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Aus den vorhergehenden Kapiteln ergeben sich eine Reihe von weittragenden Folgerungen:
1. Die bisher im Grundriß dargestellten Konzeptionen der
Ekklesiologie weisen in auffallender Gemeinsamkeit Brüche und
Widersprüche in sich auf, und zwar wesentlich sub specie
historiae:
a) bei Maurer besteht ein Widerspruch zwischen System und
Geschichte durch Überspringung der letzteren
b) bei Heckel besteht ein Mißverhältnis von Theorie und Praxis
unter völliger Ausblendung der Geschichte
c) Grundmann konkretisiert Heckel um den Preis der eigenen
Schlüssigkeit
d) bei Erik Wolf besteht ein Widerspruch zwischen System und
Geschichte durch unvereinbare Voraussetzungen
e) Gloege wiederholt zunächst die Fehler, welche er selbst
weiterführend aufgedeckt hat.
2. Alle Autoren weichen je auf eigene Weise der ökumenischen
Frage aus:
Maurer vertritt — nach Interpretation verschiedener
Geschichtsdeutungen Luthers — unter Überspringung der Geschichte
ein Programm für die eigene Kirche.
Heckel entwickelt eine extrem spiritualistische Konzeption und
ein Schema von Generalbegriffen, deren allgemeine Maßgeblichkeit
die von ihm nicht thematisierte Frage der Ökumene gegenstandslos
macht. Seine Theorie ist ungeschichtlich — selbst im Verhältnis
zur eigenen Konfession.
Grundmann läßt sich von Wolf die Legitimität der Konfessionen in
ihrer Subjektivität versichern und verschiebt die ökumenische
Frage hinter die Kirchwerdung des Luthertums.
Wolf bestreitet in der eigenen Konzeption die petrinische
Tradition, die er gleichzeitig biblisch legitimiert und verlagert
die Lösung in den Bereich der letzten Dinge: vorerst begründet er
zugleich die vorfindlichen Konfessionen aus der subjektiven
Verschiedenheit der Schriftauslegung.
Gloege setzt die pneumatische Einheit der Kirche durch das Wort
so voraus, daß geschichtliche Formen ständiger gegenseitiger
Verbundenheit und aktueller Verpflichtung kein Interesse mehr
haben.
Man muß die Position als Selbstdarstellungen genau lesen. Überall
hält sich die petitio principii der Konfessionalität durch.
3. Die von Gloege programmatisch vorgetragene und von Wolf
implizierte munera-Lehre erweist sich jedoch als Prüfstein der
getrennten Kirchen:
Es zeigen sich zwei verschiedene Formen der Häresie oder
Defizienz.1
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a) Materiale oder funktionale Häresien, die in der
Vernachlässigung, Entwertung oder Preisgabe eines oder zwei der
munera — in verschiedenem Grade — bestehen.
b) Proportionale oder methodische Häresien, welche zwar die
Wahrnehmung und Verbindung mit der drei munera einschließen, aber
durch die Art der Verwirklichung oder/und die Vorrangstellung
eines der munera den logos oder modus ihrer geistlichen Ökonomie
(Kol. 1, 25) verfehlen.
4. Die materialen oder funktionalen Häresien lassen sich in der
verfaßten Kirche nachweisen, welche von der römischen Kirche
getrennt sind, während diese vorzugsweise als proportionale oder
methodische Häresie erscheint.
Diese Häresien sind sämtlich auf eine bedeutende Basis in
Tradition und Bekenntnisbildung — als geschichtlich — gegründet.
Sie zeige sich aber durchgängig außerstande und ungewillt, eben
diese Basis verbindlich weiterzuentwickeln und neu zu
formulieren. Die Fähigkeit hat trotz ihrer methodischen Häresie
die römische Kirche — übrigens entgegen der Prognose Harnacks
über das Ende der Dogmengeschichte — mindestens im II.
Vatikanischen Konzil unter Beweis gestellt.
Die geschichtliche Fortentwicklung der römischen Kirche hat
umgekehrt proportional zu ihrem Leitungsanspruch und ihrem
Einheitsverständnis die Trennung der Kirchen bewirkt, also durch
methodische Häresie die materiale hervorgetrieben. Der dominante
Zentralismus erzeugte den Partikularismus. Die römische Kirche
besitzt das Charisma der Entscheidung, aber trotz einer
beträchtlichen Spannweite nicht das der Integration. Die
getrennten Kirchen haben mit ihrer Partikularisierung die Kraft
und den Antrieb zur Einheit wie auch zur verbindlichen
Fortbildung verloren — kurz ihre Geschichtlichkeit.
5. Nach dieser Erfahrung stellt die munera-Lehre nicht nur
(positiv) eine legitime ekklesiologische Grundaussage dar,
sondern zugleich (negativ) den Maßstab einer fundamentalen Kritik
an den vorfindlichen Kirchen im Bereich ihres geschichtlichen
proprium.
Mit der Aufdeckung der in der Existenz der geschichtlichen Kirche
selbst begründeten vierfachen Sozialgestalt der
Kirche2 trat eine spezielle Defizienztheorie hervor:
genuine Unvollkommenheit der geschichtlichen Verwirklichung und
Spielraum zwischen Auflösung und Postulat der Vollkommenheit. Die
durch die kritische Anwendung der munera-Lehre eröffnete Einsicht
erweitert diese Weise der Betrachtung. Es geht nicht nur um die
Pluralität vergleichbarer Lebensformen, sondern um die Differenz
zwischen Methode oder Proportion (logos) einerseits, den
Elementen des Sachgehalts (res) andererseits. Das
intendierte Maximum führt zur methodischen, das intendierte
Minimum dagegen zur sachlichen Häresie, zum inhaltlichen
Schwund.
Nach dem gegenwärtigen Bestande der verschiedenen Ekklesiologien
könnte die munera-Lehre zum Konsens der Gesamtkirche werden
(unbeschadet eines Spielraums für unterschiedliche Auslegungen) —
sofern die
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Kirchen bereit wären, die These von Gloege aufzunehmen. Dies
würde freilich die Annahme der von ihm geübten Kritik, sachlich
die Einsicht erfordern, daß ihr bisheriges Selbstverständnis,
sei es aufgrund der CA, sei es durch
Auslegungs- und Haltungstraditionen, zu wesentlichen Verengungen
geführt hat.
Man kann auch den Kern der nouvelle théologie im französischen
Katholizismus und der Konzilsbewegung als Erkenntnis und Absicht
umschreiben, die in Lehre, Struktur und Praxis der Kirche
vorhandenen Disproportionen anzugehen.
6. Verwunderlich und beachtlich ist die Tatsache, daß so namhafte Gelehrte die beschriebenen Selbstwidersprüche nicht erkannt haben, ebenso, daß diese innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion nicht aufgedeckt, sondern allenfalls als Eigenheiten behandelt worden sind, die nur sekundären Bedeutung besitzen. Dies zeigt aber den wesentlich subjektiven Charakter dieser Systembildung, dem heute eine Veränderung der Situation entgegensteht. Die ökumenische Bewegung hat den geschichtlichen und gegenwärtigen Bestand der getrennten Kirchen gegenseitig transparent gemacht und zugleich die wechselseitigen Ausschließungen in unterschiedlichem Grade ermäßigt, nirgends aber bisher kirchenrechtlich bedeutsame, verbindliche Einigungen zustandegebracht.
7. Wenn man, faute d’autres, die behandelen Konzeptionen als repräsentativ ansehen muß, so zeigt sich, daß es angesichts der ökumenischen Frage keine schlüssige ekklesiologische Theorie im Raum des Protestantismus gibt — den Konfessionen bleibt nur die Rückverweisung auf ihr historisches Sosein übrig. Wie sich im Systemvergleich gezeigt hat, scheitern die Entwürfe ebensosehr an der Geschichtlichkeit wie an der Ökumenizität der Kirche. Ihre inneren Widersprüche beruhen überall auf dem Phänomen und Problem der Geschichte und Geschichtlichkeit der Kirche einerseits, ihrer Universalität andererseits. Jene Entwürfe vermögen weder das eine noch das andere und noch weniger beide miteinander sinnvoll zu deuten und einzubeziehen. Rein theologisch konzipierte Entwürfe und Systeme scheitern an der durch sie verdeckten Problematik der Gestaltung. Die unbedenkliche Ausblendung der geschichtlichen Tatbestände und die Schwäche des Verständnisses für die Morphologie der großen Institutionen des Kirchenrechts wirken zusammen.
8. Nicht wie bisher regelmäßig vorausgesetzt, die Kontraposition zudem Universalitätsanspruch der römischen Kirche und deren System, sondern der Blick auf das Ganze selbst richtet alle Teile. Die Konfessionen können sich nicht selbst aus ihrer historisch gewordenen Subjektivität rechtfertigen — noch ihre materiale Häresie aus der methodischen ihres Gegenübers — et vice versa. Der Anspruch des Ganzen ist es, der allein das Recht jedes einzelnen begründet — und demgegenüber ist auch die römische Kirche eine partikulare. Es geht nicht mehr um die Konfession der Rechtfertigung, sondern um die Rechtfertigung der Konfessionen.
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Gloege, dem lutherischen Bekenntnis treu, hat seiner Konfession über seine eigenen Intentionen hinaus weitreichende Dienste erwiesen. Er hat mit Hilfe der munera-Lehre die bittere Wahrheit des Verlustes zweier von drei Dimensionen der Kirche aufgedeckt, welche mit der traditionellen lutherischen Terminologie und Argumentationsweise niemals ins Bewußtsein getreten wäre. Er hat auch den logischen Mechanismus unwiderleglich beschrieben, der zu diesem Ergebnis geführt hat, es ständig festhält und erneuert. Sehr viel weiter reichen jedoch die aus diesem Gloege-Kapitel erwachsenen Erkenntnisse über proportionale und materiale Defizienzen.
Mit der munera-Lehre hat Gloege auf einer legitimen Grundlage Anschluß an eine Konzeption gewonnen, die heute dem ökumenischen Konsens sehr nahe ist. Sie bedeutet eine triadische Auslegung, welche die Selbstaussage Christi in Johannes 14 (Weg, Wahrheit, Leben) in die Nachfolge umsetzt. Daß die munera-Lehre in der kritischen Anwendung sehr viel distinktere Ergebnisse und Einsichten eröffnet als in der traditionell positiven, liegt freilich außerhalb der Erwägungen Gloeges.
Man könnte sagen, daß beide Formen sich verhalten wie die nicaenische Trinitätslehre zur chalcedonische Naturenlehre. Entfaltet die eine den heilsgeschichtlichen Prozeß, der in allen Beschreibungen des opus Christi die dogmatische Vorgabe für die Kirchenrechtslehre enthält, so die andere die Dialektik der Inkarnation. Mit Recht sagt das II. Vatikanische Konzil, daß die Kirche „divino et humano coalescit elemento”3.
Wie die positive Darstellung nach der Handlungstheorie der Kirche (I/13), der Lehre von der vierfachen Gestalt der Kirche (II/4) in weiteren Richtungen, insbesondere der Verfassungstheorie zu Ende geführt werden mußte, so die kritischen Aussagen in einer methodischen Zusammenfassung. Positive Entfaltung und kritische Begrenzung ermöglichen und erfordern zusammen, Idealismus und Kritizismus wechselseitig zu widerlegen und zu überwinden. Keine affirmative Theorie, sondern eine Überprüfung des Vorfindlichen anhand der munera-Lehre — selbst als Hypothese betrachtet — zeigt die Verfassungsgeschichte der institutionellen Großkirchen als eine beschreibbare und interpretierbare Einheit. Die Vorstellung, daß die eine oder die andere, daß eine jede nach ihrem Anspruch und Selbstverständnis die alleinige Kirche im rechten Verstande und Vollsinne sei, erweist sich systematisch und historisch als unhaltbar. Ich komme damit auf die Verdachtsspur zurück, die mich frühzeitig auf die Bezüglichkeit der großen Konfessionen geführt hat, ohne daß ich damals über evidente Wechselbeziehungen hinaus eine dogmatische und materiale Basis für eine Analyse zur Verfügung hatte4. Am allerwenigsten handelt es sich heute um die milde Blindheit einer allgemeinen Relativierung historischer Formen. Im Gegenteil: so wie Gloege seinen eigenen Konfessionsverwandten inhaltlich Dimensionsverlust und methodisch Nomismus und Antinomismus als herbe Tatsachen vorhält, so ist das sich herausstellende Urteil von großer Trennschärfe: das eine treibt das andere: die eifrige Perfektion verliert die Proportion und das gebotene Maß,die profunden und radikalen
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Kritiker verlieren ganze Dimensionen, deren Lebensgehalt sie durch Postulate und Ansprüche ersetzen. Sein und Schein fallen jetzt sichtbar auseinander.
Affirmation und Kritik treiben sich gegenseitig in die Fehler — eine gefährliche Bewegung, die sich auch im säkularen Bereich zeigt: diese Wechselwirkung ist nur allzu menschlich. Niemand aber ist bereit, seine Schwäche in seiner tatsächlichen, zu Unrecht verallgemeinerten Stärke zu erkennen und sich selbst einzuschränken. So schreibt ein jeder sich selbst zu, was er brauchte, sollte und nicht ist.
Mit großartiger Klarheit stellt sich die unzerstörbare Lebenseinheit der Kirche heraus — societas perfecta in defectibus correspondentibus. Man kann sich das verschieden vorstellen: als ein Gravitationssystem, in dem die einzelnen Körper sich durch Anziehung und Abstoßung halten oder als ein System kommunizierender Röhren — Protest und Verdammung, Verdammung und Protest führen nur weiter in den Verlust hinein, weil eine jede mit der begründeten Kritik die virtus des anderen um so sicherer verliert. Uns allen, unserem Urteil und unserer Zuwendung ist die sollicitudo omnium ecclesiarum aufgetragen. Kirchenrecht kann nur als ökumenisches betrieben werden, wie ein sorgfältiger Haushalter Gewinn und Verlust miteinander im Blick behält.
Das „ut omnes unum sint”, in welchem sich die Phantomschmerzen des Katholizismus jedenfalls in Deutschland ausdrücken, liegt noch durchaus vor diesen Erkenntnissen.
Entgegen der Autonomie partikularer Bildungen ist jede Konfession mit der Notwendigkeit und dem Widerspruch belastet, die in ihr ergriffene legitime Möglichkeit gleichzeitig als allgemeingültige Notwendigkeit zu vertreten und unter Beweis zu stellen. Dem stehen nicht nur die (durch den Donatismus unbestritten falsch interpretierten) menschlich-historischen Mängel entgegen, sondern der überall in charakteristisch verschiedener Weise auftretende und nachweisbare Dimensionsverlust. Die Einsichtigkeit, Evidenz und Überschaubarkeit dieser Tatbestände nötigt dazu und ermöglicht die bisher allein geltende Deduktion durch die Induktion zu ergänzen und zu korrigieren, ihre Grenzen aufzuzeigen. Die allgemeine wie die spezielle Defizienztheorie ähnelt der Erfindung der Photographie — über das Negativ wird das authentische Positiv herausgebracht. Dies greift methodisch durchaus weiter als die Dialektik der Aufklärung. Innerhalb von Maximum und Minimum wird das Maß der aufgegebenen Möglichkeiten deutlich. Auf alle Fälle zeigt der beschriebene Tatbestand eine Grenzsituation, welche weder dissimuliert noch durch banale Pluralitäten, noch durch die Flucht in das geduldete Abseits der Selbstgenügsamkeit ausgestanden werden kann.
Die doppelte Anwendung der Lehre von den drei munera Christi — positiv und kritisch zugleich — hat systematische und geschichtliche Bedeutung.
Sie beendet die nachgratianische Epoche des Kirchenrechts des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. In der Defizienztheorie trägt die Position die Kritik in sich selbst mit sich. Sie treibt die Ausrichtung an der Idealität aus, den
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denkerischen Zwang, das Heil in der Vollkommenheit oder der Annihilatio zu suchen. Sie hat die Beendigung des Universalienstreits zur Voraussetzung.
Zugleich deckt die Lehre das Miteinander und die Korrelation von modus und res, von Proportion und Inhalt auf. Sie stellt Geschichte und System in Zusammenhang und eröffnet den Blick auf das Ganze.
Indem dies in der Morphologie der Rechtsformen einsichtig gemacht werden kann, verbindet sie Gehalt und Gestalt und erweist die Befassung mit dem Canon (Galater 6) als legitimen Partner der dogmatischen Theologie. Sie hebt damit zugleich die Verwechselung des Rechts mit dem Gesetz auf. Sie erreicht uns, der Geschichtsthematik des späten Sohm entsprechend und gleichwertig, noch vor dem Ende des Jahrhunderts, an dessen Anfang er stand.
Der jähe Untergang der Bultmannschen Theologie zeigt das geschichtliche Ende des Präsentismus gerade durch ihre großartige Konsequenz an. Die maßvollen Vorschläge Schlinks zur Kurskorrektur, die kritische Entschlossenheit Gloeges und der methodische Anfang Elerts, dazu Käsemann in seiner Absage an Bultmann, zeigen zusammen den Weg aus der Sackgasse der Immobilität in Selbstverständnis und Haltung der lutherischen Kirche und Theologie — wenn nur irgendein Träger von Verantwortung in ihr sichtbar wäre.
Als Endergebnis legt sich der Rat nahe, dem schon früher erwähnten Vorschlage Edmund Schlinks zu folgen, es möge die lutherische Theologie von CA IV (der Rechtfertigung) auf CA III (dem „Christus pro nobis”) zurückgehen. Nachdem die römische Kirche die Kurskorrektur aus einer jurisdiktionellen Kirche zum Gedanken des Volkes Gottes und der communio gegangen ist, würde es der lutherischen Kirche wohl anstehen, eine ähnliche geschichtliche Entscheidung zu vollziehen. Auch diese würde von der Vorrangigkeit des forensischen Elements herunterkommen und die Grundlage darbieten, das unbewältigte Verhältnis von Verkündigung und Sakrament zum Ausgleich zu bringen, ohne das Gesicht zu verlieren. Auch sie bedarf einer „neuen Theologie” — „nouvelle théologie”. Sollte allein die römische Kirche imstande sein, sich in der Geschichte zu reformieren, während die lutherische Kirche an die „Geschichte in einem Fall” unwiderruflich festgeschmiedet ist?
Karl Barth hat noch vor seinem nachkonziliaren Rombesuch eine Art prophetische Warnung formuliert:
„... Mit Sorge fragt er (Barth) sich, ob sich nicht gegenwärtig die Erneuerung vom Evangelium her im Katholizismus entschiedener vollzieht. Wie wenn Rom (ohne aufzuhören Rom zu sein) uns Andere eines Tages, sofern es um die Erneuerung der Kirche aus dem Wort und Geist des Evangeliums geht, einfach überflügeln und in den Schatten stellen würde -- wenn wir es erleben müßten, daß aus Letzten Erste und aus Ersten Letzte würden ...”5
Es ist gerade die Lautlosigkeit, mit der — bis heute in Wirklichkeit trotz einer unermeßlichen Literatur erstaunlich wenig reflektiert -- sich die Richtungsänderung von der potestas-Lehre zur munera-Lehre vollzogen hat, welche aufmerken läßt. Die beiden primären Partner der Reformation haben heute
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sozusagen ein Geständnis abgelegt, indem sie aus ganz verschiedenen Gründen auf die munera-Lehre zugingen. Die Katholiken wollten eine Kurskorrektur von einer vorwiegend jurisdiktionell eingestellten Kirche zur communio. Dies ist der erklärte Sinn der konziliaren Bewegung.
Gloege dagegen verweist wegen deutlicher Ausfallerscheinung auf die munera-Lehre. Der Unterschied zwischen beiden Haltungen liegt darin, daß die römische Kirche auf den modus ihres Verhaltens eingeht und die Korrektur ihres Verhaltens im Blick auf alle Bereiche wenigstens plant. Gloege dagegen verweist auf inhaltliche Ausfallerscheinungen, welche bestimmte Lebensbereiche der Kirche in die Rückbildung geführt haben. Diese voneinander unabhängigen Bewegungen bestätigen die methodische Unterscheidung von modus und res, welche verschiedenen Blickrichtungen bedeuten, die sich nicht gegeneinander verrechnen lassen. Auf diese Weise bestätigen sie in völliger Selbständigkeit die Gegenüberstellung, die aus der Analyse der getrennten Kirchen hervorgegangen ist. Faßt die munera-Lehre etwa auch die getrennten modi der Zeit6 folgerichtig und stillschweigend zusammen?
Die Darstellung des Gravitationssystems trifft sich in etwa mit Simone Weils Formel: „Schwerkraft und Gnade”. Der Tatbestand, den ich erhoben habe, enthält zugleich die offene Frage, ob seine Aufdeckung Indiz und Indikation seiner Überwindung enthält.
1 Vgl. RdG II, Kap. V, 87-102.
2 RdG II, Kap. II, 35-51.
3 Lumen Gentium 8, 7 f.
4 Vgl. Dombois, Das System der großen Konfessionen,
in: Glaube, Recht, Europa, Glaube und Forschung 4, Gladbeck 1953,
135-159.
5 Karl Barth, Überlegungen zum Zweiten Vatikanischen
Konzil, in: E. Wolf (Hg.), Zwischenstationen, München 1968, 9-18,
hier: 15 f. Zitiert bei: Michael Hardt, Papsttum und Ökumene,
Beiträge zur ökumenischen Theologie 20, Paderborn 1981, 58.
6 RdG II, Kap. VIII, 159-176.