen der CA den Antritt von Beweisen dafür, daß die Grundsätze der vollzogenen Änderung schriftgemäß und orthodox-kirchlich seien. Die präsentierende Einleitung der CA gibt den Willen zur Verständigung deutlich wieder, appelliert zugleich an den Wunsch und die Bereitschaft der anderen Seite, einen tödlichen Streit zu vermeiden. Die Verweisung auf ein unabhängiges Konzil liegt dabei in der Linie der schon im 15. Jahrhundert
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immer erneut erörterten Problematik des Verhältnisses zwischen Papst und Konzil, widersprach aber zugleich dem inzwischen ergangenen päpstlichen Verbot, gegen den Papst an ein Konzil zu appellieren.
Der Prozeßverlauf war wenig glücklich. Wenn auch viele Punkte der CA von der katholischen Seite als unstrittig anerkannt wurden, so erfolgte doch keine klärende Annäherung in den Streitpunkten, welche die Dinge tatsächlich gefordert hätte. Ebensowenig konzentrierte sich etwa durch den wiederholten Schlagabtausch der Streit auf entscheidende Hauptpunkte, an denen sich dann das Ganze entschieden hätte. Dieser Prozeß glich einem Grabenkampf, in dem beide Texte mit wechselnden Glück um kleine Vorteile rangen, ohne operative Ziele erreichen zu können. — Er lief in verzweifelten, immer von neuem ansetzenden Versuchen einer vergleichenden Verständigung aus, in denen schließlich Melanchthon als verantwortlicher Sprecher seine Reputation bei seiner eigenen Partei umsonst aufs Spiel setzte.
Nun kann ein Prozeß nur mit einem sog. „certum petitum” geführt werden, d.h. einem präzise umrissenen möglichen Antrag, dem das Urteil entsprechen soll. Ein solches Ziel lag auf der katholischen Seite ohne Zweifel in der Forderung vor, die angegriffene geltende Ordnung in ihrem wesentlichen Gehalt wieder herzustellen, was Konzessionen und Besserungen angesichts der unbestrittenen Mängel des vorfindlichen Kirchenwesens durchaus nicht ausschloß und sogar voraussetzte. Aber die Erreichung dieses Zieles war bereits 1530 unmöglich. Daß weder verbo, auf dem Wege der theologischen Verständigung noch vi, d.h. mit den Waffen eine Wiederherstellung der alten Ordnung möglich war, hat sich in den folgenden Jahren handgreiflich erwiesen, war 1530 aber vorauszusagen. Sowohl die tiefgreifende Wirkung der reformatorischen Bewegung wie die von den lutherischen Ständen ermöglichte Befestigung und Ausbreitung der lutherischen Kirchenform machten eine Beseitigung des neuen Zustandes bereits unmöglich. Es fehlte also schon damals das Rechtsmoment der Möglichkeit, mindestens der Vollstreckbarkeit. Es ist nicht nötig, die Gründe des näheren darzulegen. Die wechselvollen kriegerischen Auseinandersetzungen und die Erfolglosigkeit des Interims von 1548 zeigen dies genügend.
Ob auf der lutherischen Seite eine präzise entscheidbare Zielsetzung überhaupt vorlag, ist fraglich. Diese Seite erhob den Anspruch, daß die formulierten Grundsätze für die ganze Kirche maßgeblich sein sollten. War dies der Kern des recht verstandenen Evangeliums, so hätte auch der Papst sich in diesem Sinne reformieren lassen müssen. Da der Streit sich jedoch zugleich auf Deutschland beschränkte, trat der relativ unbestimmte Gedanke einer Duldung der evangelischen Verkündigung hervor, unter deren Bedingung etwa der Papst de iure humano anerkannt werden könnte. In welcher Form dies überhaupt möglich gewesen wäre, blieb dabei völlig offen. Da es nicht um die Besonderung eines abweichenden Ritus, sondern um tiefgreifende theologische Unterschiede ging, war keine konkrete Form in Sicht, in der beide Anschauungen in geordneter Weise nebeneinander hätten bestehen können. Eine
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legitime Pluralität verschiedener theologischer Grundkonzeptionen widersprach nicht nur der ursprünglichen Zielsetzung der Reformation, die sich mit einer bloßen Duldung hätte begnügen müssen, sondern war theologisch wie kirchenrechtlich für alle Beteiligten in keiner konkreten Form vorstellbar. Sie konnte auch von der lutherischen Seite daher niemals schlüssig formuliert und vertreten werden. Es blieb dabei die relativ unbestimmte Hoffnung, es könnten auf einem von der päpstlichen Jurisdiktion unabhängigen Konzil sich Hauptgrundsätze der Reformation in der Lehre der allgemeinen Kirche durchsetzen.
Neben der Einführung der CA, welche zugleich mit dem Charakter der Verteidigung den Vorbehalt der Konzilsberufung enthielt, bringt der von Melanchthon verfaßte Schluß eine weitere, rechtlich bedeutsame Note ein. Hier steht der — jetzt wieder angezogene — Satz, daß die CA nichts anderes vertrete als den (rechten) Glauben der katholischen Kirche. Indem die Merkmale der Kirche aus den altkirchlichen Bekenntnissen, hier dem Apostolicum, zitiert werden, beruft sich die Reformation auf den unbestrittenen Grundbestand der altkirchlichen Konzilien. Dies ist keine Spezialität der lutherischen Reformation. Es liegt den Auseinandersetzungen aller Kirchentrennungen im Bereich der Großkirchen zugrunde. So ist die Trennung zwischen West und Ost unter der Voraussetzung der Gemeinsamkeit der ersten acht Konzilien erfolgt. Durch die Berufung auf die Orthodoxie der alten Konzilien wird hier nun die katholische Kirche beweispflichtig dafür gemacht, daß ihre späteren Entwicklungen und Änderungen mit dem altkirchlichen Bestande übereinstimmen. Die Verweisung auf die Alte Kirche versucht, die katholische Seite aus der Rolle des Klägers wie des kompetenten Richters und Wahrers der gültigen Ordnung in die Rolle der Partei zu drängen, die ebenso wie die beklagte lutherische Reformation ihre Orthodoxie und damit ihre Legitimität erst noch beweisen muß. Dies geht über die bloße Verteidigung hinaus. Es ist eine Art Widerklage, die den rechtlichen Horizont des Verfahrens erweitert und verändert.
Der Prozeß ist niemals entschieden worden. Der Reichstag hat niemals geurteilt. Er hat vielmehr lediglich das Ruhen des Prozesses angeordnet und auf unabsehbare Zeit den Status quo legitimiert. Legitimiert word die einzige Lage, welche von keiner der beiden Seiten theologisch und kirchenrechtlich ins Auge gefaßt oder auch nur zulänglich begründet und präzise umschrieben werden konnte. Allein das Unmöglich, Undenkbare wurde nun möglich und denkbar.
Damit sind aber doch drei Entscheidungen gefallen.
Die erste Entscheidung war juristisch gesprochen eine Art einstweilige Verfügung, verbunden mit einem „Arrest-Beschluß”. Der Augsburger Reichstag mußte eine Entscheidung treffen, welche ein Zusammenleben der Parteien ermöglichte. Er legitimierte daher, wie in einem Scheidungsprozeß, sozusagen die Trennung von Tisch und Bett. Zugleich wurde die Lage in dem Sinne eingefroren, daß die Beteiligten den Rechtsstand dieses Termins nicht einseitig und gewaltsam verändern durften. Mit der Duldung der Reformation
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konfessionalisierte er das Reich — mindestens zwei Religionsparteien besaßen nunmehr eine, wenn auch formell vorläufige, reichsrechtliche Anerkennung. Ähnlich dem Edikt von Nantes machte der Reichstag das Reichsgebiet zu einem Flickenteppich konfessionsverschiedener, kirchenrechtlich unterschiedlicher Gebiete. Sodann übertrug er den Ständen die Entscheidung und Verantwortung in der Konfessionsbestimmung. Das war eine entscheidende Ausdehnung und Überhöhung der im Spätmittelalter allmählich ausgebildeten obrigkeitlichen cura religionis. Denn war diese bisher unter der Voraussetzung eines anerkannten Bekenntnisstandes und Kirchenrechts ausgeübt und beansprucht worden, so kam jetzt ihren Inhabern die fundamentale Entscheidung über die Wahl des Bekenntnisses zu — eine Zuständigkeit, welche bisher kein Bischof und Fürst besessen hatte.
In der Sache ist der Reichstagsabschied ein juristisches Monstrum. Ein Gericht hat unter deutlicher Überschreitung seiner rechtlichen Kompetenz eine Entscheidung getroffen, die von keiner der streitenden Parteien gefordert worden war, — die als vorläufig betrachtet wurde, deren Endgültigkeit aber vorauszusehen war. Unbestreitbar war Notwendigkeit und Kompetenz, den Rechtsfrieden wieder herzustellen. Inkompetent dagegen war der Reichstag, die bischöfliche Regimentsgewalt mit dem Recht der Bekenntnisbestimmung (was später zu der Formel cuius regio, eius religio führte) auf die Reichsstände zu übertragen. Der Reichstagsbeschluß war nach dem axiomatischen Satz rechtswidrig: nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet. Die bischöfliche Gewalt stand nicht zur Disposition des Reichstags. Konkret und praktisch lag es wesentlich anders: in den katholischen Territorien wurde die bischöfliche Jurisdiktion ja erhalten. Die Duldung der vollzogenen Reformationen nahm der katholische Kirche nichts, was sie nicht bereits unwiderruflich verloren hatte.
Die Lutheraner aber hatten, teils im Blick auf eine mögliche Verständigung mit der katholischen Seite, teils wegen der Inanspruchnahme der obrigkeitlichen Hilfe für die Durchsetzung der Reformation, teils aber auch mit einem erstaunlichen Desinteresse an allen institutionellen Fragen, nirgends den Anspruch auf eine eigenständige übergemeindliche Kirchenleitung erhoben und theologisch begründet. In dieses Vakuum stieß der Reichstagsbeschluß.
Solche Engführungen und Ausfallerscheinungen darzustellen, überläßt die konfessionelle Theologie den ja theologisch inkompetenten säkularen Geschichtsschreibern. Die Lutheraner haben sich immer wieder darüber entrüstet, daß die geistlichen Reichsfürsten ihre bischöflichen Pflichten nicht erfüllten. Sie beschwerten sich, daß die Bischöfe sich als weltliche Fürsten gebärdeten. Jetzt bekamen sie generell und von Rechts wegen die Fürsten zu Bischöfen. Diese waren zwar verhindert, die iura in sacra auszuüben, also gerade das, was die katholischen Bischöfe mißbräuchlich versäumten. Sie waren jedoch imstande, durch die Verfügung über den Bekenntnisstand das konkrete Handeln der Kirche grundlegend zu bestimmen und zu präjudizieren; sie nahmen außerdem den Großteil der Kirchenorganisation, einschließlich der Personalfragen,
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vor allem die Vocation und Bestallung der Pfarrer, in ihre Hand. Dies aber war noch nicht einmal an den Bekenntnisstand gebunden, der in Gestalt der CA auf dem Reichstag verhandelt worden war. Vielmehr haben schon wenige Jahre danach manche Territorialherren in ihren Gebieten einer dritten Konfession, der reformierten, zur Geltung verholfen. Wenn eine Konfession erklärt, es „genüge” zur Kircheneinheit der consensus de doctrina, wenn aber in keiner Weise zum Ausdruck kommt, wer für diesen Konsensus, seine Herstellung und Bewahrung verantwortlich sei, so ist eine solche Überwältigung durch Ausdehnung der Ansprüche des aufsteigenden Fürstentums leider nur zu gerecht. Es war der Eingang in eine selbstverschuldete Abhängigkeit.
Man kann diese Lage nicht nur forensisch, sondern muß sie auch politisch und verfassungsgeschichtlich betrachten. Die reformatorische Bewegung stellte, mit heutigen Begriffen gesagt, eine außerparlamentarische Bewegung dar. Diese vertrat eine grundsätzliche, radikale Position, verfuhr aber unter den gegebenen Umständen reformistisch. Sie appellierte an alle Inhaber öffentlicher Stellungen, sich zur Reform der Kirche in den Dienst des allgemeinen Interesses zu stellen. Indem eine Anzahl der Reichsstände die Reformation in ihren Gebieten durchführen ließ, entstand im Reichstag selbst eine Art Minderheitsfraktion, die das Anliegen der Reformation aktiv vertrat und passiv verantworten mußte. Die Bewegung drang also in die verfassungsmäßigen Organe ein. Sie deckte sich zugleich durch die Immunität der Reichsstände, die in diesen Fragen nicht direkt und wirksam einer Reichsgewalt unterworfen waren. Diese Immunität gab für den Fortgang der Reformation den entscheidenden Ausschlag. In einem anderen Sinne wie beschrieben teilte sich jedoch die Bewegung. Auf der einen Seite standen die theologisch verantwortlichen Sprecher, Luther, Melanchthon und diejenigen Theologen, deren Votum beachtet wurde, bis hin zu der letzten Prüfung des Textes der CA und deren Billigung. Der andere, regiminale Teil der Bewegung ging auf diejenigen über, die eine Reichsstandschaft besaßen. Es handelt sich also nicht nur um die gemeinschaftliche Vertretung im Verfassungsprozeß, sondern eine faktische Teilung zwischen verantwortlicher Lehre der Kirche und regiminaler Repräsentation.
Die Spaltung von Lehre und Kirchenregiment, die sich zunächst durch den Ablauf der Bewegung und die Reichstagssituation herausbildete, ist dann das Grundmuster der lutherischen Kirchenverfassung in Deutschland über die Stabilisierung von 1555/1648 hinaus praktisch bis 1918 gewesen. Nicht die abstrakte Unterscheidung der verschiedenen Kirchenbegriffe, der ecclesia universalis, particularis, spiritualis, sondern die reale Teilung der Gewalten hat die Dauersituation des landesherrlichen Kirchenregiments heraufgeführt. Der Begriff des praecipuum membrum Ecclesiae war dabei das Feigenblatt für die Blöße des Rechtsverzicht auf eigenständiges Kirchenregiment. So ging es auch nicht darum, ob die Reformatoren sich das so vorgestellt und gewünscht haben, sondern um die Konsequenzen aus dem Ansatz der Situation.
Auch die spätere Unterscheidung der iura circa sacra und in sacra gibt die
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Rechtslage nicht zutreffend wieder: geteilt waren Regiment (samt Gesetzgebung und Personalentscheidung) und Verwaltung. Das Kirchenregiment war preisgegeben, veräußert und damit in seiner geistlichen Dimension auch veräußerlicht. Die Rechtsfiktion titulierte das übergemeindliche Kirchenregiment als fürsorgliche Verwaltung, das geistliche Amt aber in seiner Beschränkung auf die lokale Partikularität als „Regiment”.
Wichtig war in dieser Situation, daß unabhängig von der kirchlichen Bewegung die Tendenz des aufstrebenden Fürstentums zur Verstärkung seines Einflusses auf die regionalen Kirchen ihres Gebiets bestand. Die politische und verfassungsrechtliche Gesamtsituation machte ohnehin eine völlige Trennung des kirchlichen Anliegens von dieser verfassungspolitischen Situation unmöglich. Dies zeigt auch die Reformationsgeschichte in Frankreich und England. Joseph Champion, der große Kenner des Calvinismus und Puritanismus, hat die These vertreten, daß die Katastrophe des Hugenottentums eine verdiente gewesen sei, weil dieses ihr Anliegen mit den Interessen einer politischen Partei, der ständischen Fronde, verbunden habe. Dies setzt freilich voraus, daß eine solche Trennung überhaupt real möglich war.
Die Reformationsbewegungen in Frankreich und England haben es unter relativ vergleichbaren Verfassungsbedingungen verstanden, dieser verhängnisvollen Konsequenz zu entgehen. Der französische Calvinismus und die übrigen calvinischen Länder, wie Schottland und die Niederlande, haben in ihren Synoden Verfassungsorgane geschaffen, welche eben diese Verantwortung der Kirche für ihre eigenen Entscheidungen wahrnahmen.
Die englischen Bischöfe haben zwar mit schlechtem Gewissen die Suprematsakte beschworen und den König als Oberhaupt der Kirche und Verteidiger des Glaubens anerkannt; sie haben aber gleichwohl durch die Aufrechterhaltung der bischöflichen Verfassung und des Primats von Canterbury die Struktur der Eigenständigkeit festgehalten.
Die lutherische Reformation hat keines der großen Verfassungselemente der geschichtlichen Kirche bewahrt — weder das Bischofsamt noch die Synode. Sie hatte kein Organ für Kirchenverfassung — und deshalb auch keine Organe. Nicht nur der Zwang der Lage und die Situation dieser unvermeidlichen Verschränkung, sondern auch die eigene Haltung der Reformatoren hat dazu geführt, daß die lutherische Reformation in Deutschland selbst nicht als Subjekt ihrer geschichtlichen Verantwortung auftrat und aufzutreten imstande war. Dies drückt sich auch in der unbestimmten Weise aus, in der in CA VII von Konsens die Rede ist, der kein spezifisches Subjekt hat, aber praktisch immer ein Konsens der verantwortlichen Theologen sein mußte. Der Konsensbegriff ist hier aber auch in zweifacher Weise relevant. Die Reformatoren beriefen sich auf den magnus consensus, von dem das Bekenntnis getragen sei, d.h. er sei in einer gründlichen, auf alle Folgerungen achtenden Weise geklärt und geprüft, und der große Kreis der Verfasser und Unterzeichner stehe auf jede Konsequenz dafür ein.
Konsens muß aber zugleich als ernsthaft und dringend gewünschtes Ziel der
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Begegnung und Auseinandersetzung, ja eine Notwendigkeit sein, wenn das hohe Gut der Kircheneinheit nicht verloren gehen sollte. Die Entscheidung konnte dann allenfalls abgelehnt werden, wie auch nicht alle Konfessionsverwandten später die Formula Concordiae angenommen haben. Es ist die aus Grundsatz, Desinteresse, Gesetztesfurcht entstandene Lücke, der Leerraum, nicht die Zielsetzung, welche das landesherrliche Kirchenregiment heraufgeführt hat. Dieses hat dann konsequent und ohne Schwierigkeiten die Wiederbesetzung derjenigen Bistümer verhindert, die auf Anhänger der Reformation übergegangen waren. Neben der konsistorialen Verwaltung bestand kein Raum für eine episkopale Kirchenleitung, jedenfalls nicht oberhalb etwa der Ebene des Kirchenkreises oder einer selbständigen Stadtgemeinde.
Entscheidungen ergeben sich nicht nur aus bewußten Grundsätzen, sondern auch aus Desinteresse und Unverständnis für die Notwendigkeit.
Nicht beachtet worden ist bisher, daß durch den Augsburger Reichstagsabschied von 1555, also die reichsrechtliche Duldung des lutherischen Bekenntnisses, eine qualitative Veränderung des Augsburgischen Bekenntnisses selbst von rechtlicher Relevanz erfolgte. Bis dahin waren die CA und die Folgetexte Verteidigungs- und Klageschriften mit einem weitgehend variablen Inhalt. Sie waren ein aposteriori gegenüber den vorfindlichen Zuständen. Mit der Anerkennung von 1555 wurde nunmehr das aposteriori zum apriori. Aus dem Schriftsatz wurde ein Urteil, aus dem Parteiprogramm eine Verfassung. Die Konsequenz dieser Verwandlung aber war, daß die ungewollt entstandene neue Kirche von nun an dem Systemzwang der geschichtlichen Selbstbehauptung unterworfen war. Das zum Streit Formulierte mußte jetzt als die zulängliche Grundlage einer neuen Kirchenform verstanden werden. Korrekturen, Ergänzungen, Verbesserungen mochte es geben, wenngleich keine Tendenz bestand, die CA im Hinblick auf diese Verantwortung noch einmal zu überdenken. Was aber etwa verbesserungsbedürftig war, konnte niemals anders als eine sekundäre Ergänzung verstanden werden. Der erste Rang mußte stehen. Es konnte fortan nicht mehr eingeräumt werden, daß wesentliche Aussagen der CA ergänzungs- oder korrekturbedürftig oder auch nur vorläufig waren. Es mußte angenommen werden, daß alles Notwendige in ihr enthalten, was aber in ihr nicht enthalten, auch nicht notwendig sei. Von da aus ergibt sich eine Irreformabilität der CA, welche freilich im Corpus der Bekenntnisschriften in mancher Hinsicht, wenn auch mit sekundärer Wirkung und Bedeutsamkeit, ergänzt worden ist. Folgeweise hat sich die lutherische Kirche auch niemals bereitgefunden — zwar nicht das historische Dokument als solches zu ändern, was unsinnig wäre —, aber doch notwendige Entscheidungen und Klarstellungen zu vollziehen.
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Aber mit der Umkehrung von der Verteidigung und Rechtfertigung zur Grundlage ist die gefährliche Umkehrung von der Rechtfertigung durch den Glauben zur geschichtlichen Selbstrechtfertigung eingeschlossen, der Aufrechterhaltung der eigenen geschichtlichen Identität — auch in „versöhnter Verschiedenheit”: damit auch die Versuchung zur idealistischen Geschichtsauslegung, nach der sich die Geschichte in der Verwirklichung von idealen Identitäten vollzieht.
Diese Umkehrung ist gerade der lutherischen Reformation zum Verhängnis geworden. So legitim der Rückgriff auf die Heilige Schrift war, so verderblich wurde das Prinzip und die Methode der ständigen Deduktion, die zur Überlastung der Ausgangsbegriffe und der Verengung des Blicks für den Kontext der Wirklichkeit führte. An die Stelle einer metaphysischen Objektivität insbesondere ontologischer Aussagen und logischer Systeme trat die Abhängigkeit von der strukturellen, aber verdeckten Subjektivität, die sich nun wieder an sekundäre, dogmatische Formulierungen halten und anheften mußte. Die Entscheidung einer — übrigens klug und folgerichtig — denkenden Orthodoxie war ebenso die Folge wie deren Konflikt mit den pneumatischen Kräften der Frömmigkeit. Ulrich Duchrow und Lukas Vischer haben in unserer Zeit aus ökumenischer Erfahrung die im Quadrat der Entfernung immer schädlicher werdende Haltung gezeigt. Mit maßvoller Zurückhaltung sagt Vischer im Blick auf das Bekenntnisjubiläum von 1980:
„In dem Augenblick aber, in dem die Confessio Augustana
zum verpflichtenden Text wurde, blieb ungeklärt, auf welche Weise
die evangelisch-lutherische Kirche in Zukunft die Antwort auf
neue Fragen geben werde. Es wurden in der neuen Kirche keine
Strukturen für die Ausübung eines lebendigen
Magisteriums geschaffen. Das einmal rezipierte
Bekenntnis konnte darum nicht in dynamischer Bewegung
weitergeführt und ergänzt werden. Es stellte sich vielmehr die
Tendenz ein, immer wieder zu den entscheidenden Texten des 16.
Jahrhunderts zurückzukehren und neu auftauchende Fragen an ihnen
zu messen. Das Magisterium wird in der
evangelisch-lutherischen Kirche durch die theologische
Interpretation der Bekenntnisse vorgenommen.
Indem die Bekenntnisse immer wieder neu entfaltet werden, werden
neue Fragen von vornherein in einen bestimmten Kontext gestellt,
ja gewisse Fragen können überhaupt nicht mehr gehört werden.
Reformen, die zwar dem Impuls der reformatorischen Bewegung
entsprechen, aber über den Wortlaut des Bekenntnisses
hinausgehen, werden nahezu unmöglich.” 3
Das Urteil des Reichstags beruht auf der rechtlich relevanten Tatsache, daß die streitenden Parteien nicht imstande waren, sich in einen Konsens zu verständigen, aber auch beiderseits zu stark, als daß eine von ihnen unterdrückt werden könnte. Dieses schon geschilderte Patt der Fakten beruhte verfassungsgeschichtlich auf der Zerrüttung der politischen Verfassung des Reichs, die durch die unzulängliche maximilianische Reichsreform nur überdeckt war. Die Bildung eines verfassungsmäßigen Reichswillens, welcher in dieser kardinalen
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Lebensfrage eine Lösung für das ganze Reich ermöglicht hätte, wurde hypothetisch nicht ausgeschlossen, stand aber auch nicht in Aussicht. Die äußere Bedingung für die Behauptung der lutherischen Reformation bestand in der politischen Unfähigkeit und Unwilligkeit der Deutschen, das Reich zu einem Staat umzubilden, ja selbst das Minimum an Gemeinsamkeit und politischer Effektivität herzustellen.
Aufgrund dieses unbestreitbaren Tatbestandes verurteilte der Reichstag die lutherische Reformation, zu dem was sie war, aber nicht gewollt hatte und nicht wahrhaben wollte — zu einer Partikularkirche mit ungeklärtem und gebrochenem Verhältnis zur Universalkirche.
Er verurteilte sie zugleich, etwas zu sein, was es kirchenrechtlich und ekklesiologisch noch nicht gegeben hatte, was nicht gewollt, aber bereits angelegt war, zu „einer” Konfession im Sinne einer Konfessionskirche — neben anderen.
Da der Reichstag aber auf die rechtlichen Formen und Möglichkeiten beschränkt war, die ihm die Reichsverfassung darbot, machte er diese Konfessionskirche zu einer ständischen, d.h. einer Summe von regionalen Summepiskopaten auf der gemeinsamen Rechtsbasis des Reichstagsabschiedes und ohne ein anderes Rechtsband als dieses.
Er verurteilte schließlich und damit zugleich die entstandene Kirche zum Partikularismus. Denn das Subjekt der Kirchengewalt in den Regionalkirchen war der Landesherr. Dieser konnte und wollte seinen Untertanen nicht verbieten, in mannigfacher Weise im kirchlichen Leben und der Reformationsbewegung miteinander zu verkehren und tätig zu werden. Aber Verbindliches zwischen diesen ständischen Einzelkirchen gab es immer nur soweit, als die beteiligten ständischen Bischöfe zustimmten. Die aktiven Träger der Konfessions- und Kirchenpolitik, einschließlich Agendenbildung, Disziplin und Personalentscheidungen, also der gesamten regiminalen Dimension, waren vorweg diese, je nachdem, welchen Ratschlägen oder theologischen Meinungen sie — von Überzeugung oder auch politischem Interesse, ja dem bloßen persönlichen Zufall geleitet — sich zuwendeten. Wenn die drohende Spaltung der Lutheraner eine Konsensbildung erzwang, so lag es wiederum an ihnen, ob sie rezipiert wurde oder nicht. Die Verbindlichkeit der vom Reichstag verhandelten CA reichte nicht soweit, diese als einzige zugelassene Alternative zum Katholizismus festzuhalten.
Diese Sicherung des Überlebens versuchte, verführte und korrumpierte die Verfechter der Reformation. Sie nötigte sie, die auf das Ganze der Kirche zielende Intention aufzugeben, d.h. sie als einen abstrakten Wahrheitsanspruch ebenso aufrechtzuerhalten wie zu vertagen. Sie führte dazu, die Kirche auf dem Bekenntnis aufzubauen und auf dieses zu gründen, statt das Bekenntnis als Zeugnis von der Kirche zu verstehen — eine neue allein seligmachende Kirche, Kern und Stern der Freiheit. Sie führte und verführte aber auch zum Verzicht auf und zur Entwertung aller überregionale Lebensgemeinschaft in der Kirche selbst, wo die partikularen Kirchen zueinander im Verhältnis von kommunizierenden Röhren gestanden hätten. Die einzelnen ständischen
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Kirchen führten zwar unterhalb des landesherrlichen Regiments und mit dessen Zustimmung Visitations- und Leitungsorgane ein. Aber diese hatten außerhalb der Region keine Bedeutung, keine kirchenrechtliche Standschaft. Absque principe hatte diese Regionalkirche keine Rechtssubjektivität und Rechtsqualität. Ähnlich wie die Trennungsgesetzgebung von 1905 in Frankreich zu einer der gallikanischen Kirche bis dahin unbekannten Steigerung und Wirksamkeit der römischen und bischöflichen Autorität führte, verlieh der Reichstag dem Summepiskopat Befugnisse, wie sie in der alten Kirche — wie Helmut Adamek schon vor langen Jahren gesagt hat — nicht einmal ökumenische Patriarchen beansprucht haben. Denn selbst die verweltlichten Bischöfe der vorreformatorischen Zeit waren doch immer, in dem, was sie kirchlich taten, mit und ohne Papsttum, an den gesamtkirchlichen Zusammenhang gebunden.
Der Augsburger Religionsfriede stellte also die Funktion des Augsburgischen Bekenntnisses auf den Kopf und verführte in der Folge mit steigender Wirkung die lutherische Theologie zu einer apriorischen Ableitung der Lehre von der Kirche aus diesem als vollständig und ausschließlich verstandenen Text. Die weiteren Folgen des Friedens waren zunächst verborgen. Es wurde keineswegs das Augsburgische Bekenntnis als solches anerkannt und die curatores religionis in der klaren Alternative zwischen römischer Obödienz und Reformation zu einer Aufrechterhaltung verpflichtet. Sie erhielten vielmehr die cura religionis ohne materiale Bindung. Zum befremdeten Erstaunen der lutherischen Theologen begannen alsbald Reichsstände — ein Jahrhundert vor der Anerkennung einer dritten Konfession — ihre Gebiete zu calvinischeren, ohne daß es einen rechtsrechtlichen Behelf dagegen gab. Mehr noch: diese allgemeine cura bot in der Folge die Grundlage zu höchst unterschiedlichen Formen der Religions- und Konfessionspolitik. Sie veränderte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die Konfessionsstände auf verschiedenste Weise bis zur Verwirrung. Auch Verwaltungsunionen, die den Bekenntnisstand als solchen nicht veränderten, veränderten in spürbarer Weise und erheblichem Grade die Identität der Betroffenen.
Eine weitere ebenso schwere Folge war die Abspaltung der Personaljurisdiktion und des ius liturgicum aus dem proprium der Kirche. Konnte der Inhaber der cura in die „iura in sacra”, d.h. Predigt und Sakramentsverwaltung, materiell nur durch Änderung oder Abschwächung des Konfessionsstandes eingreifen, so bestimmte er doch fast ausschließlich die Personalentscheidungen, nicht weniger aber durch sein Ordnungsrecht die Gestaltung der liturgischen Formen.
Hatte die CA — im Blick auf die offenzuhaltende Verfassungsfrage — mit keinem Wort etwas darüber gesagt, wer den Konsens bestimmte (VII), wer berufen sei, in das Amt zu berufen (XIV), so nahm das Reichstagsdekret der Kirche die Personaljurisdiktion ebenso fort wie die Bestimmung ihrer Vollzugsformen. Die Spaltung des Kirchenbegriffs in Ausrichtung von Wort und Sakrament auf der einen, iurisdictio und Lebensordnung auf der anderen Seite ist von der sachlichen Scheidung der Begriffe iura „in sacra” und „circa
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sacra” verdeckt und aus dem Bewußtsein verdrängt worden. Die Unterscheidung von Kirche und äußerem Kirchenwesen war, soweit sie sinngemäß möglich war, hier von vornherein verfehlt. Denn die Auswahl der Amtsträger wie die Gestaltung der Vollzüge gehört notwendig in das proprium der Kirche und ist nichts „Äußeres”.
Dies wäre freilich nicht so leicht ertragen worden, wenn nicht von vornherein Wunsch und Tendenz bestanden hätte, sich der verdächtigen Macht zu entäußern und sich auf die unmittelbare Eigentlichkeit zurückzuziehen. So wurde durch die cura religionis der einzelnen Stände jedes direkte ekklesiale Band zwischen den Einzelgebieten verhindert und die Beziehungen auf den tatsächlichen, aber immer kirchlich unverbindlichen Austausch beschränkt. So gab es zwar zahllose Kirchengebiete, aber keine Kirchen, welche Subjekte ihrer kirchlichen Existenz waren. Reste solcher Identität gab es hier und dort, aber sie besaßen jedenfalls keine Verfassungsqualität innerhalb irgendeiner kirchlichen Gemeinschaft außerhalb ihrer selbst. Das Corpus Evangelicorum auf dem Reichstag dagegen war zwar eine konfessionspolitische, aber keine kirchliche Größe. Alles dies ist geduldet, getragen, gedeckt worden durch eine eigentümliche Mischung von gutem Willen, Indolenz, Verantwortungsscheu, Spiritualismus, Partikularismus und Gewohnheit, bis diese Konfession widerwillig durch ganz andere Kräfte zur Eigenständigkeit erweckt wurde.
Wenn heute aber die VELKD der EKD die Qualität als Kirche abspricht, die, weil kein eigenes Bekenntnis, darum auch keine Personaljurisdiktion und kein ius liturgicum habe, so fehlen dieser EKD gerade die Rechte und Prädikate, welche die lutherische Kirche so lange unbedenklich dem landesherrlichen Kirchenregiment als äußerlich anvertraut hat. Und es sind dieselben Lebensgebiete, deren Verkümmerung Gloege Anlaß zu eingreifender geschichtlicher und grundsätzlicher Kritik gegeben hat. Tatsächlich enthob dieses Regiment die Kirche der Verfassungsfrage — und dies kam ihren Neigungen sehr entgegen.
Die Verfassungsfrage ist deswegen so eingreifend, und die Verdrängung so versachlich, weil damit die Subjektqualität des Amtes und der Kirche zum Thema wird. Hier zeigt sich die Wirkung der in Art. V enthaltenen pneumatologischen Vorentscheidungen. Noch immer aber wird heute in diesem Bereich durch die betonte Verwendung des Wortes „Ordnung” die Abwertung dieser Bereiche bestärkt — in Wahrheit ist das, was hier von Rechts wegen zu geschehen hat, die Wahrnehmung zentraler Verantwortungen. Es zeigt sich hier, daß Kirchenrecht in der Sache Pflicht der Kirche ist.
Die Folgen sind in dreifacher Weise verheerend und fast hoffnungslos hinderlich. Entweder wird so eine unveränderte, sozusagen integrale, Konfessionstradition bewahrt — dann tritt im Sinne eines apriorischen Konfessionalismus das Bekenntnis der Kirche an die Stelle des Bekenntnisses von der Kirche. Oder aber die Regionalkirche hat einen variierten, geschichtlich abgewandelten Bekenntnisstand, der sie mit anderen auf der Ebene kirchlicher Vergemeinschaftung inkommensurabel macht, — und schließlich haben alle Regionalkirchen wie das Gold des Midas den Souveränitätsanspruch des verflossenen
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Summepiscopus geerbt. Denn wenn und weil die fast unbeschränkte kirchenrechtliche Souveränität der Reichsstände jeder wirksamen Einordnung in die übergreifende kirchliche Gemeinschaft konstitutiv entgegenstand, wird jetzt der Bekenntnisstand als eine historisch wie territorial vorgegebene, auch der synodalen Gesetzgebung — lies überhaupt Entscheidung — entzogene Gegebenheit unantastbar, weil nicht mehr die Letztentscheidung historisch vergänglicher Legitimitäten, sondern das gebundene Gewissen in seiner vorgeformten Gemeinsamkeit nicht entbunden oder verändert werden kann. So gibt es — im Gegensatz zu dem, das Jahrhunderte hindurch aufgrund der alten Reichsverfassung geduldet werden mußte — in der Freiheit selbst keine Entscheidung mehr, sondern nur noch Auslegungen und Anwendungen oder die stillschweigende Suspension von schlechten oder guten Grundsätzen. Entscheidungen werden nicht mehr gewagt, sie könnten Spaltungen hervorrufen; dies aber würde der Katholizität der Landeskirche als solcher widersprechen.
Was diese Korruption nun vollends enthält und beleuchtet, ist zugleich die Tatsache, daß die lutherische Lehre von der Kirche keine Lehre über die Regionalkirche ausgebildet hat. Sie hat die Notwendigkeit einer regionalen Aufsicht und Leitung vernünftigerweise niemals geleugnet. Aber der so entstehende Verband, der ja etwas anderes ist als die Gemeinde, ist nirgends reflektiert. Das beruht darauf, daß jede konkrete Verbindung von Regionalkirchen aus Ausdruck der Universalität der Kirche, als verbindlicher, zugleich lebenswichtiger und fruchtbarer Austausch aus dem Blick gekommen ist. Die universale Kirche ist mit durchschlagender Wirkung spiritualisiert und die legitime Möglichkeit ihrer Konkretion ausgeschlossen. Dadurch wird die Regionalkirche, der Gemeindeverband nach der einen Seite, nämlich als Vermittlung zur Gesamtheit der Kirche zum bloßen Überbau, der seine Unvermeidlichkeit und Dienstbarkeit beteuert, zugleich des Machtmißbrauchs und der bürokratischen Selbsterhaltung konstitutionell verdächtig. Man treibt den Geist aus und beschuldigt die Hülle.
Die Frage, ob Luther und die Reformatoren das landesherrliche Kirchenregiment gewollt haben, ist allgemein wahrheitsgemäß verneint worden. Diese Frage als solche sollte ausgeschlossen werden, weil und wenn sie zu der Meinung führt, mit ihr werde etwas beantwortet. Denn es geht um die Frage, warm die lutherische Kirche sowenig bestrebt gewesen ist, sowohl die Eigenständigkeit wie die Gemeinsamkeit der Kirche zur Geltung zu bringen. Es geht nicht um ihren aktiven Willen, sondern um ihre Passivität, nicht um die Aussagen, sondern die signifikanten Lücken. Auch in der Kirchengeschichte ist nicht nur das wichtig, was ausdrücklich und absichtlich getan, sondern ebenso das, was stillschweigen nicht getan wird, was einem typischen Desinteresse Ausdruck verleiht.
So mußte Heinrich Vogel gelegentlich im Rückblick auf 1933, nicht als theoretische Erwägung, sondern aus historischer Erfahrung sagen:
„Die Frage nach dem Regiment der Kirche ist über uns gekommen wie der Dieb in der Nacht, jedenfalls über uns Lutheraner…
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Allzu lange und allzu tief hatte sich bei uns weithin die Meinung festgesetzt, daß die Frage nach der sog. ,äußeren Ordnung’ die Kirche peripherisch, adiaphor, unwesentlich sei, eine Frage, deren Beantwortung die Substanz der Kirche nicht berühre, die also nicht als Bekenntnisfrage gewertet und entschieden werden dürfe.” 4
Nun ist das zentrale Interesse der lutherischen Reformation die These, daß der Mensch vor Gott nichts ist, es sei denn durch das Wort Gottes und mit diesem. Diese Verbindung läßt sich am ehesten in der gemeindlichen Wortverkündigung verifizieren, wo Wort und Mensch unmittelbar redend und hörend verbunden sind. Dies führt zu der Ideologie der Unmittelbarkeit, weil nur die in diesem Sinne unmittelbaren Vollzugsformen die Vermutung der Gültigkeit haben.
Es gibt Recht nicht ohne Träger von konkreten Rechten, und irgendwo und in irgendeinem Maße muß eine Legitimation dieses Rechts aufweisbar sein. Also muß es ein Rechtssubjekt geben, wenn es Recht gibt. Es gibt dieses Recht nicht ohne irgendeine Form der Rechtsgemeinschaft, also jeweils andere Rechtssubjekte, denen gegenüber Rechte bestehen und kraft Rechts gehandelt wird. Die Wirkungen beschränken sich aber nicht auf das Verhältnis etwa zweier Rechtssubjekte allein, sondern sind immer direkt oder indirekt mit sozialen Drittwirkungen verbunden. Vollends wirken die Rechtsakte als Veränderungen der realen und sozialen Wirklichkeit immer innerhalb der Geschichte. Wenn also die Kirche irgendwie im Sinne ihres Auftrags handelt, so handelt sie in diesem Sinne im Recht; sie kann deshalb die Frage nach der Legitimation der handelnden Personen, die Beantwortung der Frage „quis iudicabit?” nicht verweigern und auch nicht dem Zufall beliebiger Situationen überlassen.
Die Antwort auf diese Frage aber verweigert die CA. Dies läßt sich nicht mit der Situation der Kontroverse und des versuchten Ausgleichs erklären. Denn auch später hat die lutherische Kirche und Theologie diese Frage weder prinzipiell gestellt noch pragmatisch beantwortet. Wenn man etwas 400 Jahre hindurch versäumt, kann man sich auf eine verjährte Situation nicht mehr berufen. Die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben bietet hierauf keine Antwort — sie kann aber auch nicht dazu benutzt werden, um diese Frage zu dissimulieren. Sie kann vor allem diese Probleme und diese Notwendigkeit nicht absorbieren. Das Ausweichen vor dieser Frage wird beispielsweise in den lutherischen Ordinationsliturgien deutlich, wo die Frage, wie über die Vocation entschieden worden ist und wer als Ordinator handelt, tendenziell ausgeschieden wird und höchstens bruchstückweise und ohne klaren Sinnzusammenhang auftritt. Luther, Melanchthon und Bugenhagen sind sich der Legitimationsbedürftigkeit ihres ordinatorischen Handelns in Wittenberg sehr wohl bewußt gewesen und haben für sich eine Art aktuelle Theorie und Praxis gefunden. Das Grundsatzproblem aber blieb offen. Es handelt sich nun einmal hier um die personale Legitimation bestimmter Personen und das heißt um ein pneumatologisches Problem. Das eigentümliche Verhältnis von Wort und Geist in CA V in einer rein passivischen Struktur steht nicht nur der
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Lösung, sondern schon der Stellung dieser Frage entgegen. Denn hier geht es um die Legitimation aktiven menschlichen Handelns. Hier geht es auch nicht um Akte einer in die Welt entsandten ermächtigten Freiheit, sondern um geistliche Entscheidungen innerhalb der communio sanctorum.
In der anglikanischen Sicht der CA wird eine interessante Akzentuierung der Unterschiede deutlich. In den 1538 vereinbarten lutherisch-anglikanischen Artikeln wird zum „rite vocatus” von Art. XIV zusätzlich gesagt:
„das heißt, berufen von denen in der Kirche, in deren Hände durch die Gesetze und Bräuche der jeweiligen Region in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes das Recht gelegt worden ist, Menschen zum Amt zu berufen und zuzulassen…” 5
Für die Anglikaner erscheint es undenkbar, die Frage der Aktivlegitimation zur Berufung unerörtert zu lassen, die in der Regel den Bischof meint. Dies ist zunächst eine formale Lösung und Zurückweisung, durch die die grundsätzliche Frage der Sukzession und Personaltradition nicht berührt ist. In der CA stehen die Notsituation und die Gleichgültigkeit oder Zurückhaltung gegenüber dem Problem der personalen Legitimation nebeneinander. Auf alle Fälle bleibt die Vocationskompetenz als Grundsatzproblem ungeklärt, sie kann an Landesherren, Konsistorium, Patrone fallen oder einigermaßen beliebig behandelt werden.
Wir befinden uns hier wohl in der Nähe des Quellpunktes der lutherischen Rechtsneurose — eine bestimmte exklusive Auslegung der Rechtfertigungslehre wird zugleich zur ideologisch-inklusiven — alles oder nichts: nichts und alles zugleich, aber dazwischen in der Konkretion ein Vakuum.
Man kann den Ausgang der Reichstagsverhandlungen nicht ohne ihren Standort in der Verfassungsgeschichte beurteilen. Und in der Tat: Das verfassungsgeschichtliche Ergebnis der Reformation im alten Reich bietet ein merkwürdiges Bild. Die Bottnischen Reichsverfassung verlieh den Bischöfen einen Anteil am Reichsregiment als Ferment der Einheit gegen die zentrifugalen Kräfte der Stammesherzogtümer. Diese Verfassung brach jedoch zusammen, als seit dem Reichstag von Geldhauses 1180 die Stemmesherzogtümer als Verfassungselemente in eine Vielfalt von Territorien aufgelöst wurden. Nunmehr wurden auch die Reichsbischöfe in immer weiterer Ausdehnung selbst Landesherren. So gingen die Herzogtümer Westfalen, Nieder- und Oberlothringen, Franken in bischöflichen Besitz über.
In der zweiten Reichsverfassung, der der Goldenen Bulle von 1356, fielen die verbrauchten und aufgelösten Altstämme für den ersten Rang ganz aus. Nunmehr standen im Kollegium der Kurfürsten drei neue Territorien, Brandenburg, Sachsen, Böhmen, den drei großen Erzbistümern, Mainz, Köln, Trier, gegenüber. Als Traditionsträger der Einheit blieb — wie heute in einem paritätischen Aufsichtsrat — der Pfalzgraf als der Königsrichter im Kollegium, allenfalls Mainz als Reichskanzler.
Die großen geistlichen Territorien als Lückenbüßer für die fehlende Territorialverfassung waren verfassungsgeschichtlich funktionslos und eine
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Sackgasse. Im gewissen Umfange bedeutete dann der Religionsfriede von 1555 eine dritte Verfassung. Denn die eigentümliche Dualität weltlicher und geistlicher Reichsstände veränderte sich jetzt dahin, daß alle Reichsstände gleichzeitig weltliche Stände und Bischöfe in externes wurden, wobei die Unterscheidung der kirchlichen von den weltlichen Rechten keine echte war. Aus dem traditionellen Mißverhältnis, in dem Bischöfe Landesherren waren, wurde nunmehr der erst recht fragwürdige Zustand, daß alle Landesherren Bischöfe wurden. Die Gebiete der großen Bistümer blieben dann im Endergebnis der reformatorischen Bewegung fast sämtlich katholisch. Durch die konfessionelle Zweiteilung wurde das schon vorher nicht reformierbare Reich vollends unregierbar.
Diese kirchenrechtlichen Auseinandersetzungen der Reformation mit der päpstlichen Autorität wurden in einem wesentlichen Maße unter dem Stichwort „ius divinum” ausgefochten. Die Formen der vorfindlichen Kirchenverfassung wären auch von der Reformatoren anerkannt worden, wenn sie als solche iuris humani verstanden worden wären. Damit war jedoch kein Ausweg und Ausgleich gefunden. Der mißdeutbare Begriff des ius divinum verdeckt einmal die Tatsache, daß es das ius divinum immer nur in der Gestalt konkret-geschichtlicher Bildungen geben kann.6 Diese Erkenntnis kann aber nicht dahin umgekehrt werden, daß die fraglichen Bildungen überhaupt nur in einem relativen Sinne innergeschichtlich seien. Mit dem Begriff des ius divinum ist die Frage nach den essentiellen rechtlichen Merkmalen der Kirchen gestellt, die für sie grundlegend und unverzichtbar sind. Dieser Frage konnte auch die Reformation mit der Verweisung auf das ius humanum nicht grundsätzlich aus dem Wege gehen.
Der Begriff des ius divinum ist auch darin mißverständlich, daß man meinen kann, es handele sich um eine unbestimmte Anzahl wichtiger Rechtsgrundsätze, die hier und da im Gefüge der Kirche als vorgegebene hervortreten. Damit wird die Frage nach ihrem inneren Zusammenhang, wie nach ihrem Stellenwert verdrängt. Wenn auf dem Trienter Konzil lange Zeit darüber gestritten wurde, ob die Residenzpflicht der Bischöfe göttlichen Rechts sei, so war das nur im Zusammenhang mit einer Auslegung der bischöflichen Verfassung der Kirche als solcher sinnvoll, also ein bloßes Folgeproblem.
In Wahrheit ist mit der Frage des ius divinum in hervorragendem Maße die Frage nach der Kirchenverfassung gestellt und damit zugleich nach der verfassungsrechtlichen Bedeutung möglicher Sätz des ius divinum. Die alte Kirche besaß zwei Hauptsätze göttlichen Rechtes. Das eine war die Institution der Bischofsgemeinschaft mit allen Voraussetzungen und Implikationen. Der zweite Satz ist das Rezeptionsrecht der universalen Kirche. Dies waren die beiden Achsen der alten Kirchenverfassung.
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Aber eben dieses ius divinum hatte sich geschichtlich in der lateinischen Kirche gewandelt. Aus dem Rezeptionsrecht war der außerrechtliche sensus fidelium geworden, der zu beachten sei, aber selbst keinen legitimierten Rechtsträger hatte. An die Stelle jener alten Dichotomie war die Dualität von Primat und Episkopat getreten. Noch die Lex Ecclesiae Fundamentalis als aktueller Verfassungsentwurf ist auf dieser Dualität aufgebaut. Mit dem Vorhandensein zweier Fundamentalsätze göttlichen Rechts war nicht nur ihr Bestand als solcher, sondern auch ihre Relation von entscheidender Bedeutung. Zwischen der konziliaren Bischofsgemeinschaft und dem Rezeptionsrecht bestand eine Art dialektisches Ergänzungsverhältnis. Das Ökumenische Konzil beschloß und machte seine Beschlüsse auch nicht von dem Beitritt anderer Kompetenzen abhängig. Trotzdem konnten solche Beschlüsse durch die Verweigerung der Rezeption delogiert werden, so wie die Beschlüsse der Räubersynode von Ephesus 431 nicht in kanonische Rechtskraft erwachsen sind.
Im Verhältnis von Primat und Episkopat dagegen trat eine Art einlinige Hintereinanderschaltung in Wirksamkeit. Die Differenz und dialektische Antithese hat sich nur insoweit erhalten und bemerkbar gemacht, als nach dem früher Ausgeführten Papst und Kurie die dogmatischen Beschlüsse des Universalkonzil selbst nicht zu produzieren imstande waren. Im ganzen aber war das System nunmehr in eine Richtung gebracht. Es ist die strukturelle Bedeutung des I. Vaticanums, daß trotz der Anerkennung des Episkopats als divini iuris diese Nachordnung zur letzten Konsequenz geführt wurde.
Daraus ergab sich aber auch die verfassungsrechtliche Konsequenz, daß die von den Reformatoren aufgeworfenen dogmatischen und kirchenrechtlichen Fragen nicht zum prozessualen Austrag kommen konnten. Denn alles, was nicht im Gefüge von Primat und Episkopat thematisch aufgenommen wurde, entbehrte der aktivlegitimierten Vertretung. Wer hier in einen Streit geriet, war nicht Partei in einem auszutragenden Prozesse, sondern von vornherein verdächtig, beschuldigt, angeklagt, die definierte Lehre und gültige Verfassung anzugreifen. Es gereicht den großen Kardinälen Contarini und Seripando zur ehre, daß sie sich selbst zum Anwalt des Wahrheitsgehalts der Reformation gemacht haben, um den Streit aus dem Bereich der Disziplin und des Strafrechts in die Form des Prozesses der Lehrbildung zu überführen, Contarini durch den Versuch, auf dem Wege eines ehrlichen Vergleichs zum Frieden zu kommen, Seripando auf dem Konzil selbst — auf der Basis theologischer Tradition der Augustiner. Die alte Kirchenverfassung vollzog einen Ausgleich zwischen der Autorität der Bischofsgemeinschaft als dem Hüter der Tradition auf der einen und dem Glauben der universitas fidelium auf der anderen Seite. Sie zielte auf die Einheit und Einmütigkeit ab, aber sie konnte sie nicht verbürgen. Äußere Einflüsse konnten diese Einheit erzwingen, vielleicht auch nur den letzten Schritt zu der sinnvollen Verständigung herbeiführen. In der neuen Kirchenverfassung war durch eine abschließende Kompetenz die Verbindlichkeit im Sinne der Letztentscheidung auf alle Fälle sichergestellt. Der Prozeß kam aber gar nicht erst zum vollen und offenen Austrag, da er schon in der
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vorgegebenen Lehre der Kirche als geklärt vorauszusetzen war. Die Verfassungslage selbst verhinderte den durch die Reformation erforderten Austrag eines tiefgreifenden Anliegens.
Wie problematisch diese Situation ist, zeigt der von Ranke7 plastisch geschilderte Ausgang des Trienter Konzils. Dieses war zeitweilig so zerstritten, daß es zu scheitern drohte. Es kam schließlich zum Ende nur durch eine diplomatische Verständigung zwischen Kaiser und Papst, nach welcher, wie Ranke milde sagt, das Konzil sich „umvieles leichter behandeln ließ”. Trotzdem hat dieses — für unsere Begriffe nur schwach besetzte — Konzil unzweifelhaft gerade in seinen Schlußsessionen die wesentlichen dogmatischen Grundzüge des Katholizismus in seiner Art klassisch formuliert. Auch die herbe Kritik Barths an dem Rechtfertigungsdekret von Trient hat dieser Gedankenarbeit den Respekt nicht versagt.
War nach dieser Lage der aufgetretene Gegensatz konstitutiv in der dogmengeschichtlichen Lage bedingt, und zugleich sein Austrag verfassungsrechtlich unmöglich (weil es keinen offenen Prozeß mehr gab), so blieb nicht das Schisma im alten vertikalen Sinne zwischen gleichstrukturierten Kirchenverbänden, sondern nur noch die Spaltung übrig, welche Teilkirchen, Gemeinden und die einzelnen vor Entscheidungen stellte. Die Reformkonzilien von Konstanz und Basel waren eine Art ständische Repräsentation der gesamten Christenheit gewesen. Neben konzilsfähigen Prälaten im bisherigen Sinne, Kardinälen, Bischöfen, Ordensgenerälen, wirkten hier einfache Kleriker und Ordensleute, Universitätsprofessoren als Vertreter ihrer Fakultäten und ebenso Bevollmächtigte weltlicher Stände mit. Diese völlig andere Zusammensetzung, die der geklärten Rechtsgrundlage entbehrte, wurde gleichwohl von den Beteiligten wechselseitig wie von der Öffentlichkeit der Kirche als rechtmäßig anerkannt, nicht zuletzt angesichts des zwingenden Interesses, das Schisma zu beheben (causa unionis) und der evidenten Schwierigkeit, in anderer Form eine Kirchenversammlung zusammenzubringen.
Eine moderne Versammlung wäre schon bei der Legitimationsprüfung gescheitert. Vollends wäre ohne die Autorität des Kaisers Sigismund und seine diplomatische Fähigkeit dieses Ergebnis niemals zu erzielen gewesen. Die ordentlichen Organe der Kirchenleitung waren praktisch außer Funktion gesetzt, die Struktur ihrer Beschlußorgane fragwürdig geworden. Nach dem Scheitern der Reformbewegung des 15. Jahrhunderts war die Kirche, wie das wenig bedeutende fünfte Laterankonzil (1512-17) zeigt, zu der traditionellen Form der Bischofsversammlung zurückgekehrt. Trotzdem lag, nachdem einmal die Zusammensetzung des Konzils zum Problem geworden war, der Gedanke nahe, bei einem Appell an das Konzil auch von vornherein an eine veränderte Zusammensetzung zu denken. So hat Luther darauf gedrängt, den Universitätstheologen breiten Raum zu verschaffen und auch die weltlichen Stände hinzuzuziehen, die in sehr unmittelbarer Weise die gravamina ecclesiae zur Geltung zu bringen vermochten. Mit dem Appell an das Konzil verband sich also von vornherein der Gedanke, dessen Struktur zu verändern. Denn
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anderenfalls hätte sich Luther lediglich einer Bischofsversammlung gegenübergesehen, die vermutlich von vornherein nicht anders verfahren wäre als der päpstliche Stuhl.
Luther verantwortete sich vor Kaiser und Reich wie vor der Kirche unter der Voraussetzung, daß er sich nur durch den Schriftbeweis „oder durch klare Gründe der Vernunft” überwinden lassen könne und dürfe. Seine zweite, mit der Berufung auf das Konzil sich verbindende Forderung mußte daher sein, von dieser Voraussetzung auszugehen. Dies war eine Veränderung der maßgebenden Urteilsgrundlage. Damit wäre seinen theologischen Gegnern die Beweisführung aufgrund der theologischen und institutionellen Tradition der Kirche abgeschnitten gewesen.
Mit der Berufung auf das Konzil aber war nicht zugleich die Überzeugung gegeben, daß sich diese Überzeugungskraft in einer — womöglich optimal zusammengesetzten — Kirchenversammlung zur Einigkeit der Überzeugung verdichten werde und müsse, so daß von neuem eine gleiche universale Gültigkeit konzilianter Beschlüsse begründet werden könne wie ehedem. Das konnte sein, wenn es Gott gefiel, aber es mußte nicht sein; es war nicht die notwendige Konsequenz des Gedankens. Es konnte vielmehr weit eher so sein, daß gegenüber Beharrung und Eigenwillen nur eine Minderheit sich dem Schriftwort beugte, daß also die wahre Kirche nur hier und dort, partiell, öffentlich oder verborgen in der Kirche oder im Protest gegen die Kirche wirksam und sichtbar werde. Luther bildete keine Anschauung, welche dem Bischofskonzil oder dem Ständekonzil gegenübergestellt oder mit ihnen vermittelt werden konnte. Alle Erwägungen dieser Art sind Theoreme geblieben. Der institutionelle Kompetenzanspruch des Konzils beruhte seinem Ursprung nach auf dem schon früher in Voraussetzungen und Folgen beschriebenen Geistglauben.
Dieser Geistglaube aber kann nicht abgelöst werden von der soziologischen Struktur, in der er sich äußerte. Die Kirche verstand sich als eine pneumatisch-reale Einheit. Das verbürgte keineswegs eine konfliktlose Einmütigkeit, aber ebensowenig eine formell abschließende Kompetenz synodaler Organe. diesen wurde zwar kirchenleitende und disziplinäre Autorität zugebilligt. Was aber in den großen Streitigkeiten über den Glauben beschlossen wurde, trat nur in Rechtskraft durch allgemeine Rezeption, durch freie Anerkennung.
Solange die Rezeption rechtens und das Schisma legitim ist, ist das konziliare System auch kein geschlossenes. Hier gibt es auch keine Mehrheitsentscheidung, sondern nur Beitritt oder Ausschluss. So sind denn einzelne Dissenter ausgeschieden und haben mehr oder mindere große Gefolgschaft gefunden, Sondergruppen von begrenzter Dauer gebildet.
Ebenso hat die Großkirche Flügelgruppen ausgeschieden, wie sie noch heute in den schismatischen orientalischen Kirchen fortbestehen. Heute ist man im Begriff zu überprüfen, ob die damaligen terminologischen Unterscheidungen auch im eigentlichen Sinne kirchentrennend hätten sein müssen.
Zu der direkten Konfrontation zwischen Luthers Position und der anerkannten Kirchenverfassung, damit zugleich aber auch zwischen Wortglaube
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und Geistglaube, konnte es nur dadurch kommen, daß gerade das konziliare Verfassungssystem aus einem offenen zu einem geschlossenen geworden war. Nunmehr waren die Beschlüsse des Konzils ex sese, ipso facto, mit der päpstlichen Bestätigung gültig. Man vergleiche einmal die christologischen Streitigkeiten der Antike nach ihren kirchenrechtlichen Verlauf mit dem von Luther entfachten Streit über die Rechtfertigung. Ein Jahrhundert ist zuweilen vergangen, bis man sich — nicht ohne erhebliche Nachwehen und Verluste an den Rändern — wieder vereinigt hatte.
Die beschriebene Gegenposition Luthers ist von der katholischen Kritik bis in die Gegenwart, einschließlich der wohlmeinenden Auslegung von Joseph Lortz, als die Preisgabe der Lehre der Kirche an die Subjektivität der Ausleger verstanden worden. Dies ist ein Mißverständnis der Meinung und Intention Luthers. Sein Glaube an Evidenz und Einsichtigkeit des Wortes war vielmehr der radikalste Glaube an die Vorgegebenheit und Unverfügbarkeit des Wortes Gottes, die eben darum für die Subjektivität keinerlei Raum ließ, weder für die Subjektivität des einzelnen Auslegers noch für die Subjektivität der Konzilsväter und ihres Kompetenzanspruchs. Genauer: es geht hier über die Subjektivität im erkenntnis-theoretischen und psychologischen Sinne hinaus in strengem Sinne um die Rechtssubjektivität, um die Voraussetzungen dafür, daß in einem theologisch und kirchenrechtlich relevanten Sinn konkrete Subjekte zur Entscheidung berufen und befähigt seien. Nur die durch die lebendige Wirkung des Wortes im Geiste Überführten und Überzeugten können eine solche Entscheidung tragen. Dies braucht weder aktualistisch noch personalistisch verengt zu werden. Es kann sehr wohl zu einem breiten, ja allgemeinen Konsens führen, und in der Kontinuität gesunder Lehre ständig bewahrt und auch zulänglich formuliert werden.
Jenes katholische Mißverständnis ist — wiederum subjektiv — durchaus verständlich. Aber es erklärt ebensowenig etwas wie die gedankenlos-emphatische Wiederholung der gegenseitigen Argumente. Mit der strukturellen Offenheit des Systems, mit der Dialektik von Tradition und Rezeption war nach der Innenseite auch die koinonia als tragende Grundlage der Kirche verlorengegangen, die dem wirksam entgegenstand, daß Objektivität und Subjektivität in Lehre und Kirchenstruktur auseinanderbrachen. Sacramentum coniungit, iudicium decernit. Zwei in ihrer geistigen Struktur gleichgeartete, in sich schlüssige, deswegen aber auch weder judikable noch ausgleichbare Transzendentalitäten standen erstmalig einander gegenüber. Das war der entscheidende Unterschied gegenüber den Reformbewegungen des 15. Jahrhunderts. Es zeigt auch die Unzulänglichkeit noch so bedeutender und wohlmeinender Reformer. Dabei wäre bei dem zeitweiligen Ausfall von Primat und Episkopat der Raum für den Konsens gewesen. Aber der Weg der Reform war bei allem Glaubensernst, Frömmigkeit und gutem Willen ein Weg von unten. Abe weder die Schrift noch theologische Genialität konnten die Schlüssigkeit der dialektischen Antithese begründen, die in der Geschichte der Kirche institutionell wie dogmatisch vorgegeben war: der absolut gewordenen Autorität mußte die offene
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oder verborgene Evidenz des Urteils Gottes gegenübergestellt, der menschlichen Vollmacht der Gehorsam gegen das Wort Gottes.
Die Reformation vollstreckt die immanente Dialektik von Position und Negation in der lateinischen Theologie — zu allererst und weiter am deutlichsten in den institutionellen Formen.
Die mit außerordentlichen theologischen und institutionellen Anstrengungen vollzogene Objektivierung von Dogma, sakramentaler Liturgie und Kirchenrecht, provozierte die Gegenwirkung jener „Subjektivität” und machte zugleich den Austrag des von ihr erzeugten Gegensatzes unmöglich, weil sie selbst auf dieser Spaltung beruhte. Die Annahme, daß die Deformation der kirchlichen Lehre durch den Nominalismus und die dadurch bedingten Mißverständnisse klassischer katholischer Lehre die Reformation provoziert hätten, ist ein traditionelles Mißverständnis. Mit jener Objektivierung, die man am ehesten mit dem großen Namen des Thomas von Aquino verbinden kann, war die Voraussetzung wie die Notwendigkeit einer entsprechenden Gegenposition dialektisch mit gesetzt. Die Vollmacht der reformatorischen Theologie bestand nicht in der Kontingenz der Erfahrungen und Lehren genialer Theologen. Sie bestand darin, daß hier schlüssige Lösungen vorgetragen wurden, die als Antithese vertreten werden konnten. So wie niemand nach der Schrift imstande ist, seiner Länge eine Elle zuzusetzen, sowenig kann ein theologischer Denker die Schlüssigkeit seiner Konzeption sich selbst verdanken, wenn sie nicht als erkennbare Möglichkeit vorhanden ist. Dies macht vollends den schon früher berührten qualitativen Unterschied zwischen Reformation und vorreformatorischer Bewegung aus.
Schlüssigkeit ist noch nicht Begründetheit. Aber unschlüssige Konzeptionen müssen als bedeutungslos beiseitegetan werden. Wer mit solchen unzulänglichen Mitteln an große Fragen herangeht, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er — juristisch gesprochen — a limine abgewiesen und aus jeder Streitverhandlung ausgeschlossen wird.
Die Geschichtlichkeit und Institutionalität der Kirche verbietet es, diese Auseinandersetzung als leeren Theologenstreit oder als eine unvermeidlich unendliche Auseinandersetzung more philosophico im höheren Chor der Gottesgelehrtheit mißzuverstehen. Wieder ist die Frage, ob, wer sich dieser Dialektik entzieht, sich der von der Kirche selbst getriebenen Geschichte des immanenten Geistes entzieht?! Die vom Standpunkt des vatikanischen Katholizismus verwunderliche Stellung des Papsttums in diesem Geschehen ändert nichts daran, daß die Reformation sowohl dem päpstlichen Primat wie der konziliaren Verfassung der Gesamtkirche entgegenstand und für ihren Bereich ein Ende bereitete.
Gegenüber der traditionellen Lehre vom Konzil, die eine institutionelle Autorität in der verbindlichen gemeinsamen Lehrbildung kennt, bietet diese Meinung eine Alternative nicht mehr in einer bestimmten Kirchengestalt, sondern in einem ständigen Widerstreit zwischen der wahren Kirche und der Kirche in der manifesten Gesamtheit. Daraus erklären sich die eigenartigen, anders ganz unverständlichen Vorstellungen von Lehreinheit, die in Band II
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zitiert und erörtert werden. Darum ist diese Alternative niemals geschichtliche Wirklichkeit geworden. Luther wollte die Reformation der allgemeinen Kirche, aber die verschiedenen Konfessionen in der Gestalt partikularer Landeskirchen kamen.
Die zweite Entscheidung über die CA brachte das Trienter Konzil. Dessen Ergebnis hat — mit der Überlegenheit des großen Historikers — Ranke in seiner Geschichte der Päpste in einem Ausspruch klassisch zusammengefaßt, den ich schon früher zitiert habe.
Angesichts des Konzils stellte sich erneut die Frage nach dem certum petitum, die fundamentale Frage: qualis est actio? Luther hat den Art. IV de iustificatione als den punctus stantis et cadentis Ecclesiae bezeichnet. Aber reichte das zur Präzision der Streitfrage aus?
So apodiktisch diese Erklärung war, so vieldeutig war sie objektiv und in Blick auf die Ziele.
Sie konnte heißen, daß man sich — bei Einigung über diesen Punkt unschwer über die übrigen Fragen verständigen könne. Das würde jedoch eine solche Entwertung aller übrigen Lehren und Streitpunkte bedeutet haben, daß eben darum eine Verständigung sich ausschloß.
Sie konnte umgekehrt heißen, daß von jener Hauptlehre implizit alles andere abhängen und sich klären lassen müsse, eine entgegengesetzte, ebenso unannehmbare Konsequenz.
Also: nicht nur diese Lehren als solche, sondern auch ihr Stellenwert, ihre Funktion und ihre Konsequenzen waren im Streit.
Systematisch und historisch war die Rechtfertigungslehre ein allgemein anerkannter dogmatischer locus mindestens der lateinischen Kirche, auf welchen sich deshalb auch die katholische Seite selbstverständlich bis hin zum Trienter Konzil immer eingelassen hat. Diese Lehre stellte sich aber sozusagen in drei konzentrischen Kreisen dar.
Der innere Kreis war der Gedanke, der in Art. IV sehr bündig ausgedrückt ist. Er wendet sich gegen einen kompromißhaften, in der Nähe des Semipelagianismus liegenden Humanismus, der das Geheimnis der Verbindung von Gott und Mensch in einer zumindest zweideutigen Weise darstellt.
Eine orthodoxe Rechtfertigungslehre vorausgesetzt, stellten sich aber und stellen sich bis heute unabweisbare Fragen, ohne deren Beantwortung Lehre und Praxis der Kirche nicht zu denken ist. Es stellt sich die Frage, was der Akt der Rechtfertigung überhaupt ist, eine formale Nichtzurechnung, ein bloßer forensischer Akt an dem je einzelnen, oder besitzt er einen kommunikativen Charakter, der die Gemeinschaft der Kirche mit einschließt? Wie andererseits verhält sich der Gedanke der Rechtfertigung zu der Bewährung des Glaubens im Leben? Denn der Satz von dem „Glauben, der in der Liebe tätig
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ist”, ist keine theologische Erfindung der Katholiken, sondern eine biblische Aussage.
Wie grundsätzlich und aktuell zugleich diese Fragen bis heute sind, ergibt sich aus einer Reihe von Hinweisen.
Bekanntlich haben sich Contarini und Melanchthon über die Rechtfertigungslehre auf dem Regensburger Gespräch 1541 relativ leicht verständigt. Selbst wenn man hier ein Element irenischer Haltung einrechnet, erwies sich, daß eine Einigung hier grundsätzlich möglich war.
Rückert hat die Deutung vertreten, daß die auf dem Trienter Konzil dominierende Rechtfertigungslehre thomistischer Tradition mit der lutherischen durchaus vereinbar war. Man habe jedoch Bedenken getragen, eine abweichende Lehre franziskanischer Tradition auszuschließen. Dadurch sei eine kompromißhafte Fassung des Dekrets entstanden. Dieses Dekret hat Karl Barth als eine „saubere Arbeit” gelobt und gleichwohl als unannehmbar erwiesen. In unserer Zeit wurde in den Vorthesen zur Leuenberger Konkordie die Forderung vertreten, daß die „kommunikatorischen und eschatologischen Elemente” der Rechtfertigungslehre im Konsens der reformatorischen Kirchen herausgearbeitet werden müßten.
Die notwendigen Interpretationen der Rechtfertigungslehre weisen also weite Flügelbildungen auf, welche einer Verständigung entgegenstehen. Die heute zur communis opinio gewordene, in der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Stählin/Jaeger und von Autoren wie Küng und Pesch vertretene Auffassung, daß die Rechtfertigungslehre nicht kirchentrennend sei, besagt also über die Bewältigung und Bereinigung dieser Gegensätze noch nichts. Die beiderseitigen Konzeptionen decken sich über eine weite Strecke und gehen zugleich in einem weiten Bereich nach wie vor auseinander. Sie überlappen sich also in einer Weise, die durch das einfache Schema zweiwertiger Logik, mit Ja und Nein, nicht zu bewältigen ist.
Der dritte Problemkreis, der durch die Verweisung auf CA IV impliziert, aber nicht expliziert ist, ist die Frage, welche Tragweite und welchen Stellenwert die Rechtfertigungslehre unter der Voraussetzung eines Einverständnisses im Kern überhaupt besitzt. Die lutherische Reformation ging davon aus, daß dieser zentrale Grundsatz eine durchgreifende Reformation der gesamten Lehre, Praxis und Verfassung der Kirche zur Folge haben müsse.
Die Verhandlungen zwischen Melanchthon und Contarini in Regensburg 1541 scheiterten nach der relativ schnellen Verständigung über die Rechtfertigungslehre an der Lehre von der Kirche und den Sakramenten. Damit war erwiesen, daß diese Fragen von der auf lutherischer Seite als entscheidend betrachteten Rechtfertigungslehre gerade nicht abhängig waren.
Bei unzulänglicher Repräsentation und Darstellung der reformatorischen Anliegen hat dann das Trienter Konzil insbesondere über die streitige Rechtfertigungslehre als Zentralpunkt verhandelt. Entgegen dem Ergebnis von Regensburg kam eine innerkatholische Kompromißfassung der Rechtfertigungslehre heraus, die für die lutherische Seite nicht annehmbar war.
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Das bestimmende Interesse dafür bestand nicht zuerst an dieser Konzeption selbst, sondern an der Vermeidung einer Entscheidung gegen eine bedeutende Strömung und Tradition. Das Hemd innerkatholischer Einheit war dem Konzil näher als der Rock der Überbrückung der Spaltung. Wäre dies nicht geschehen, so wäre die gleiche Lage eingetreten wie in Regensburg: die Rechtfertigungslehre als solche wäre nicht kirchentrennend gewesen.
Bestritten gewesen wäre dann, genau betrachtet, nicht diese Lehre als solche, sondern ihr Stellenwert für die Gesamtlehre der Kirche — etwas wesentlich anderes.
Als Verfassungsrechtsstreit ist es — vergleichbar einem politischen Vorgang —, auch auf der geistliche Ebene, ein Ringen um die Integration der Gesamtheit unter Einschluss der Kräfte, die sich in dem Gefüge der Kirche mit dem Anspruch auf Berücksichtigung bemerkbar gemacht hatten. Die katholische Kirche erwies sich jedoch regiminal als unfähig, diese Integration zu vollziehen, trotz der auch im Spätmittelalter vorhandenen und in den Trienter Beschlüssen noch deutlich hervortretenden Pluralität und offenen Vielfalt der Doktrinen.
Die katholische Kirche hat sich selbst durch den drohenden Verlust von halb Europa nicht zu einer durchgreifenden, von Hadrian VI. als notwendig bezeichneten Gesamtreform bewegen lassen. Erst der bereits eingetretene Verlust, der einer Amputation glich, hat diese Kräfte ausgelöst. Diese Kirche hat damit ihren allumfassenden Kompetenzanspruch selbst preisgegeben. Denn sich hat auch unter Aufbietung aller Kräfte keine umfassende Klärung der aufgebrochenen Probleme zu finden vermocht, sondern eine einseitige Entscheidung getroffen. Sie hat sich zur Kirchenpartei, zur Konfession, machen lassen. Sie hat damit die geistliche und theologische Vollmacht der lutherischen Reformation zwar formell bestritten, in der Sache dagegen annehmen müssen.
Die lutherische Seite besaß zwar die prophetische Vollmacht, die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes unabweisbar geltend zu machen. Sie besaß aber nicht ebenso die Vollmacht, ihre theologisch ausformulierte Position für die Gesamtkirche wirksam werden zu lassen. Daß sie dies versuchte, beruhte gerade darauf, daß der vorausgehende Katholizismus ein umfassendes Gesamtsystem ausgebildet hatte, wobei die Offenheit vieler Fragen nicht voll im Bewußtsein war. Diesem umfassenden Charakter der geltenden Lehre entsprach die reformatorische Vorstellung, daß die vorgelegte Darstellung der Hauptlehren ebenso zur anerkannten Lehre der Gesamtkirche können werde und müsse.
Die Annahme also, daß es sich lediglich um die zweiwertige Logik von Irrtum und Wahrheit pro und contra, hier Papsttum, hier Reformation handele, war von vornherein irrig. Am allerwenigsten gelang der Versuch, in Gestalt der dominierenden Rechtfertigungslehre einen einzigen zentralen Grundsatz herauszustellen, aus dem alles Weitere folge. Ablehnung des Primats und der Hauptteile der bisherigen Verfassung auf der einen, die dogmatischen Zentrallehren auf der anderen Seite, hingen wohl zusammen, aber keineswegs voneinander ab.
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Die Beurteilung des Prozeßverlaufs ist nicht unbedingt von dem Urteil darüber abhängig, welche Gründen zum Scheitern einer Verständigung geführt haben. Das Konzil, das anerkanntermaßen mit außerordentlicher Sorgfalt gearbeitet und formuliert hat, traf auf eine subtile Problemlage. Es gelang nicht, das Problem des Verhältnisses von Gnade und freiem Willen in einer unanfechtbaren Weise zu definieren.
Beide Teile hätten Flügelbildungen abschneiden müssen, die Katholiken die in Richtung auf einen Humanismus deutenden Positionen, die Lutheraner die forensische Form der Rechtfertigungslehre, die zu Unrecht das dem Konzil vermittelte Bild beherrschte, aber ebenso unannehmbar sein mußte.
Weder die lutherische Reformation noch die Papstkirche der Gegenreformation sind imstande gewesen, in der von Luther aufgeworfenen Fragen eine konsensfähige Lehre zu formulieren, wenn eine Lösung dogmatisch überhaupt zu formulieren war. Man fühlt sich daran erinnert, daß innerkatholisch der spätere, in etwa vergleichbare modernistische Streit am Ende unentschieden ad acta gelegt werden mußte. Zusammengenommen bedeutet dieser Tatbestand, daß die Reformation mit keinem schlüssigen Programm ihren Streit ausgefochten hat. Die Annahme, daß eine Anerkennung der Rechtfertigungstheologie durch das Papsttum notwendig zu einer Revision auch der Kirchenverfassung führen müsse und werde, war von vornherein irreal. Andererseits war die Annahme inkonsequent, man könne bei Rezeption der Rechtfertigungslehre die ekklesiologischen Differenzen überspielen. Die Widersprüchlichkeit dieses Programms zeigt sich in der verzweifelten Erklärung, man sei bereit, den Papst anzuerkennen, wenn er sein Amt als ein solches menschlichen Rechts verstehen wolle. Denn schon die alte Patriarchatsverfassung vor der Ausbildung des Papsttums enthielt ein Element geistlicher Dignität und theologischer Kompetenz.
Nachdem sich ergeben hat, daß die CA eine andere geistige Struktur besitzt als das Nicaenum, so fragt sich, wie in diesem Zusammenhange die Professio fidei Tridentina zu beurteilen ist (PFT). Manche vor der Reformation noch offene dogmatische Fragen sind überhaupt erst durch das Trienter Konzil entschieden worden: es war die zweischneidige Folge der Reformation, daß bisher nur dominierend beantwortete, aber verbindlich nicht geklärte Lehrfragen zur Entscheidung gebracht werden mußten. Die Reformation hat die Rationalisierung der Dogmatik um vieles weitergetrieben.
Durch die Reformation ist die römische Kirche genötigt worden, sich ebenfalls in einem Bekenntnis festzulegen und auszudrücken — sie wurde durch den logischen Zwang des Gegensatzes selbst zur Konfessionskirche. Sie mußte bekenntnisförmig vertreten und sich zu dem bekennen, was sie solange gelehrt und gelebt hatte, ohne es abschließend festzulegen. Auch hier, bei der PFT geht es, wie bei der CA, um die Struktur des Aussage.
Die CA ist ein nach-nicaenisches Bekenntnis. Das Gleiche gilt für die PFT.
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Dieses stellt den vollen Text der Nicaenums voraus, ohne die Frage zu stellen, ob die nachfolgenden weiteren Aussagen — die sich nicht aus dem Nicaenum folgeweise ergeben, — mit diesem verträglich sind. Die für das Ganze entscheidende geistige Struktur zeigt sich in dem zusammenfassenden Schlußartikel. Hier heißt es:
„Hanc veram catholicam fidem, extra quam nemo salvus esse potest.”
Sie entspricht im wesentlichen dem Symbolum Quicumque (Pseudo-Athanasianum):
„Quicumque vult salvus esse, ante omnia opus est, ut teneat catholicam fidem: quam nisi quisque obtineat, integram inviolatamque servaverit, absque dubio in aeternum peribit.”
Diese Denkform steht hinter dem von Schlink aufgedeckten Bruch zwischen doxologischem und dogmatischem Bekenntnis.
An die Stelle der doxologisch-liturgischen Identifikation in actu ist die Umschreibung der inhaltlichen Aussage des Glaubenden getreten. Sie ist materialiter trotz der zeitlich größeren Nähe — ebenfalls eine nach-nicaenische. Nur so lassen sich die Glaubensartikel, die später entwickelt sind, an das Bekenntnis anschließen. Sie steht methodisch betrachtet hinter dem Bruch zwischen West- und Ostkirche, in dessen Beschreibung sich Andresen und Schlink treffen. Dies zeigt sich daran, daß in der PFT die westkirchliche Rationalisierung des Systems der sieben Sakramente und des Sakramentsbegriff aufgenommen ist, welche in der nicaenischen Kirche schwerlich rezipiert worden wäre.
Interessanterweise tastet sich der Text der PFT an diesen Schluß erst allmählich heran. Sie beginnt mit der Verweisung auf Schrift, Tradition und den Konsens der Väter, bringt dann eine lateinische Version der Sakramentenlehre (s.o.), behandelt in drei weiteren Artikeln die reformatorischen Streitigkeiten und statuiert schließlich die Autorität des Papstes und des Konzils. Der Bedeutungsgrad der einzelnen Punkte ist freilich sehr unterschiedlich (Purgatorium, Ablässe). Die Reformation hat die Kirche veranlaßt, verführt oder genötigt, ihre geschichtliche Gewogenheit mit Auftrag und Legitimität zu identifizieren.
Die PFT dogmatisiert auch die Kirchenverfassung, überschreitet aber das Nicaenum, abgesehen von der formellen Festschreibung als solcher, insoweit nicht, als sie von kanonischer und konzilianter Ordnung spricht. Denn das Nicaenum als Konzilsbeschluß setzt diese voraus und impliziert sie. Diese Kirche aber hatte weder Ort noch Haupt, sondern existierte in iure als im Heiligen Geist versammelte Synode. Subjekt der Kirche ist der aufrufende, legitimierende und integrierende Geist.
Nach-nicaenisch ist aber materialster die dogmatisierte Kirchenverfassung: römische Kirche als mater et magistra omnium ecclesiarum, Vikariat und Primat des Pontifex Romanus, kanonische Tradition und ökumenische Konzile, providentielle Verfassung: Oberhaupt und kanonisch-konziliare Ordnung. In die geltende Fassung sind auch die Ergebnisse des I. Vaticanums mit einbezogen worden.
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Eine wesentliche thematische Ausweitung bedeutet es auch, daß über die Aussagen des Apostolicums, über die communio sanctorum und die Sündenvergebung, und des Nicaenums über die Taufe zur Sündenvergebung beiderseits hinaus in die post-nicaenischen Bekenntnisse eine explizite Sakramentenlehre aufgenommen ist. Die Sakramentenlehre ist aber wesentlich und präjudiziell für das Verständnis der Innenstruktur der Kirche und damit ihres Rechts (… Sacramenta instituta ad salutem … illaque gratiam conferre …).
So findet sich eine erstaunliche Übereinstimmung von PFT und CA in einem finalen und instrumentalen Verständnis der Sakramente.
Diese Lage wird noch deutlicher, wenn man an eine Instanz denkt, welche zwar nie tätig geworden ist, aber doch denkbar gewesen wäre.
In der Einleitung zur CA und auch sonst oft haben sich die Reformatoren auf die Entscheidung eines „freien Konzils ins deutschen Landen” berufen. Dies war praktisch gesehen höchst vernünftig. Es hieß eine Versammlung ohne ständige Einwirkung und Präjudiz des römischen Stuhls, ohne die Querschüsse anderer politischer Mächte, wie Frankreich, welche jede Klärung in unabsehbarer Weise erschwert hätten. Es bedeutete die indirekte Inanspruchnahme des kaiserlichen Interesses an einer tragbaren Lösung des Streites innerhalb des Reichs als des Entstehungsgebietes. Es hieß eine völlige Freiheit zur Vertretung der Anliegen, welche bekanntlich auf dem Trienter Konzil nur in einer sehr unzulänglicher Form präsentiert worden sind. Dieses Konzil wäre freilich doch immer ein Bischofskonzil im Gefälle der katholischen Tradition gewesen.
Wie hätte dann ein wirklich freies Konzil ausgesehen? Diese Frage ist, soweit ich sehe, noch niemals gestellt worden, zumal sie die Reformatoren selbst auch nicht gestellt haben. Sie verhielten sich so, als ob die Reformation eine Reichssache sei. An diesem Konzil hätten ja alle Partikularkirchen teilnehmen müssen, welche auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse standen, also nicht Rotten und Sekten, Unitarier, Wiedertäufer, Privattheologen und ständische Vertreter. Es wären die Kirchen gewesen, welche die volle Verantwortung für die Bewahrung des rechten einen Glaubens und überhaupt für die denkerische Vertretung der christlichen Botschaft in ihrem ganzen Umfang übernahmen, praktisch also Orientalen, lateinische Katholiken der päpstlichen Obödienz, Lutheraner, Calvinisten, Zwinglianer und Anglikaner.
Was wäre das Ergebnis dieses Konzils gewesen? Dieses Konzil hätte nicht anders urteilen können, als daß salva iustificatione impii secundum Sanctum Paulum kein Kirchenväter, kein verantwortlicher Bischof, keine verfaßte Kirche die These hätte annehmen können, daß das Ganze der Kirche auf die Nadelspitze der paulinischen Rechtfertigungslehre nach dem Verständnis Luthers zu stellen und von da zu dialektisch in der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium zu entfalten wäre.
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Tatsächlich haben jedoch nicht nur die römische Kirche, sondern auch alle übrigen Teile der reformatorischen Bewegung diesem Anspruch des Luthertums abgesagt. Der Calvinismus, der Zwinglianismus, die Anglikaner haben trotz anfänglicher Übereinstimmung mit Ansätzen der lutherischen Reformation andere Schwerpunkte gesucht, andere Gesamtkonzeptionen entworfen.
Die Hierarchie der Wahrheiten ist überall eine andere, dabei gradweise verscheiden, aber keinesfalls ex consensu so, wie das die Lutheraner als notwendig vorstellten.
So hätte sich herausgestellt, daß die Tragweite der Rechtfertigungslehre in der Richtung der von Schlink geltend gemachten Bedenken radikal überzogen worden war. Barth hat zugleich mit der Kritik am Trienter Dekret — mit einer, eines Diplomaten würdigen Vorsicht und Konzilianz — den Lutheranern vorgehalten, daß schon Calvin sich gehindert gesehen hat, jene Konsequenz aus der im übrigen sorgfältig bewahrten und zu bewahrenden Rechtfertigungslehre zu ziehen. Anders hätte auch das freieste Konzil nicht entscheiden können. Es wäre also die so verstandene lutherische Doktrin entweder zu einer eingreifenden Korrektur und Begrenzung genötigt worden oder in eine Abseitsstellung geraten, wie man sie zuweilen im Selbstverständnis heutiger Lutheraner untergründig feststellen kann — die trotzige Meinung: „Wir verstehen das Evangelium tiefer und radikaler als ihr alle, auch wenn ihr uns nicht versteht.”
Die Konsensthese 3 der vom Rat der EKD berufenen rechtstheologischen Kommission von 1949 besagt dazu:
„Ebensowenig wie die grundsätzliche Reihenfolge ,Evangelium — Gesetz’ läßt sich für die Ableitung des Rechts die grundsätzliche Reihenfolge ,Gesetz — Evangelium’ vertreten. Beide Wegen führen, wenn sie zum Prinzip erhoben werden, zur Selbstrechtfertigung des Menschen und haben damit die Auflösung des Rechtes zur Folge.” 8
Durch den tridentinischen Kompromiss hat sich der Irrtum durchgehalten, daß der Streit um die Rechtfertigungslehre ein schlüssiger Gegensatz auf Tod und Leben sei; es ist die Tatsache verdeckt worden, daß eben nicht dieser Glaube als solcher, sondern seine systematische Erstreckung der Grund für die verbleibenden Gegensätze geblieben ist. Dies ist bis heute nicht in das Bewußtsein der davon betroffenen gläubigen Christen getreten. Ja, es stellt sich die Frage, ob dieser punctus stantis et cadentis ecclesiae überhaupt die entscheidende und bewegende Kraft der reformatorischen Bewegung war. Denn wie sollten sich diejenigen Kirchengebiete, die sich in der reformatorischen Bewegung anders orientierten, durch etwas motiviert und repräsentiert verstehen, was sie ganz anders werteten und einordneten?
Wenn es aus dem Laufe der Reformationszeit bis zum Trienter Konzil unendlich schwer auszumachen ist, welche Fragen und Positionen, allein, zentral oder auch in spezifischen Verbindungen das endgültige Hindernis zu einer Verständigung gewesen sind, so tritt letzten Endes ein einziges hervor: Was sich hier herausbildetet, war eine neue Identität von Kirche, genau das, was jetzt
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die lutherische Kirche als Grundlage ihrer anzuerkennenden Legitimität in versöhnter Verschiedenheit für sich in Anspruch nimmt. Eben diese Identität ist nicht erst nachträglich durch ein geschichtliches Wachstum ausgebildet, sondern in den wesentlichen Grundzügen und Fundamenten schon frühzeitig ausgebildet worden. Dies war als solches ein Novum, weil bis dahin, wie auch immer verstanden, und unter Vernachlässigung der bereits bestehenden Trennung von West und Ost, nur eine einzige Kirche im Blick war, die legitim existieren konnte. Nachdem Luther die Bibelübersetzung, Melanchthon die Gotteslehre in dem dialektischen Aufbau der ersten Artikel der CA dem Vorverständnis von Gesetz und Evangelium unterworfen hatten, die Lehre vom Geist und der Kirche in der Fassung der alten Bekenntnisse aufgelöst und selbständig neu formuliert worden waren, war diese neue Situation, gegründet und befestigt, bereits durch die Institutionalisierung eines neuen Kirchenwesens etabliert. Nicht die Summe oder das System von Lehren, sondern eben diese lebendige Identität war das Ergebnis, nicht mehr ein Programm, sondern bereits ein geschichtliches Subjekt. Diese Qualität der Eigenständigkeit und Partikularität erklärt es psychologisch, daß die tatsächliche Beschränkung der lutherischen Reformation auf bestimmte Gebiete nicht als solche bemerkt und als grundsätzlicher Mangel verstanden wurde. Dieser Bewußtseinsmangel wurde gleichzeitig dadurch befördert, daß die eigentümliche Verbindung von Kirche und Reich im unbewußten Vorverständnis den deutschen Entwicklungen eine Art Vorrang oder zentrale Stellung einräumte.
1 Vgl. hierzu das Beispiel Hessen in: RdG II, Kap.
VII, 136 f.
2 In diesem Augenblick wird die Verschwisterung der
Reformation mit dem Humanismus sehr deutlich. Wie Stöve dies
zusammenfaßt:
„Mit der Reformation ist der Prozeß der Erneuerung des ,wahren
Alten’ angebrochen, dessen volle und allgemeine Verbreitung und
Entwicklung erwartet wird. Das protestantische
Geschichtsverständnis ist somit analog dem der humanistischen
Philologen: Nach einer Phase sprachlicher Dekadenz im Mittelalter
ist nun im 15. und 16. Jahrhundert der klassische Standard der
Antike wieder erreicht, den es gegen die ewig Gestrigen
durchzusetzen gilt.”
(Eckehart Stöve, Zeitliche Differenzierung und
Geschichtsbewußtsein in der neuzeitlichen Historiographie, in:
Enno Rudolph und Eckehart Stöve (Hg.), Geschichtsbewußtsein und
Rationalität. Zum Problem der Geschichtlichkeit in der
Theoriebildung, Forschungen und Berichte der Evangelischen
Studiengemeinschaft, Bd. 37, Stuttgart 1982, 11-50, hier: 19 f.)
Aber in Wahrheit trifft Melanchthon auf die verhängnisvolle geschichtliche Lage, weil nunmehr „die konfessionelle Pattsituation im Reich festgeschrieben
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werden soll: am reservatum ecclesiasticum: (Wozu er sagt:) ,Auch
werden durch denselben Artikel die Wege zur Einigung künftig
verschlossen. Dann menschlich ist kein andrer Weg zur Einigkeit
in der Religion in Teutschland zu gedenken, dann dieser, daß die
klare Wahrheit soll für und für mehr Bischöffe, Fürsten und
andere Regenten bewegen, diese Lehre anzunehmen und zu pflanzen.
(Bedenken Philippi Melanchthonis von Freystellung der Religion.
An die Gesandten der Chur- und Fürsten, auf dem Reichstag zu
Augsburg, anno 1555, in: CR 8, 478)” (a.a.O. 19 f., Anm. 23).
3 Lukas Vischer, Unter einem Christus streiten, in: EK
13, 1980, 389-394, hier: 391.
4 Ohne Fundstelle vom Autor bestätigt.
5 Neelak S. Tjernagel, Henry Eight and the Lutherans,
St. Louis 1965, 299 (zit. nach Stephen W. Sykes, Das
Augsburgische Bekenntnis in anglikanischer Sicht unter besonderer
Berücksichtigung der Frage nach Amt und Bischofsamt, in:
LWB-Report, 6/7, 1979, 29-45, hier: 45 und 55, Anm. 35).
6 Ich verweise hier in größerem Zusammenhang noch
einmal auf die in Bd. I, Kap. VIII/8, 569-577, entwickelten
Zusammenhänge bis hin zu dem von Elert aufgewiesenen
„agnostizistischen Determinismus”.
7 Leopold von Ranke schreibt: „Alles bildete eine
einzige Kette von Anforderungen und Ansprüchen, die man nun zu
einer allgemeinen Anerkennung zu bringen hoffte, …” (Leopold von
Ranke, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten,
München/Leipzig 121923, hier: Bd. 2, 750 f.) Vgl. RdG, Bd. I,
165.
8 Kirche und Recht. Ein vom Rat der EKD veranlassten
Gespräch über die christliche Begründung des Rechts, Göttingen
1950, 51.