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Teil III

Verfassung und Verantwortung

 

— Kirche als Gravitationssystem und Nachfolge — 

 

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Kapitel XV

Die Bedeutung Rudolph Sohms für das ökumenische Kirchenrecht

Rudolph Sohm war derjenige Kirchenrechtslehrer, der seit Menschengedenken die größte Wirkung auf die gesamte Christenheit ausgeübt hat. Er war nicht unbestritten; selbst streitbar, ist er Zeit seines Lebens in Kontroversen mit anderen bedeutenden Gelehrten wie Friedberg und Harnack verwickelt gewesen. Sohm lebte im Zeitalter des Historismus und ist von ihm geprägt. Gleichwohl war er kein Historist. Er war vielmehr ein existentieller Denker. Er suchte immer mit Leidenschaft in den juristischen Phänomenen und Zusammenhängen nach dem grundsätzlichen Gehalt für den christlichen Glauben und das Existenzverständnis des Menschen. Dieser Trieb verlieh seinen Schriften den Glanz, die vorwärtsdrängende Kraft, die spannende Wirkung auf seine Leser. Dieses Engagement hatte jedoch auch für ihn selbst die Nachteile seiner Vorzüge. In dieser Leidenschaft der Deutung kam er zuweilen zu überspitzten Urteilen, sogar zu Kehrtwendungen der Interpretationen und anfechtbaren Einzelaussagen, die ihn der Kritik aussetzten.

Sohms Werk hatte mit seiner spektakulären Bestreitung des Kirchenrechts einen Vorzug vor allen Werken der Weltliteratur, der ihm zur größten Wirkung verhalf: man brauchte es nicht zu lesen. Man konnte sich seine These aneignen, auch ohne die schwierigen rechtshistorischen, rechtsphilosophischen und theologischen Erwägungen mitzuvollziehen, auf denen sie beruhte. So hat sie kritische Vorbehalte im Raum des Protestantismus bekräftigt, Vorurteile bestätigt, her auch dem unbefangenen Offenbarungspositivismus der römischen und orientalischen Kirche einen bleibenden Stachel eingepflanzt. Noch heute beginnt in diesem Bereich keine wissenschaftliche Arbeit mit grundsätzlichem Einschlag, ohne seiner Erwähnung zu tun, obwohl längst die neuzeitliche Exegese seiner These den Boden entzogen hat. Auch in der räumlichen und geistigen Entfernung der orientalischen Kirche macht sich dies noch bemerkbar.

Sohm starb 1917. Er hinterließ als letzte Arbeit das von mir eingangs von Band II1 besprochene Werk über das altkatholische Kirchenrecht als Beitrag zur Festschrift für Wach, mit seinen 700 Seiten selbst ein Dokument eines gelehrten Zeitalters. Dieser Umfang sprengte den Charakter der Festschrift und bedingte, daß das Werk gesondert gedruckt werden mußte. Die Fakultät fügte jedoch dieser Veröffentlichung eine kritische Besprechung von Ulrich Stutz bei, die noch heute den Neudruck begleitet. Die Leipziger Juristen-Fakultät, die Erbin des berühmtesten deutschen Schöffenstuhls, um dessentwillen der Sitz des Reichsgerichts nach Leipzig kam, brachte es nicht über sich, das letzte Werk ihres hochgelehrten Mitgliedes ohne eine Art Vorwarnung der Öffentlichkeit zu übergeben.

Der Galilei des Kirchenrechts, der Kritiker, der wie Kant eine groß Tradition zerschmettert hatte, sollte freiwillig widerrufen haben, ein Kirchenvater

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als Renegat — das sei ferne! Die liberale und die nationalliberale Theologie, die man wohl unterscheiden muß, ist gewiß tolerant in vielen Dingen, in denen andere empfindlich sind. Sie ist aber gar nicht tolerant, wenn ihre zentrale Dogmatik, die sie eben doch hat, gefährlich in Frage gestellt wird. Sie spürt dann jede Auswirkung auf und ist so hart wie nur irgendeine andere Glaubensrichtung in der Gegenwirkung.

Wie auch immer, ist es tatsächlich gelungen, Sohm, der sich nicht mehr wehren konnte, um die Wirkung seines abschließenden Alterswerkes zu bringen. Keiner der Gelehrten beider Fakultäten, der theologischen wie der juristischen, die mit Sohm ihrer Entwicklung der neueren evangelischen Kirchenrechtslehre beginnen ließen, oder sich auch auf ihn stützten, hat seine eigene Umkehr, die Preisgabe seiner früheren Grundsatzthese, ausgewertet. Sohm war weder Rechtstheoretiker oder Rechtsphilosoph noch theologischer Dogmatiker, sondern ein Rechtshistoriker, der aus geschichtlichen Erkenntnissen als engagierter Christ wie auf anderen Gebieten hier grundsätzliche Folgerungen gezogen hatte. Sein Urteil, seine Kompetenz stand und fiel mit seinen historischen Forschungsergebnissen. Theologie und Kirchenrechtslehre aber behandelten seine These als einen zeitlos-abstrakt gültigen Grundsatz, mit dem sie ein liberales oder spiritualistisches Kirchenverständnis zu decken versuchten.

Erst Wilhelm Maurer hat die Bedeutung des zweiten Sohm wirklich verstanden und gewürdigt, wenn er sagt:

„Der Begriff des sakramentalen Rechtes, den Sohm in die wissenschaftliche Debatte eingeführt hat, wird zwar von ihm enger begrenzt, als es im folgenden geschieht, wird vor allem von ihm nicht auf das Neue Testament ausgedehnt. Aber daß der sakramentale Kultus Recht erzeugt, das ist eine Entdeckung Sohms, die in ihrer Bedeutung noch ihre wissenschaftliche Würdigung finden muß. Und daß dieses Recht von Anfang an in der christlichen Kirche eine eigenständige Wurzel hatte, ist eine Folgerung, die mit gutem Gewissen aus Sohm gegen Sohm gezogen werden kann. Erst durch die Erkenntnis, daß zwischen Bekenntnis und Sakrament ein enger, wesentlicher Zusammenhang besteht, dürfte die verwickelte Frage des Verhältnisses von Bekenntnis und Recht einer Lösung näher geführt werden.” 2

Aber auch Maurer hat damit die Mauer des Desinteresses nicht zu durchbrechen vermocht.

Die Bedeutung Sohms wird man nur dann voll würdigen können, wenn man den Zeitpunkt seines letzten Werkes mit bedenkt. Sohm starb 1917 — damals stürzte das orthodoxe Kaisertum und bald darauf das katholische und das protestantische. Das 400jährige landesherrliche Kirchenregiment fiel dahin — die Kirchen wurden genötigt, ihre geschichtliche Identität selbst zu verantworten und sich dazu zu rüsten. Weder der geblendete noch der sehende Simson brauchte von den Fundamenten her das Gebäude einzureißen — es fiel von selbst. Aber eben auf diesen Zusammenbruch waren die deutschen Kirchen dominierend lutherischer Tradition nicht vorbereitet und ebensowenig entschlossen, sich dieser neuen geschichtlichen Situation zu stellen.

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Man kann Sohm mit einem Handwerker vergleichen, der am Ende seines Lebens als Beweis seiner Meisterschaft ein besonderes Werk hinterlässt, in welchem er Kompositionsgabe und Beherrschung des Materials vollgültig vereint. Man kann ihn sich als Kunsttischler vorstellen — denn er hat zu diesem Werk zwei Schlüssel hinterlassen, die nur gemeinsamen den Schrein zu öffnen vermögen.

Der erste Schlüssel ist die Bemerkung, daß die Rezeption des Satzes von ausgeschlossenen Dritten das Ende des altkatholischen Kirchenrechts heraufgeführt habe. Der andere Schlüssel liegt in dem Hinweis, daß im Augenblick der Veröffentlichung des Decretum Gratiani das Kirchenrecht, das er beschrieb, bereits durch den Fortgang der Geschichte überholt gewesen sei. Dies ist in der Tat so deutlich, wie wir aus der Kunstgeschichte der großen Stilbildungen, aber auch aus der großen Fülle theologischer Kontroversliteratur, den Fortgang der geschichtlichen Entwicklung fast wie an einem Uhrwerk in großer Folgerichtigkeit ablesen können. Für die Stilbildung kann dies selbst der Laie, wenigstens für größere Abschnitte, an gröberen Merkmalen einigermaßen erkennen.

Mit der letzten Bemerkung hat Sohm der Fehldeutung entgegengewirkt, es handele sich in der Darstellung des Dekrets um eine Art Idealität, eine klassische, für alle Zeiten geltende Konzeption. Gratian war für Sohm nicht die Grundlegung, sondern eine klassische Darstellung. Auch ich habe mit aller Deutlichkeit die manifeste Ausbreitung eines anderen Kirchenrechts mindestens mit der Spaltung von Ost und West ab 1054, in Vorformen schon merklich früher, angesetzt. Dies ist höchst wichtig. Denn jede gegenwärtige Verweisung auf die Bedeutung dieses Werkes und des darin geschilderten Systems selbst begegnet dem schlagwortmäßigen Einwand, es handele sich um eine regressive Idealisierung einer vergangenen Epoche. Es geht nicht um Idealität, sondern um die Relevanz der Tatsachen, um die Relevanz der Geschichte überhaupt, die hier präsentiert wird.

Sohm II zeigt als geschichtliches Faktum eine Form des Kirchenrechts, deren Eigenständigkeit aus dem Geschichtsfeld nicht mehr ausgeschieden werden kann, eine Epoche, deren archaische Formenstrenge nicht gesetzlich und deren Geisterglaube nicht schwärmerisch war, die also beides, Gestalt und Geist langfristig miteinander zu verbinden vermocht hat. Was das bedeutet, hat wenige Jahre später auf einem wesentlich anderen Niveau, ohne rechtshistorische Kompetenz, Friedrich Heiler in sehr eingängiger Weise dem Verständnis nahegebracht, indem er altkirchlicher Autonomie dem päpstlichen Zentralismus gegenüberstellte.

Sohm machte es fortan unmöglich, die 1000 Jahre von der Ur- und Frühkirche bis zum Beginn des Mittelalters um der Probleme dieses letzteren willen zu überspringen, wie dies noch immer der Fall ist und sich in den Abfalltheorien3 durchhält.

Hier zeigt sich das grundlegende Interesse einer jeden Konfession am Geschichtsbild, wie es sich schon seit Flacius gezeigt und durchgehalten hat.

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„Jede neue Kirchen- und Sektenbildung ist mit einer Revision des überkommenen Kirchengeschichtsbildes derjenigen Kirche verbunden, von der sich die betreffende neue Kirche oder Sekte lostrennt: zu jeder neuen Kirchenlehre gehört ein korrespondierendes Bild der Kirchengeschichte, das die Loslösung der neuen Kirche von der alten historisch begründet und rechtfertigt und Korrekturen des traditionell überkommenen Kirchengeschichtsbildes vornimmt.”
Natürlich hat auch die Kirche, von der sich Teile ablösen, ihr spezifisches Geschichtsbild.4

Wenn nun der beschriebene Umbruch ohne die Ost-West-Spaltung nicht zu denken ist, bleiben doch die beiden Kirchen bei den wesentlichen Merkmalen der Alten Kirche. Sakramentalität und bischöfliche Verfassung, die nunmehr eigene Gestalt und Gewichtung annehmen.

Diese verbliebene Gemeinsamkeit aber ist es gerade, welche die Reformation verliert — bewußt aufgibt oder unversehens verfallen läßt.

Nun haben beide Konfessionen ein gemeinsames Interesse, das Geschichtsbild Sohms zu kritisieren. Beide verteidigen sie ihr eigenes Geschichtsbild — also sachlich entgegengesetzte Positionen.

Wenn man das Mißverständnis vermeidet, es handele sich um eine ungeschichtliche Idealität, so hat doch Sohms Laudatio auf Gratian eine allzu schlüssige Folgerichtigkeit des Systems annehmen lassen. Ohne ein beträchtliches Maß an Spannungen, Widersprüchen und Inkonsequenzen ist auch eine tragfähige geschichtliche Konzeption nicht wohl zu denken. Zugleich kann auch eine unterschiedliche Gewichtung der sog. außertheologischen Faktoren die Eigenständigkeit der Bildung, ihre durchhaltende Identität nicht grundsätzlich in Frage stellen.

Der sachliche Kern einer Kritik, welche eine komplexere Darstellung und Auslegung fordert, liegt im Bereich der jurisdiktionellen Elemente. Die Entstehung einer regiminalen Hierarchie, insbesondere des Patriarchalsystems, geht nicht voll auf in der Durchgängigkeit des epikletischen Kirchenrechts. Mit dieser Einsicht verteidigt die lateinische Theologie und Kanonistik ihr geschichtliches Erbteil am ersten Jahrtausend, welches sie nicht einer dominant und typologisch ostkirchlichen Sicht überlassen kann und will. Ich selbst würde mich auf diese Weise zu meiner Gesamtanschauung5 in Widerspruch begeben. Bekenntnis und Sakrament sind zweierlei, aber aufeinander verwiesen und verbunden. Das Recht, die einseitige Folgerichtigkeit Sohms einzuschränken, beruht ganz und gar auf die Bereitschaft, beides, Bekenntnis und Sakrament, Selbstentäußerung und Zuwendung, zusammenzuwehen und zusammenzuhalten.

Mit der Einsicht dieser Notwendigkeit sagt jedoch Congar in einer Erneuerung der Sohm-Debatte:

„1. Les sacrements sont instituants et structurants. Le baptême (et la confirmation) créent la qualité de personne dans l’ordre chrétien de la nouvelle alliance. Il fonde les droits et devoirs d’une personne tant individuellement prise que dans ses rapports de communion dans la communauté des baptisés.”

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„2. Les sacrements ne sont pas la seule source de droit. D’autres sources, ou bien leur sont jointes et mêlées, ou bien s’affirment à côté d’eux.
a) Les sacrements sont des professions de la foi, mais logiquement ils la supposent.” 6

Ob Congars hier nachfolgende Kritik an Maurer trifft, braucht hier nicht untersucht zu werden.

Deutlich ist aber, daß in beiden Kirchen die klare Einsicht in das hier Gesagte fehlt. Denn sonst hätte nicht der erste (abgelehnte) Entwurf einer Lex Ecclesiae Fundamentalis im Prooemium die an Tönnies’ Soziologie erinnernde Dualität von communitas und societas verwenden können. Andererseits ist trotz Barth das reformatorische Kirchenrechtsverständnis ein einseitig bekenntnisrechtliches geblieben. Bekenntnis und Sakrament verbinden sich — die Sakramente sind nicht Gegenstand oder Inhalte des Bekenntnisrechts, sondern selbst konstituierende Rechtsvollzüge.

Es wäre falsch zu leugnen, daß Sohms Deutung angesichts der Kirchenspaltung und der Misere des lutherischen Kirchenrechts tatsächlich für viele eine Versuchung zu falscher Idealisierung gewesen ist. Dieser Kurzschluss hat sich auch gegen mich gewendet. Rudolf Smend hat nach Erscheinen von Band II dieses Werkes klar gesagt, daß dieser Band mit dem Unternehmen einer durchgängigen Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte das endgültige Dementi einer solchen Missdeutung von Band I darstellt.

Indem Sohm die Denkstruktur aber als dasjenige Moment bezeichnete, das eine anschließende Epoche gerade in ihren rechtlichen Gestaltungen präjudizierte und charakterisierte, stellte er eine Frage, deren Tragweite sich eigentlich erst in unserer Zeit enthüllt hat. Es ist die frage, ob und inwiefern gerade die verhängnisvoll streitige Entwicklung unseres Jahrtausends auf gemeinsamen Voraussetzungen beruht, die diesen Streit ebenso veranlaßt wie nach Substanz und modus haben führen lassen. Heute kann gefragt werden, ob diese gemeinsamen Voraussetzungen in der Geistesgeschichte der von der Kirche geformten Völker aufgehoben und überholt sind. So wäre nicht die Wahrheit, sondern die Denkform bestimmend.

Hat nicht gerade der Satz vom ausgeschlossenen Dritten das Miteinander sowohl dualer wie antinomischer und prozessualer Konzeptionen durch eine zweiwertige Logik ausgeschlossen, hat er nicht auseinandergetrieben, was von Anbeginn in seiner Unterschiedenheit zusammengehört, hat er nicht einem personalen Monismus — ut omnes unum sint — einen sachlichen Solismus gegenübergestellt, indem er Person und Gehalt auseinanderriß?

So hat Sohm durch die Infragestellung der gegensätzlichen Geschichtsbilder in ihren Voraussetzungen zugleich die Frage nach der Geschichte des Ganzen und damit der Einheit selbst, und also dem ökumenischen Kirchenrecht selbst, der ökumenischen Bewegung vorgreifend, gestellt.

Sohm hat hier freilich abgebrochen. Er hat es dem protestantischen Leser leicht gemacht, sich dessen zu trösten, daß nunmehr die frühere Verdammungsformel

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einfach auf die mittelalterliche Teilgeschichte zu begrenzen sei, und daß also im Ergebnis alles beim Alten bleibe. Aber die Kritik einer Epoche ist etwas anderes als die der ganzen Geschichte im Grundsatz und in der Entwicklung.

Über die beschriebenen Perspektiven hinaus hat das posthume Werk Sohms noch eine weitere, bisher nicht beachtete Bedeutung. Der Titel zeigt schon, daß es sich um ein „Und-Thema” handelt. Es stellt sich nicht nur die Fortschreibung des Kirchenrechts in eine neue Epoche dar, sondern zwei diversa genera — die konkrete Kirchenrechtsgeschichte einer Periode als Sinneinheit und eine zusammenfassende wissenschaftliche Darstellung. Es ist der Anfang einer geschichtskritischen Kirchenrechtswissenschaft überhaupt, der sich hier vollzieht. Damit ist eine neue Bewußtseinsstufe erreicht. Mit der glänzenden und folgerichtigen Gesamtdarstellung ist auch eine implizite kritische Durchsicht verbunden.

Die Entstehung einer Kirchenrechtslehre ist kein Sondergut der „juridischen Tradition” der lateinischen Kirche. Sie hat sich in analoger Weise in derselben Zeit in der Ostkirche vollzogen, insbesondere in der Person von Balsamon. Daß es sich nicht um die Ausgliederung und Verselbständigung eines besonderen Arbeitsbereichs, eines Wissenschaftszweiges handelt, sondern um einen Neueinsatz, zeigt sich auch in der Tatsache, daß in beiden Teilen der Kirche fast schlagartig bedeutende konstruktive Denker dieser Arbeit Grundlage und Richtung gegeben haben. Das Verhältnis beider Kirchenrechtsdisziplinen untereinander ist noch ein besonderes Problem; eine Abhängigkeit besteht jedenfalls nicht. Es ist im Gegenteil der Denkstil und die Form der Fortbildung deutlich verschieden. Dessen ist sich die moderne ostkirchliche Kirchenrechtslehre von Milasch bis Alivisatos immer bewußt gewesen.

Man könnte sagen, daß in der Ausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin auf diesem Felde erstmalig Sein und Bewußtsein auseinandergetreten sind. Eine begrenzte Ähnlichkeit besteht mit der Struktur der Naturrechtslehre. Wie oft verkannt worden ist, ist diese unvermeidlich ambivalent — sie ist sowohl affirmativ wie kritisch. Sie kann ohne kritisches Element in der notwendigen Spannung zwischen positivem und Naturrecht nicht bestehen. Sie kann aber ebensowenig die Substanz und die Positivität ihres Gegenstandes zu bloßen Postulaten verdampfen lassen. Eine nur kritische Naturrechtslehre, die zur Entwesung des Rechtes und Verleugnung des Rechtsgedankens führt, ist ein Widerspruch in sich selbst.

In der Geschichte der lateinischen Kirche zeigt sich diese Spannung auch in der Kanonistik. Ihre großen Vertreter haben regelmäßig die beiden Möglichkeiten, die entgegengesetzten Positionen gegeneinander vertreten, insbesondere im Streit um das Papsttum. Die Kanonistik kann daher gerechterweise nicht als eine genuine Hilfstruppe dieser oder jener Ansprüche, vor allem des Papsttums selbst interpretiert und denunziert werden.

Bei dem Vergleich zwischen Naturrechtslehre und Kanonistik ist eine wesentliche Strukturdifferenz wichtig. Die Abstraktion des Naturbegriffs hat mit

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der zunehmenden Vergeschichtlichung des Denkens die Notwendigkeit ergeben, Naturrecht mit Geschichte zu verbinden, eine Konsequenz, die dieser Lehre einen wesentlichen Teil ihrer Evidenz und Wirkung genommen hat. Kirchenrecht aber ist nicht das Naturrecht der Kirche.

Sodann verbindet Kirchenrecht von vornherein wegen des institutionellen und geschichtlichen Charakters der Kirche die Bereiche, welche die Jurisprudenz in der Unterscheidung von allgemeiner Rechtslehre und allgemeiner Staatslehre gesondert verhandeln muß, ohne sie systematisch in einem Entwurf verbinden zu können. Die Kirchenrechtslehre dagegen muß von vornherein Rechtsgebiete miteinander verbinden, die beiden — mit Vorbehalt — analog sind. Sie übergreift mit Personenrecht, Verbandsrecht, Disziplinarrecht, Prozessrecht und Verfassungsrecht von vornherein diese Scheidung. Sie kann auch nicht vorzugsweise in der einen oder anderen Richtung verstanden werden.

Ion diesem Zusammenhang wird das Gespräch interessant, über das ich in anderem Zusammenhang berichtet habe: Die Erwägung von Rudolf Smend und Ernst Wolf, ob Luther bei der Verbrennung des kanonischen Rechts vor dem Elstertore auch das Decretum Gratiani eingeschlossen habe.7 Es geht hier nicht darum, ob Luther ein klassisches Werk verdammt hat, sondern ob er radikal versucht hat, das ganze Fach bis in seine historische Wurzel zu treffen. Aber eben dies mußte ohnehin ein untauglicher Versuch sein. Eine einmal eröffnete denkerische Perspektive und Dimension, wie si in dem Miteinander von Kirchenrechtslehre und Kirchenrechtspraxis hervorgetreten war, kann nicht mehr aus der Welt geschafft, sondern nur vorwärts entwickelt werden. So erscheint Luthers Vorgehen als ein regressiver Anachronismus, der zwar möglicherweise inkonsequent, doch auf die Wiederherstellung einer verlorenen Einheit und Eindeutigkeit gerichtet war. Diesem Versuch haben die kursächsischen Juristen mit Erfolg widerstanden, indem sie auf diesem ganzen Felde nur eine direkt aus der Schrift begründbare Ablehnung gelten lassen wollten, das Ackerfeld von Rechtslehre und Rechtspraxis nicht antasten ließen. Sie waren es ja, welche mit der Ausbildung des Konsistorialwesens notwendig Konsequenzen für die Befestigung einer neuen Kirchenreform zogen und damit das Überleben der neuen Konfession erst ermöglichten. Diese Differenz ist in Wahrheit unausgetragen geblieben.

Seit aber nach 1945 — nun endlich unvermeidlich geworden — die evangelische Kirchenrechtslehre in Deutschland sch zu Systementwürfen und grundsätzlichen Konzeptionen aufraffte, wurde unausweichlich das Geschichtsbild des Kirchenrechts ein integrierender Bestandteil, eine denkerisch Voraussetzung.

Die rasch steigende Interdependenz der ganzen Welt, die ökumenische Bewegung und Begegnung, die Relativierung der bisher isoliert verstandenen Konfessionen nötigt zu Vergleich und Selbstkorrektur. Wird die grundsatztreue Isolierung zunehmend unmöglich, so wird auch das Geschichtsbild entsprechend wichtiger, ja zum Prüfstein für Schlüssigkeit und intellektuelle

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Redlichkeit, an dem eine Konzeption scheitern kann. Keine bloße Vergeschichtlichung im Sinne einer fruchtlosen Relativierung, sondern die Verbindung von System und Geschichte ist es, die sich als notwendig abzeichnet und in der Sohm vorausgegangen ist.

 

Anmerkungen zu Kapitel XV

1 Rudolph Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, FS für Wach, München/Leipzig 1918, Darmstadt 1967. Vgl. RdG II, 24 f.
2 Wilhelm Maurer, Bekenntnis und Sakrament — Ein Beitrag zur Entstehung der christlichen Konfessionen, Berlin 1939, Vorwort VI.
3 S. RdG II, Kap. I, 21-34, u. V, 87-102.
4 Heinz-Günther Stobbe, Konflikte um Identität. Eine Studie zur Bedeutung von Macht in interkonfessionellen Beziehungen und im ökumenischen Prozeß, in: Peter Lengsfeld (Hg.), Ökumenische Theologie, Stuttgart-Berlin 1980, 190-237, hier: 203. Stobbe zitiert a.a.O. E. Benz, Kirchengeschichte in ökumenischer Sicht, Leiden/Köln 1961.
5 Vgl. RdG I, Kap. XIII, 815-872.
6 Yves Congar, Rudolf Sohm nous interroge encore, in: ders., Droit ancien et structures ecclésiales, London 1982, 263-294, hier: 286.
7 Vgl. RdG II, 226 f., Anm. 25.