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Einleitung

Die Aufgabe dieses III. Bandes ist es, das Gesamtwerk abzuschließen; dies hatte ich in der Einleitung zu Band II in Aussicht gestellt. So wenig Band II eine lineare Fortsetzung von Band I war, so wenig kann dieser Band III den Gedankengang von II einfach fortführen. Liegen zwischen beiden Bänden zwar weniger Jahre als zwischen den beiden ersten, so ist man doch nicht Herr der weiteren Gedankenbildung und der zwischeneingekommenen Erfahrungen.

Zur Begründung von Aufgabe und Ziel kann ich mich auf die Einleitung von Band II beziehen. Das Werk verfolgt weiterhin konsequent die Methode von induktiver und phänomenologischer Betrachtung. Es überprüft die Bildungen, die die Kirche in ihrer zweitausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat.

Der objektive Gehalt und Charakter der Beobachtungen, Analysen, Beschreibungen hat sich fortschreitend verstärkt — und damit Anlaß und Aufgabe der Kritik. So darf und muß nach den Früchten, nach Folgen und Verantwortungen gefragt werden. Niemand wird gekrönt, er kämpfe denn recht.

Die Kirche lebt aus dem Glauben. Deshalb gilt nur das, was der Glaube im strengen Sinne für notwendig erklärt. Wenn die Kirche also etwas proklamiert, fordert und meint, was sie auch nicht anfangsweise zu verwirklichen trachtet, so glaube sie eben dies nicht, und dann kann man es auch nicht zu ihren Merkmalen rechnen.

Wenn der Wunsch nach abschließender Fortsetzung meines Werkes auch berechtigt ist, so hart er mich doch zugleich betroffen gemacht. Band II enthält in straffer Begründung und ohne (monographische) Hindernisse, die sich Band I in gewissem Umfang selbst bereitet hat, eine Reihe von grundsätzlichen Gedankenschritten:
die entschiedene Wendung gegen alle Theorien, die in der Geschichtlichkeit der Kirche als solche eine Verleugnung ihres Auftrags sehen;
gegen die Ableitung der Konfessionen aus dem Kanon;
eine Periodisierung des Kirchenrechtsgeschichte;
die Entwicklung einer vierfachen Gestalt der Kirche aus der Existenz des Christen wie der Kirche selbst;
eine Theorie der Defizienz und Suffizienz der ekklesialen Lebensformen;
eine Ableitung der Konfessionen aus den modi der Zeit;
eine Bestandsaufnahme geltender Sätze allgemeinen Kirchenrechts.

Einige Gedanken der Bände I und II haben sich vermöge ihrer unleugbaren Evidenz durchgesetzt. So hat der in der Übereinstimmung mit Sohm und Congar vertretene Gedanke der Rezeption für katholische Leser eine wesentliche Anregung für Theorie und Praxis ihrer eigenen Verantwortung im Kirchenregiment bedeutet. Es gibt eben nicht nur Erkenntnisse und Entscheidungen, sondern auch den legitimen Prozeß der Aufnahme in das Leben, und dieser Prozeß hat sein Recht. Der Gedanke der vierfachen Gestalt der Kirche1 hat auf der evangelischen Seite eine Korrektur des undifferenzierten, alleinigen

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Gemeindebegriffs bewirkt und ist eigenständig weitergeführt worden. Es hat sich dabei gezeigt, daß gerade die Gruppen freier Berufung wie umgekehrt die vor unausweichliche Fragen gestellt universale Kirche mehr initiative Kraft entbinden als die Beständigkeit der Gemeinden und partikularer Kirche.

Kirchenrechtliche Einsicht enthält ein Stück nouvelle théologie, sie steht in voller Aktualität und hinkt nicht aufräumend hinterher.

Ich stehe dabei nicht allein mit der Erfahrung, daß es schwer ist, in der Kirche kritisch über die Kirche zu schreiben. Schreibt man, wie es heißt, „geschützt” mit allem Aufgebot von Belegen, so gerät man in den wissenschaftlichen regressus ad infinitum. Verfolgt man „ungeschützt” in bewußter Beschränkung ein Hauptmotiv, so erregt man fast unausweichlich hinderliche Empfindlichkeiten; besonders lästig ist die deutliche Diskontinuität kirchlich-theologischer Arbeiten. Es wird weit weniger mit Maßgaben und Korrekturen an gewonnene Erkenntnisse angeknüpft, als immer wieder neu von Anfang angefangen. Man kann selbst im kirchlichen Auftrag in Gemeinschaftsarbeit erreichte Ergebnisse vorlegen, ohne daß diese vermerkt und verwertet werden.

Dieses Werk enthält nun methodisch und inhaltlich drei Schritte.

Ich muß noch einmal auf die Ausgangspositionen der rechtstheologischen Bemühungen zurückgreifen, nachdem — 30 Jahre nach der Initiative der EKD-Synode — der damals geforderte Dialog zwischen Theologie und Rechtswissenschaft nicht stattfindet. Es ist die Forderung an die Theologie, neben der philologische Tradition die lebendige Sprache des Rechts verstehen zu lernen und sich ihrer zur denkerischen Klärung zu bedienen. Wenn die Rechtfertigung mit der Freiheit zu tun hat, so muß auch die Theologie die Freiheit bewähren, vom Recht sprechen zu können. Es wird auch der Geist rechtlos, wenn das Recht geistlos wird.

„Die Einheit Europas und der Welt schlechthin ist gleichbedeutend mit der materiellen Einheit des Christentums.
Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der (religiösen oder pseudoreligiösen) Rechtfertigungsidee, das heißt dem geglaubten Grundverhältnis der Menschen zu Gott oder dem an seine Seite gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip.”2

Es mußte die von Karl Barth aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Recht noch einmal aufgenommen, juristisch durchgeführt, mit der Tauflehre verbunden, zugleich die rechtstheologische Bedeutung des Institutionenproblems klargestellt und in Erinnerung gebracht werden. Beides geschah, um gegenüber der Rückläufigkeit der Rechtstheologie deren unverzichtbaren Ertrag deutlich zu profilieren.

Dies verband sich in der Sache notwendig mit einer Analyse des Augsburgischen Bekenntnisses, weil die lutherische Kirche und Theologie sich von allem anderen Konfessionen durch ein eigentümlich gebrochenes Verhältnis zum Kirchenrecht und zum Recht überhaupt unterscheidet.

Damit stellte sich für diesen Band das besondere Problem einer Kritik konfessioneller Theologie, und zwar gerade der eigenen.

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Eine konfessionsfremde Kritik wird schwerlich wirksam sein können. Sie will dabei selbst Recht behalten — es fehlt ihr auch die Intimität des Verständnisses, welche nur im Raum der eigenen Konfession zu gewinnen ist.

Konfessionelle Selbstkritik hat wiederum ihre eigenen Grenzen. Sie steht unvermeidlich eine Strecke weit unter dem Gesetz der Selbsterhaltung. Da sie wie ein eifriger Anwalt jedes bedenkliche Moment mit der Formel „in dubio pro” interpretiert, macht sie die Kette wichtigster Indizien durch ihr vorgefasstes Wohlwollen unwirksam. Schließlich ist sie ja auch in der Schwierigkeit, bei dem Nachweis bedeutender Lücken Ersatz schaffen zu müssen für das, was bisher in der Geschichte den Raum bestimmter Probleme hat ausfüllen müssen — und kommt schließlich in ernste Konflikte mit ihrem eigenen Geschichtsverständnis.

Gleichwohl ist es eine herbe Erfahrung, wenn man aus dem vertrauten Hause heraustritt, um die Abgeschlossenheit der deutschen Situation zu durchbrechen und für eine geistliche Wirklichkeit Verständnis zu gewinnen, die bis dahin fremd schien, um Diversität und Identität zu verbinden. Die geistliche Erfahrung lehrt vollends, daß man das Leiden an der Kirche nur in der Konfession ertragen kann, in der man geboren und aufgewachsen ist.

Ich verdanke in meiner Entwicklung das Wichtigste Männern, welche aus einer großen reformatorischen Tradition kamen, sodann dem Rückhalt an der jahrhundertelangen Folge des geistlichen Amtes unter meinen deutschen Vorfahren — nicht weniger dem hugenottischen Erbe. Je älter die Tradition, desto größer die Freiheit.

In diesem Buch wird eine sehr viel grundsätzlichere Kritik am Augsburgischen Bekenntnis und seinen Folgen geübt als wohl sonst in der Geschichte der lutherischen Kirche geschehen ist. Ich habe mich an dieses verantwortliche Dokument gehalten. Es gibt sicherlich in diesem Raume Positionen und Stellungnahmen, welche manches von dieser Kritik ausgleichen könnten, wenn sie verbindlicher und wirksam gewesen wären.

In keiner Konfession aber ist das Heilsgeschehen so durchgängig in rechtlichen Kategorien ausgelegt und dargestellt worden, in keiner Theologie wird der Rechtsbegriff in einer solchen Breite verwendet wie in der immer erneuten Systematik der lutherischen Rechtfertigungstheologie. Aber nirgends in der Christenheit ist das Verhältnis zum Recht in der Intimität des Glaubens so gestört wie ebenda. Hier liegt eine Sperre dem reflexiven Bewußtsein voraus, die der Argumentation unzugänglich ist. Es stellt sich die weittragende Frage, ob nicht das proton pseudos der lutherischen Reformation ein Rechtsirrtum ist, genauer eine aus theologischen Motiven hervorgehende Fehlinterpretation des Rechtes und eben des Rechtes in seiner Geschichtlichkeit. Die Wurzeln dieser Rechtsirrtums sind wohl mehrere, in denen eine theologiegeschichtliche und eine rechtsgeschichtliche Komponente sich in verhängnisvoller Weise bis zur Unkenntlichkeit verschlungen haben.

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Es hat sich zugleich herausgestellt, daß die mit dem konfessionellen Selbstverständnis unausweichlich verbundenen Kirchengeschichtsbilder mit den Daten der Kirchengeschichte nicht zu vereinbaren sind. Man müßte sich sonst von der Kirchengeschichte und der Geschichtlichkeit der Kirche dispensieren.

De kritische Durchgang durch das Augsburgische Bekenntnis führte zwangsläufig zum Problem der Geschichte und der frage nach dem Geschichtsbild der Konfessionen und ihrer Kirchenrechtslehren. Daraus ging der dritte methodische Schritt hervor.

Für die Fortentwicklung des Werkes war dabei die Erfahrung von methodischer Bedeutung, welche sich in meiner Hierarchie-Schrift von 19713 niedergeschlagen hat. Es zeigte sich hier, daß legitime geschichtliche Bewegungen wie die Reformation sich dadurch durchsetzen, daß sie die Unhaltbarkeit der Situation mit unerbittlicher Schärfe erkennen und daraus die Kraft zur Veränderung ziehen. Die besseren Vertreter des Bestehenden erkennen dies wohl, vermögen aber nicht, daraus die Kraft des Entschlusses zu gewinnen. So scharfsinnig die Kritiker jeder Ausflucht entgegentreten, so wenig verstehen sie jedoch das Wesen und das Ganze ihres Widerparts. Mit dem Scharfsinn paart sich die Verständnislosigkeit. Wenn schon die hierarchischen Kirchen keine Theorie der Hierarchie gebildet haben, so haben noch weniger deren Kritiker einen ernsthaften Gedanken an eine solche weltgeschichtliche Erscheinung verschwendet. Erst wenn man aus dieser Beschränkung heraustritt, kann man den ganzen Umfang des Streit in den Blick zu nehmen versuchen. Unhaltbar ist vollends die Vorstellung, daß sich die streitenden Konfessionen gegenseitig so zu durchschauen vermögen, daß es nur noch an einem unparteiischen Richter fehlt, um den Widerstreit zu lösen. Methodisch führte gerade der morphologische Vergleich in der Defizienztheorie weiter.

Die Stämme des neuen Volkes Gottes sind zwar nicht einig: sie grenzen sich durch das ab, was sie sind und was sie nicht sind — sehr folgerichtig, aber erst beides zusammen definiert sie. In diesem Mosaik ihrer Abgrenzungen zeigt sich die Einheit, in der das eine das andere bedingt.

Wenn Band II in der ökumenischen Literatur als „unique” alleinsteht, so eben weil der Theologie hier auf dem Weg der Induktion die subjektive Begrenztheit der Deduktion und ihrer traditionellen Subjektivität vor Augen geführt wurde.

Diese Methode des Negativs ergibt sich auch daraus, daß die Grundlagen und Aufgaben aller Kirchen die gleichen sind, diese sich also allen implizierten Fragen stellen müssen. Diese negative Phänomenologie geht über eine nur komparative Ekklesiologie im Stile der frühen Ökumene weit hinaus. Sie zeigt die Interdependenz der Denominationen. So muß ich mit loyalstem Verständnis für viele, und nicht weniger klar wider viele sein. Das ist ebenso unvermeidlich wie ein Rest der Mißdeutung.

Daher läßt sich Kirchenrecht heute allein als ökumenisches betreiben. Alles, was in der Kirche irgendwo geschieht, hat einen unmittelbaren Bezug zu jedem anderen Glied dieser Kirche. Sie ist eine vorgegebene, objektive Einheit

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mit ständigen Wechselwirkungen zwischen ihren Teilen. Die Sollicitudo omnium ecclesiarum ist kein Privileg des Papstes, sondern eine Aufgabe jedes Christen.

Nachdem die Christenheit in unserem Jahrtausend von jeder legitimen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, um sich zu unterscheiden und zu scheiden, ist mit der realen Einheit der Welt für die Kirche eine Art Gezeitenwechsel eingetreten, in dem aufeinander zuläuft, was so lange auseinanderlief, immer noch „Dei providentia, hominum confusione”, immer noch sehr unschlüssig.

Bei alledem wird der Jurist sich allermeist und immer wieder von der Heiligen Schrift getragen und aufgehoben sehen. Man kann sie nicht hoch genug halten. Jene ars practica, welche man Jurisprudenz nennt und die sich von der notitia rerum humanarum nährt, findet an dieser Stelle den Inbegriff aller Einsicht in die conditio humana, in Wesen und Not des Menschen. Sie verlangt dem Juristen niemals ein sacrificium intellectus ab, gerade weil sie ihm unendlich überlegen ist. Deswegen kann ich auch mit aller Ehrerbietung sagen: Amicus mihi Martinus, magis amica Sacra Scriptura.

Wenn nun dem Verständnis und der Weiterbildung der Kirchenrechtslehre soviel Hindernisse entgegenstehen, so doch auch deshalb, weil man von diesem Gegenstand keine Erkenntnisse erwartet, die man nicht schon vorweg meint ableiten zu können. Dies ist freilich wider die Schrift; denn diese sagt: Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan. Ohne diese Haltung der Erwartung kann nichts weiterführen, — es gilt auch der Erfahrungssatz, daß man in der Ekklesiologie nicht vorwärts kommt, wenn man nicht zugleich etwas will. Es geht darum, aus alledem die Wurzel zu ziehen. Ich bekenne mich zu dem entschlossenen Willen, durch die Schärfe fundierter und darstellbaren Erkenntnisse zugleich einen Schritt in eine unsere gegenwärtige Erkenntnis überschreitende Zukunft zu tun.

Das Wissenschaftliche Kuratorium der Evangelischen Studiengemeinschaft unter dem Vorsitz von Professor Ludwig Raiser ✝ hat mir mit der Ermächtigung zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft evangelischer und katholischer Kirchenrechtler und Theologen zugleich das weite Feld der nachkonziliaren gesetzespolitischen und wissenschaftlichen Bewegung einschließlich der damals entstehenden internationalen kirchenrechtlichen Gesellschaften eröffnet. Vorstand und Kuratorium verdanke ich nunmehr die Freiheit, in eigener Verantwortung die Summe der Erfahrungen und Reflexionen vorzulegen, die mir in jahrzehntelanger Bemühung zugewachsen sind.

Frau Silke Riese und Frau Johanna Will habe ich für die unermüdliche Mitarbeit zu danken, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, das Gesamtwerk abzuschließen.

Schriesheim/Heidelberg, im Juni 1983

D. Dr. Hans Dombois

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Anmerkungen zur Einleitung

Hinweis:
Abkürzungen in Registern und Anmerkungen nach TRE;
Abkürzung „Das Recht der Gnade” = RdG

 

1 RdG II, Kap. 11, 35-51.
2 Dombois, Menschenrecht und moderner Staat, Zürich und Frankfurt 1948, 59.
3 Dombois, Hierarchie — Grund und Grenze einer umstrittenen Struktur, Freiburg 1971.