|246|

Kapitel XIV

Glaube und Geschichtsverweigerung

1

Wer das letzte halbe Jahrhundert unserer Kirchengeschichte bewußt miterlebt hat, wird sich dessen mit einer gewissen Bedrängnis erinnern. Nicht erst die Machtergreifung des Nationalsozialismus hat einen tiefgreifenden Umbruch herbeigeführt. Die Situation vor 1933 ließ ohnehin erkennen, daß eine Neuorientierung von Kirche und Theologie im Gange und fällig war. Wie diese ohne 1933 dann gelaufen wäre, ist zu erörtern naturgemäß müßig. Mit dem milden Ausgleich zwischen der Eigenständigkeit der Kirche und der traditionellen Verbindung zur öffentlichen Ordnung, wie sie das Werk von Günter Holstein2 repräsentativ abspiegelt, wäre es gewiß nicht abgegangen.

 

1. Der Kirchenkampf und seine Folgen

Die völlig unvorbereitete Kirche hat sich nach dem Maße ihrer Einsicht in einem Kampf geschlagen, der keineswegs einfach ein Ruhmesblatt gewesen ist. Sie hat damit das ihr anvertraute Erbe, und wenn man so sagen darf, ihre Ehre gerettet. Sie hat sowohl ihre Märtyrer wie ihre überlebenden Bekenner. Dieser Abwehrkampf war gleichzeitig durch tiefgreifende und nie überwundene Spannungen belastet. Sie lagen zunächst einmal naturgemäß zwischen den Falken und den Tauben — wie in jeder schwer überschaubaren Kampfsituation beiderseits mit einem relativen Recht. Es gab wohl nur einen schmalen Grad zwischen einer Bekenntnisorthodoxie von zweifelhafter Weitsicht und bedenklichen Konzessionen und Kompromissen. Die tiefgreifende theologischen und menschlichen Gegensätze verfestigten sich auch zwischen solchen, deren kämpferische Haltung außer Frage stand; sie symbolisieren sich etwa in der Front zwischen Asmussen und Niemöller — beides Gemeindepfarrer ohne kirchenregimentliche Erfahrung und Verantwortung, beides Charismatiker, die in die üblichen Schuhe nicht paßten und doch klassich ihre Position repräsentieren. Der Gegensatz verlief dann zwischen den eindeutigen Verfechtern des bekennenden Widerstandes aus Lutheranern, Unierten und Reformierten auf der einen und denjenigen Lutheranern, die aufgrund sowohl dogmatischer Tradition wie gewisser Identifikationen eine zum Kompromiß neigende, vielfach zu Recht wie auch zu Unrecht kritisierte Haltung einnahmen. Die Gegensätze waren so hart, daß selbst in der neu gewonnenen Freiheit auf der Synode von Treysa 1945 nach den Worten Stählins „zwischen dem Eisberg Mieser und dem Feuerofen Niemöller” kein Platz für einen Stuhl war.

Weder eine Vermittlung noch eine konstruktive Klärung und Aufarbeitung ist dann erfolgt, obwohl die Kräfte dazu hätten da sein können und müssen.

|247|

Die Gegensätze sind nicht präzisiert und gesprächsfähig geworden, sondern haben sich verzahnt, verfilzt und verhärtet. Ein kundiger Teilnehmer und Beobachter, wie Günter Howe — aus der Kampferfahrung der Hamburgischen Kirche wie der Verbindung mit Barth herkommend —, hat die Formel gebildet, daß an dieser Lage beide Teile schuldig geworden sind. Die größere Schuld habe aber auf der Barthschen Seite gelegen, weil hier der größere Anspruch auf eine kritisch überlegene Übersicht über das Gesamtfeld erhoben wurde. Ich kann nur die Harmlosigkeit bewundern, mit der dann in den Leuenberger Beschlüssen die Aufarbeitung dieser theologischen und sozialethischen Gegensätze dem Arbeitskatalog der noch weiterhin bestehenden, aufgegebenen Fragen eingegliedert wurde. Fast allein die theologische Kommission der Zürcher Kirche hat das Bewußtsein bewahrt und ausgedrückt, daß diese Gegensätze von Anfang an tiefer begründet waren, als dies der gegenwärtige, fast zweckbestimmte Ausgleich erkennen läßt.3

 

2. Kritik an konfessioneller Theologie?

Diese Erfahrung führt aber zu der Frage, in welcher Weise überhaupt Kritik an konfessioneller Theologie möglich ist. Die Kritik an der lutherischen Theologie, wie sie von der Barthschen Seit, in vieler Hinsicht mit unbestreitbarem Recht geübt worden ist, hat diese weder wirklich getroffen noch ihr zu einem revidierten und geklärten Selbstverständnis verholfen. Eher hat die lutherische Kirche und Theologie versucht, sich in einer Art Verteidigungsstellung eine unangreifbare Position zu verschaffen und sich in dieser dann erst gar nicht mehr wirklich ansprechen zu lassen.

Identifiziert man sich aber mit konfessioneller Theologie, so verliert man sehr schnell die kritische Distanz und die Möglichkeit einer Einwirkung. Man muß offenbar, um in einer Konfession zu wirken, Fleisch von ihrem Fleisch, Bein von ihrem Bein sein, um ihre intimeren Motivationen überhaupt zu verstehen und dann erst gerecht würdigen zu können. Trotzdem muß man eine Distanz bewahren, die darauf verzichtet, eigene Ideen gegen das anders Geartete durchzusetzen, ohne damit dessen Schwächen wahrheitswidrig zu verdecken.

 

3. Konfession und Geschichte

Die allgemeinere Problematik der konfessionellen Theologie besteht darin, daß sei eine faktisch partikulare Bildung als eine universal gültige vertreten muß: daß sie auf der einen Seite unter dem Worte Gottes jeder Eigenmacht und jedem Eigeninteresse absagen muß — und trotzdem gezwungen ist, eben diese Position historisch zu rechtfertigen. Der Rechtfertigung aus dem Glauben tritt dann die geschichtliche Selbstrechtfertigung gegenüber und beide miteinander in Konflikt.

|248|

Dagegen hilft dann auch keine radikale annihilatio, kein Verzicht auf tatsächliche oder vermeintliche Selbstmächtigkeit, kein Anheimstellen der Dinge an die providentia Dei und den Geist, der weht, wann und wo es ihm gefällt. Für die lutherische Kirche, welche aus sehr radikalen Gründen versucht hat, jedes Element der Selbstmächtigkeit aus ihrem Kirchenverständnis auszuschließen, ist diese Situation besonders gefährlich. Dies wird gerade durch den Vergleich mit dem Calvinismus besonders deutlich. Dieser hat sich bisher folgerichtig geweigert, sich selbst als eine Konfessionskirche, d.h. also als eine historische Identität mit notwendiger Begrenzung und Relativität zu verstehen. Er definiert sich daher als die „nach Gottes Wort reformierte Kirche” mit einer unbefangenen, zuweilen naiven Schlechthinnigkeit. Diese eigentümliche Unfähigkeit, sich selbst und damit auch andere geschichtlich zu begreifen, zeichnet sich in der entwaffnenden Tatsache ab, daß so kundige Leute wie Erik Wolf und Gustav Heinemann in verschiedenen Situationen der Evangelischen Kirche in Deutschland nichts Besseres zu raten verstanden, als sich nach dem Modell der synodal-presbyteralen Ordnung zu organisieren. Daß dies keine Lösung war, um den Anliegen einer zu 90% in der lutherischen Tradition stehenden Kirche gerecht zu werden, kam nicht in den Blick.

Die lutherische Kirche ist diesen Weg einer Positionierung bestimmter Formen nicht gegangen; sie hat versucht, die institutionellen Merkmale der Kirche zu minimalisieren. Aber gerade dieser immanent folgerichtige Versuch besitzt eine Kehrseite, welche die Selbstbezogenheit der Konfession niemals aufgedeckt hat.

Das deutsche Volk und diejenigen Völker, die das Augsburgische Bekenntnis angenommen haben, verdanken dieser lutherischen Kirche sehr viel mehr als sie sich bewußt sind und wahrhaben wollen. Dies verkennt auch eine heutige politisch-historische Kritik an der geschichtlichen Wirkung und Gestalt des Luthertums. Selbst ein großer Teil des erstaunlichen materiellen Reichtums, mit dem wir heute nicht fertig werden, verdankt sich — samt einem Element sozialen Friedens — den Haltungen und der Erziehung, welche die Sozialethik des Luthertums vermittelt hat. Ein Großteil der gängigen Kritik am Luthertum gleicht nur dem Geist, den sie begreift. Soviel an anderer Stelle dazu zu sagen ist: hier lohnt es sich nicht. Aber über dieser eminenten Wirkung ist die Kehrseite der Medaille vergessen worden. Die lutherische Reformation hat ihren Gläubigen unendlich viel abverlangt und zugleich ebensoviel zur fruchtbaren Entwicklung gebracht. Aber sie hat zugleich gewisse fundamentale Schwächen stets geschont. Sie hat dies Volk in Wahrheit niemals gegen den Strich gebürstet. Sie hat niemals etwas von ihm verlangt, was seinen natürlichen, sagen wir biblisch: fleischlichen Neigungen ernstlich entgegengesetzt war.

|249|

4. Deutsche Geschichte und Reformation

Wer die deutsche Geschichte von ihren Anfängen her sorgfältig bedenkt, stößt auf einen beschwerenden und sicherlich wie alle geschichtlichen Dinge nicht voll auflösbaren Tatbestand. Ein großes, überreich mit Kräften ausgestattetes Volk, gestaltungsfähig und gestaltungsfreudig, ist längst vor der Reformation mit seiner politischen Existenz je länger desto weniger fertig geworden. Schon die Reichsverfassung der Goldenen Bulle im 14. Jahrhundert war eine fragwürdige Notlösung. Das Problem der territorialen Ordnung ist seit der Zerschlagung der alten Stammesherzogtümer bis heute nicht gelöst, immer nur gewaltsam korrigiert worden. Das ganze 15. Jahrhundert war von einer ergebnislosen politischen Reformbewegung ausgefüllt. Nicht nur die kirchliche Reformbewegung scheiterte handgreiflich, sondern auch die Reform des Reiches. Die Kräfte der Reformation sind nicht zuletzt dadurch ausgelöst worden, daß die politische Reform keine Aussicht auf eine sinnvolle Gestaltung des Reichs mehr bot. Die Reformation ist bis zu einem gewissen Grade die Kompensation einer selbstverschuldeten politischen Frustration. In dem Schrei des Luther-Liedes „Das Reich muß uns doch bleiben” ist die Erfahrung mit eingeschlossen, daß das Heilige Römische Reich ohnehin keine Aussicht auf eine sinnvolle und überzeugende Gestaltung mehr erwarten ließ. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der erste Schritt des Übergangs von einem großen Staatsvolk zum Volk der Dichter und Denker in dem Verzicht auf politische Hoffnung und deren Übertragung in den geistlichen Bereich zu sehen ist. Wie der verständnisvolle, wenn auch theologisch inkompetente Luther-Biograph Fèbvre, ebenso der Historiker Seignobos dargestellt haben, war der große kulturelle Reichtum des 16. Jahrhunderts in Deutschland eingebettet in ein politisches Chaos, welches sich zwischen den Zentren einer überschäumenden bürgerlichen und Geisteskultur ausbreitete. Die vorhandenen politischen Kräfte haben dann ihren Platz in den planmäßigen Ausbau einer Zahl regionaler Einzelstaaten gefunden, deren Ordnung nach dem Maße ihrer Zeit fortschrittlich und ausbaufähig war und auch tatsächlich ausgebaut worden ist. Daß diese Partikularitäten den geistigen Horizont des Politischen, des Staates wiederum nicht auszufüllen vermochten, zeigt sich dahin, daß die bedeutendsten Territorien nach allen Seiten hin die Verbindung mit den Kronen der Nachbarvölker gesucht und gefunden haben. Sonst wäre diese Begrenzung unerträglich und auch unfruchtbar geworden.

 

5. Die drei deutschen Schwächen

So läßt sich die These begründen, daß die Reformation die politischen Schwächen des deutschen Volkes voraussetzt, sie folgerichtig und stillschweigend immer geschont hat. Diese Schwächen sind präzise drei.

Aus jenem Übergang aus dem Staatsvolk zum Volk der Dichter und Denker

|250|

erklärt sich, daß dieses Volk seine Fähigkeiten zur Doktrin entwickelte. Es wurde in einem positiven und verhängnisvollen Sinne doktrinär. Es bildete nächst der großen Orthodoxie die großen Philosophien und die dichterische Klassik; aber es wurde zugleich in schrecklicher Weise auch von den Doktrinen abhängig, die sie als solche bereits als real anzusehen sich gewöhnt hat. Schon Luther ist gegen Ende seines Lebens in einer bemerklichen, ja bedenklichen Weise immer mehr auf die Doktrin zurückgekommen. Dieser doktrinäre Charakter hat sich in der Moderne vollends ausgebreitet. Man hat gesagt, daß die Deutschen eine Bahnsteigkarte lösen, wenn sie ein Bahnhofsgebäude stürmen wollen. Es mag dahinstehen, wieweit das richtig ist; sicher ist, daß der Deutsch für alles eine Ideologie braucht, und daß er — wie es gerade das letzte Jahrzehnt zeigt — jede vernünftige Reform bis zur Verkehrung in ihr Gegenteil an ihr prinzipielles Ende führt. Ob Rechtsstaat, ob Sozialismus, er muß zu Tode geritten werden. Auch die Deutsche Studentenrevolte von 1968 wurde in den Parallelbewegungen anderer Völker wegen dieses Zuges nicht selten lächerlich gemacht. Dem steht als Ausgleich allzuwenig reale Kraft, praktische Vernunft, common sense, Erfahrungsschatz sozialer Bewährung gegenüber.

Diesem doktrinären Zug hat der geschichtliche Gang der Reformation religiöse Weihe und eine Kraft verliehen, die immer wieder der Versuchung erlag, die Doktrin an die Stelle der Sache selbst zu setzen.

Die zweite deutsche Schwäche ist die Formlosigkeit. Nachdem man Erfahrung und Sinn dafür verloren hatte, Dinge zu sinnvoller Gestaltung zu bringen und in dieser dann auch mit Respekt und Verstand zu leben, hat das Antipathos der lutherischen Reformation gegen alles, was man meinte, als „Gesetz” begreifen zu können, auch dieser Formlosigkeit religiöse Dignität verliehen. So ist der Deutsche zwar sozial, aber nicht human. Er ist bereit mitzuteilen und sich zugunsten anderer zu bescheiden; aber er versteht nicht die humanen Relationen, in denen das Miteinander Verschiedener ein sinnvolles Spannungsfeld besitzt.

Und schließlich ist er partikularistisch. Sehr alte Triebkräfte, die schon ein Hauptproblem der politischen Geschichte Deutschlands gewesen sind, treten jetzt in den ersten Rang. Allen Anforderungen der Universalität des Glaubens und der Kirche wird nunmehr die Selbstgenügsamkeit eines grundsätzlichen Partikularismus entgegengesetzt, der gegen alle biblische Verkündigung nicht einmal von ferne das darin enthaltene Moment des Eigennutzes und der Selbstbezogenheit in den Blick bekommt.

Diese unheilige Dreiheit der Schwächen ist durch die Reformation nicht nur toleriert, sondern in außerordentlichem Maße verstärkt, um nicht zu sagen: gerechtfertigt und geheiligt worden. Die freie Herrschaft über alle Dinge sich sich dieser Abhängigkeit nicht bewußt. So kann man nach Art. IV CA die Rechtfertigung allein aus dem Glauben mit Überzeugung vertreten und leben, aber doch gleichzeitig die Kirche nach dem Bilde seiner eigenen Schwächen gestalten, ohne dieses seines eigenen Spiegelbildes jemals ansichtig zu werden.

|251|

Welcher lutherische Theologe hätte denn jemals diese Kehrseite der geschichtlichen Wirksamkeit seiner eigenen Konfession ohne Übertreibung, ohne Bosheit, vielmehr mit Schmerz und Bedauern, aber doch in ungeschminkter Wahrheit ins Bewußtsein gehoben? In einem Augenblick, wo die Frage nach der Zulänglichkeit des gegenwärtigen Selbstverständnisses der lutherischen Kirche und Theologie in allem Ernst ansteht, kann und darf dieser historische Hintergrund nicht außer Betracht bleiben.

Die anderen, dem Luthertum folgenden Völker haben auf diesem Felde ihre eigenen Probleme und Erscheinungen, welche schlüssig darzustellen dann doch nur derjenige befugt wäre, der zu diesen Völkern gehört. Aber es ist mindestens für die lutherische Kirche von Dänemark deutlich, daß in einer ähnlichen Verkettung zwei wahrhaft bedeutende Männer des lutherischen Christentums — Grundtvig und Kierkegaard — in der Austilgung geschichtlicher Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Kirche in mancher Hinsicht vergleichbare Wirkungen ausgeübt haben.

Wieder kann man sagen, daß die innerste und stärkste Motivation der lutherischen Reformation, das Ziel der Freiheit vom Gesetz, unbewußt und ipso facto das Gegenteil seiner eigenen Anstrengung bewirkt hat. Anstelle des freien Gestaltung die vorgezeichnete Prägung, anstelle der bußfertigen Freiheit die Wirksamkeit und Tabuierung der eigenen Schwächen.

Aber was sind das nun für Haltungen und Tendenzen, die sich von Glauben her angeregt, ermutigt, gedeckt verstehen — wenn auch vielleicht in etwas unterschiedlichem Grade? Sind es natürliche, d.h. geschichtlich-kontingente Eigenschaften der deutschen Nation, die sich in dem herausgebildet haben, was man wenigstens im allgemeinen als Nationalcharakter umschreiben kann, und welche durch tiefgreifende, erschütternde Erfahrungen eine Verwandlung, neue Richtung, eine Art Knick erfahren haben — so wie ein tatkräftiger Mensch durch Enttäuschungen und unverdient erscheinende, unabänderliche Mißerfolge in seinem Wollen und Vollbringen verändert wird?

 

6. Natürliche Schwächen und geistliche Haltungen

Nein — über die Summe nationaler Eigenschaften und Erfahrungen hinaus ist es eben doch nicht der Deutsche oder Nordeuropäer, sondern der geschichtliche Mensch selbst — aber wie in dem Negativ einer Photographie mit der präzisen Umkehrung aller Konturen und Farben. Es ist der „homo historicus negativus” als unheilige Trinität, das Widerbild und Negativ des trinitarisch-geschichtlichen Gottes, der vermeintlich um des Glaubens willen in seinem Verhalten innerhalb der weltlichen Geschichte bestimmt und geprägt wird. Das heißt aber: unsere eigene annihilatio, der Verzicht darauf, als Kirche das Subjekt ihrer geschichtlichen Verantwortung zu sein, ist auch so ein Werk, unser eigenes Werk. Man kann sie nicht zum Leerraum für das Handeln Gottes bereitstellen. Sie schlägt auch in unser innerweltlich-geschichtliches Verhalten

|252|

durch und macht so die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zunichte. Der negativen Einstellung entspricht der Umschlag in die absolute Geschichtsdeutung, in die Ideologie. Diese wird durch die radikale Dialektik des Freiheitsproblems selbst erzeugt — nicht durch eine verständnislos unterschobene Bereitschaft zur Unterwerfung unter Autoritäten. Die radikalste denkbare Freiheitsbewegung und der radikalste Glaube, nicht menschliche Schwäche, regieren dieses Geschehen. Einem Volk von der denkerischen Kraft Kants und Hegels soll man keine billigen Lösungen unterschieben. So wird ein tapferes Volk zur Geschichtsverweigerung motiviert — und versucht, zwischendurch seine eigenen Schwächen durch eine ungeheuerliche Anstrengung zu kompensieren. Die streitenden Konfessionen jedoch, welche sich auf sich selbst zurückbesannen, statt aus der Erfahrung der Geschichte zu lernen, haben nicht die Größe der Tragödie fehlgeleiteten Glaubens begriffen, die gerade im Verzicht auf geschichtliche Verantwortung lag!

Aus dieser Geschichtsverweigerung stammt auch die Unfähigkeit und Unbereitschaft unserer Kirche, sich selbst zu reformieren. Sie hat nach einem kurzen freudigen Aufschwung vor der Aufgabe versagt, ihre Kräfte nach den Anforderungen der Gegenwart und für diese zusammenzufassen. Es fehlte nicht ein vielfältiger guter Wille; aber gerade die geprägten Kräfte des Konfessionsbewußtseins und pietistischer Frömmigkeit haben diese Aufgabe mißverstanden und sich versagt. Als einsame Ausnahme blieb die nordelbische Einigung übrig.

Unsere Kirche lebt nicht in der apostolischen Tradition der Bischöfe, sondern in der ungebrochenen Tradition ihres eigenen Anachronismus, der immer eine Phase hinter ihrer eigenen Situation zurückbleibt. So weit reicht unsere Freiheit nicht, die Notwendigkeiten der Gegenwart auch gegen uns selbst zu ergreifen.

Unsere Geschichtsverweigerung bezeichnet ein radikales und damit zugleich tragisches Mißverständnis der Freiheit. Es bleibt aber wahr: das Christentum ist die Weltgeschichte im Herzen jedes einzelnen.

 

Anmerkungen zu Kapitel XIV

1 Bereits vorab erschienen, Dombois (unter dem Titel), Nie gegen den Strich gebürstet — Die Reformation hat die Schwächen der Deutschen geschont, in: LM 19, 1980, H. 2, 69-72.
2 Günther Holstein, Die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928.
3 Dombois, Bemerkungen zum Entwurf einer Konkordie der reformatorischen Kirchen in Europa, in: ders., Kodex und Konkordie — Fragen und aufgaben ökumenischer Theologie, Stuttgart 1972, 68-104.