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1a-e
Karl Barth hat 1937 mit seiner Schrift „Rechtfertigung und Recht”2 der Rechtstheologie Thema und Anstoß gegeben. Er hat später in der „Kirchlichen Dogmatik”2a einen wesentlichen Schritt darüber hinaus getan, indem er das Kirchenrecht als liturgisches und bekennendes Recht definierte. Über die Frage nach einer Verbindung von Theologie und Recht hinaus gelangte er selbst damit zu inhaltlichen Aussagen, über Begriffe zu Strukturen spezifischen Handelns. Die Bedeutung dieses Schritts ist freilich noch nicht allgemein erkannt worden. Mit jener frühen Anfrage und der späteren These hat Barth die Gründe nicht aufgedeckt, welche die evangelische Theologie in Deutschland, vorzugsweise aber die lutherische, in einer so grundsätzlichen Weise — bis heute — verhindert haben, in ein Gespräch mit der Jurisprudenz einzutreten.
Mit der Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Recht war bei Barth wesentlich die Verantwortung für Mission und Diakonie der Kirche, darüber weit hinaus für Rechtspolitik und Sozialethik gemeint. Er setzte also dabei die Rechtfertigungslehre selbst voraus. Bei dieser Anfrage an die lutherische Theologie hat Barth die Tatsache zurückgestellt und unerwähnt gelassen, daß er mit der lutherischen Rechtfertigungslehre als solcher und in der Frontstellung gegen die betreffenden Aussagen des Trienter Konzils einig war, aber zugleich mit der reformierten Tradition den Stellenwert dieser Lehre im Gesamtgefüge der systematischen Theologie wesentlich anders beurteilte und ansetzte. Diese von ihm an anderer Stelle erörterte Tatsache3 gehört jedoch in diesem Zusammenhang.
Barths Anfrage stand im Zusammenhang mit einer vielfältig sich anmeldenden reformierten Kritik an der lutherischen Kirche und Theologie, bis hin zu der Frage, ob Rechtfertigung und Kirche als solche soviel zu bedeuten hätten, daß sie die weitergreifenden Forderungen aus dieser Lehre für das innerweltliche Verhalten bis zu einem gewissen Grade zurückdrängen dürften. Barth: „Bedenklich war nicht, was da gesagt, sondern was da nicht gesagt wurde. Man stelle sich die Frage: Wozu das Alles?, um der da klaffenden Lücke sofort gewahr zu werden.”
Barth fragt nach dem Sinn und Zweck der Existenz der christlichen Gemeinden und findet in der so überlieferten Lehre „De Ecclesia” keine, oder eine nur unbefriedigende Antwort. „Sollte die Kirche sich, indem sie als Heilsgemeinde und Heilsanstalt existiert, Selbstzweck sein?”3a Nach Barth wurde damit der Kirche zugeschrieben, was doch rechtmäßig nur dem Sein Gottes für den Menschen und dem Sein des Menschen für Gott zukommen kann. „Sie wäre dann in eigentümlicher Konkurrenz mit Jesus Christus, ihn wohl gar
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überbietend — die Verwirklichung des in ihm und durch ihn uns ermöglichten göttlich-menschlichen Seins; sie wäre dann als solche das Reich Gottes” (877).
Frage: Was ist aus 2. Kor. 5, 19 / Joh. 3, 16 / Kol. 1, 16 geworden? „Eine Beziehung, gar eine ihr fundamental wesentliche Beziehung dieser Heilanstalt und Heilsgemeinde nach außen — eben zu dieser Welt hin — scheint in der klassischen Lehre von der Kirche nicht vorgesehen zu sein. Als ob so etwas gar nicht in Frage käme, es wäre denn bei der Erklärung ihrer Beschreibung als ecclesia militans, wo man gelegentlich Anlaß fand, festzustellen, daß sie auf Erden und in dieser Zeit wie gegen das Fleisch und gegen den Teufel so auch gegen die Welt — zu kämpfen habe. Gewiß hat sie auch gegen sie zu kämpfen. Aber hat sie nicht vor allem für sie da zu sein?” (877 f.)
Barths Frage wird in gewisser Weise von Stuhlmacher in einer kritischen Exegese des Augsburgischen Bekenntnis aufgenommen:
„Fragen an das in der CA vertretene Kirchenverständnis drängen sich dem Exegeten (erst) von folgenden Seiten her auf. Die für die Missionszeit des Anfangs so charakteristische Unterscheidung von Kirche und „Welt”, getauften glaubenden Christen und ungläubigen Heiden und Juden tritt in der CA völlig in den Hintergrund. Während es für die urchristlichen Missionsgemeinden theologisch wesentlich und missionarisch unabdingbar war, sich durch den zeichenhaften Gehorsam ihrer Glieder von den Ungläubigen zu unterscheiden und gleichzeitig der Kritik dieser Nichtchristen standzuhalten (vgl. dazu klassisch 1. Kor. 6, 1-11; Phil. 2, 14 f.; 1. Petr. 2, 11 f. und Jak. 2, 1-7), wagt die CA es nicht mehr, den zeichenhaften christlichen Gehorsam als Kennzeichen der Gemeinde zu reklamieren. Aus der kirchlichen und geschichtlichen Situation des Jahres 1530 heraus wird dieses Schweigen erklärbar, aber es kann im blick auf die ausgedehnte neutestamentliche Gemeindeparaklese nicht auf Dauer zum Vorbild genommen werden.” 4
Barth setzt bei dieser Frage die Rechtfertigungslehre als solche stillschweigend immer voraus. Hier liegt offenbar für ihn nicht der gesuchte Kontroverspunkt. Diese Lehre hat eine unermessliche Literatur erzeugt. Man sollte meinen, daß daraus wenigstens in den Hauptpunkten, sei es einverständlich, sei es in bestimmten Kontroverspunkten, Klarheit gewonnen sei. Das ist aber gerade nicht der Fall. Sie hat keine scharfen Konturen erlangt und erlaubt jedermann, darunter zu verstehen, woran ihm gelegen ist. Andererseits besteht eine lebhafte Empfindlichkeit gegenüber eingreifenden Fragen, Reaktionen, die bis zur Verketzerung führen können. Wiederum lassen die immer neuen Wiederholungen der Thematik keine Erwartung erkennen, damit zu wirklich neuen Erkenntnissen vorzustoßen. Es geht immer um die „Wieder”-holung bereits vorausgesetzter Erkenntnisse. Eine entschiedene und wirksame Ausschließung von Fehlauslegungen findet sich nicht — diese mag verbal so heftig sein wir nur möglich — jene Positionen werden nicht abgrenzend namhaft gemacht.
Das eine Thema enthält eben in Wirklichkeit zwei Fragen, die als solche
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nicht voneinander gesondert werden — die Frage nach dem authentischen Gehalt als solchem und diejenige nach dem Stellenwert im Gesamtentwurf der Theologie, innerhalb der Hierarchie der Wahrheiten.
Im „Lexikon für Theologie und Kirche” findet sich nach einem Artikel über „Rechtfertigung” von Karl Rahner ein solcher über das entsprechende evangelische Glaubensverständnis — genauer das lutherische — von Wilfried Joest. Er sagt hier:
„Die Rechtfertigungslehre ist nach ev. Verständnis darum zentral, weil sie als ad hominem angewandte Theologie und Christologie zugleich Grundlage der christl. Ethik ist. — Bei Calvin u. in den Bekenntnisschriften der Reformierten Kirche tritt diese zentrale Stellung der im übrigen mit der luth. Auffassung im wesentlichen übereinstimmenden Rechtfertigungslehre weniger hervor. Die im heutigen Protestantismus gelegentlich vertretene These, die zentrale Bedeutung dieser Lehre sei zeitbedingt gewesen u. heute nicht mehr zu behaupten, muß abgewiesen werden. Die Frage, wie wir an der Gottesgerechtigkeit teilbekommen, bleibt die Grundfrage menschlicher Existenz, unabhängig davon, ob Menschen einer bestimmten Zeit das Gewicht dieser Frage fühlen oder nicht.” (Hervorhebungen vom Verf.) 4a
Das Verhältnis dieser beiden Auslegungen, ihre Unterschiede und deren Verträglichkeit, ist hier nicht thematisch behandelt. Diese Sätze zeigen aber deutlich die immanent übergangenen Leerstellen. Ausgefallen ist vor allem die Erwägung, warum in der reformierten Theologie die Rechtfertigungslehre nicht die gleiche zentrale Stellung besitzt. So wie die entscheidende Kritik und Frage an die römische Kirche die Übergewichtigkeit des regiminalen Elements, so stellt sich diese Frage auf der lutherischen Seite für die Rechtfertigungslehre.5 Zuzustimmen ist der Auffassung, daß die Anerkennung des hohen Rangs dieser Lehre nicht zeitbedingt sei. Aber gerade um den Grad, die zentrale Stellung und damit die Proportionen geht es.
Ebenso entscheidend wie diese System- oder Rangfrage ist, wie wir an der Gottesgerechtigkeit teilbekommen. Gerade dieses wie aber ist nur unzulänglich geklärt. Dieser Mangel gibt der beliebigen Deutung und Formulierung der Lehre zu ihrem Schaden Raum. Schon die unausgesprochene Voraussetzung, daß es sich jeweils im radikalen Sinne um den einzelnen allein handele und nicht zugleich um die Sammlung des Volkes Gottes aus den Völkern, zeigt die Unvollständigkeit und historische Kontingenz der Aussagen, — zunächst in den Aussagen der Bekenntnisschriften und dann im Traditionsgefälle der Auslegung. Schließlich und endlich haben auch Rahner und Joest dieses Problem mit seinen rechtlichen Begriffen ohne Berücksichtigung der implizierten Rechtstheologie, deren Analyse und Konsequenz behandelt.
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Belastet ist die Erörterung des Begriffs der Rechtfertigung durch die Tatsache, daß Luther selbst in der Übersetzung der entscheidenden Schriftstelle Röm. 3, 21 von der δικαιοσυνη θεου, der Gerechtigkeit Gottes, durch den dogmatischen Zusatz „die vor Gott gilt” über den Text hinausgegangen ist. Die weiteste Fassung der Wiedergabe, die heute noch als zulässig angesehen wird, verbindet jedoch den genetivus objectivus mit dem genetivus subjektives, stellt damit die einseitige Hervorhebung des einen deutlich in Frage.
Zu dieser expansiven Übersetzung des Schrifttextes gehört auch, daß in Röm. 3, 28 erst die Umstellung des Satzbaus aus dem Griechischen in das Deutsche die Einfügung des Begriffs „allein” ermöglicht, welcher in dem Griechischen „choris” („außerhalb”) noch keineswegs enthalten ist. Choris — auch als „ohne” zu übersetzen — ist eine rein negative, ausschließende Aussage. Sie schließt aus, sagt aber nicht, was neben dem Ausgeschlossenen besteht und zu sagen ist. „Allein” ist jedoch demgegenüber eine positive Aussage, welche die Alleinigkeit, Einzigartigkeit und Ausschließlichkeit bedeutet. Ist der Inhalt dieses „allein” heilsam, so kann auch nichts mehr zur Aussage stehen, was mit diesem alleinigen in gleicher Heilbarkeit und Bedeutsamkeit verbunden ist. Choris heißt „draußen”, d.h. in einer wesentlich anderen Dimension. Aber was zu dieser Dimension gehört, was sich in ihr ereignet, bleibt offen; denn was „draußen” ist, kann über das „drinnen” nichts aussagen; es ist ihm verschlossen.
Dieses „allein” ist als dogmatische Formulierung in den Reichstagsverhandlungen auf katholische Einwendungen hin einverständlich fallengelassen worden, ist aber im Bibeltext erhalten geblieben und kehrt in den traditionellen programmatischen sola-Formeln bis in die Gegenwart wieder.
In der deutschen ökumenischen Übersetzung des NT, die auch von den evangelischen Kirchen des ganzen deutschen Sprachgebiets rezipiert worden ist, heißt es jetzt in Röm. 3, 28: „Denn wir sind der Überzeugung [logizometha], daß der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes”. In Vers 21 und 22 sind die Zusätze „die vor Gott gilt” bzw. „vor Gott” getilgt.
Die dem dogmatischen Auslegungsinteresse entspringenden Interpretamente, die deutlich das Vorverständnis zeigen, erweisen sich als unhaltbar.
Aber mit diesen auslegenden Stichworten „die vor Gott gilt” und „allein” hat Luther Geschichte gemacht. Denn das eine ruft das Heilsverlangen auf „wie bekomme ich einen gnädigen Gott”, und das „allein” wird zum formbestimmenden, die Konfessionssoziologie bestimmenden Leitwort, zum a priori, das sich in den sola-Formeln dogmatisch ausprägt und verfestigt. Die Proklamierung des Schriftprinzips hat also die Ausschaltung des eigenen Vorverständnisses in keiner Weise gewährleistet.
Luther selbst bekennt sich, wie Herbert Glotzen es ausführt, unbefangen und entschieden zu der Unterwerfung des Textes unter ein Vorverständnis:
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„,Beim Dolmetschen der heiligen Schrift folge ich zwei Regeln. Zum ersten, so ein Ort [= Stelle] dunkel ist, bedenk ik, ob er von der Gnaden handele oder vom Gesetz, vom Zorn oder von der Vergebung der Sünden … Damit habe ich oft die dunkelsten Örter verstanden, daß es das Gesetz oder das Evangelium uns in die Händ getrieben hat, denn Gott hat seine Lehre unterscheiden in Gesetz und Evangelium … Die Juden irren darum so in der Schrift, daß sie keine argumenta [= Gesamtverständnis, theologische Grundkonzeption] der Bücher haben. Hat man aber das argumentum, so muß man wählen die Meinung, die am nähesten ist’. Von dieser Erfahrung der Mitte des Evangeliums her bestimmt sich ihm die Bindung an die Freiheit gegenüber den Worten des Urtextes. So verteidigt er bewußt seine Verdeutschung von Röm. 3, 28, bei der er die Aussage des Textes durch die Zufügung des Wortes ,allein’ hervorgehoben hat: ,So halten wir es nu, daß der Mensch gerecht werde, ohn des Gesetzes Werk(e), alleine durch den Glauben’, Im ‘Sendbrief vom Dolmetschen…’ (Nürnberg 1530) weist er seine papistischen Kritiker zurück: ,Obs gleich die lateinische oder griechische Sprache nicht tut’ (!), so ist doch dieser Zusatz nötig, ,daß es eine völlige Deutsche klare Rede wird’. In diesem Zusammenhang fällt sein berühmtes Wort: ,Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern: man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und den selbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen, so verstehen sie es denn, und merken, daß man Deutsch mit ihnen redet.’ Es geht hier also nicht um eine Stilfrage, um das ,schichtenspezifische’ Niveau der Sprache (Markt, Gasse, Haus, Jugend), sondern darum, daß die Zusage des Evangeliums so unüberhörbar wie möglich zu Wort kommt.” 6
Tatsächlich erhält der Hörer und Leser bereits ein folgenreiches Interpretament, zu dem sich Luther selbst optima fide ausdrücklich bekennt.
Die Rechtfertigungslehre ist in der lateinischen Theologie von Thomas bis zur Reformation mit der Sorgfalt bearbeitet worden, welche das früher zitierte Urteil von Dantine7 bestätigt. Sie ist theologisch und philosophisch, exegetisch, systematisch, psychologisch und ethisch durchdacht worden.
Während des Gangs der Dogmengeschichte jedoch tickte die Uhr der Zeit. Die rechtsgeschichtlich bedingten Gegebenheiten, in denen die Autoren von Thomas bis Luther standen, wandelten sich mit den bedeutendsten Wirkungen für das Selbstverständnis der christlichen Völker und die historisch-soziale Situation, auf welche diese Lehre traf.
Im Mittelalter erklärt sich die relative Verträglichkeit des Lehnsystems mit dem christlichen Glauben und der Existenz der Kirche trotz der bekannten
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Konflikte daraus, daß dieses System auf der Verbindung von freien Vergabungen mit wechselseitigen Verpflichtungen aufgebaut war. Der Lehnsmann brauchte nicht zu fragen, ob er einen gnädigen Herrn habe —; denn er lebte auf der Grundlage des ihm anvertrauten Amtes oder Gutes, welches ihm jener verliehen hatte. Er schwor diesem Herrn oder der Herrin einen körperlichen Eid, der den trinitarischen Glauben der Christenheit widerspiegelt. Er gelobte Treue im Blick auf die Treue Gottes, die alle Welt erhält. Diese Pflicht aber sollte er nicht nur nach ihrem bloßen positiven Umfange, sondern mit innerer Neigung und Identifikation erfüllen, indem er ihm hold war — im Blick auf die Gnade Christi, in dem die Liebe Gottes manifest war. Und er sollte auch nicht nur überschaubare, definierte Verpflichtungen gutwillig erfüllen, sondern dem Lehnsherrn auch in den Verwicklungen „gewärtig” sein, die etwa auf ihn zukamen — dies im Horizont der Gebrechlichkeit aller Dinge und der letzten Dinge überhaupt. Dieser große Nexus besaß eine geistliche und geschichtliche Dignität unbeschadet der eigenen Rechte der Kirche. Daneben erst standen unabhängige Allodialrechte und zugleich die große Fülle der sozialen Verbände, Bürgerschaften, Zünfte, Markgenossenschaften. Im Lehnsverband jedenfalls gab es kein Privatrecht. Der Gegensatz zwischen öffentlichem und Privatrecht existierte nicht. Es gab auch keine unbeschränkte Freiheit; denn beide Seiten waren gebunden, und es gab kein Sachenrecht, welches als sogenanntes „absolutes” Recht verstanden werden konnte. Selbst der Begriff des einzelnen bildete sich erst allmählich heraus. Alle Rechte waren „relational”, ein Begriff und eine Struktur, um den sich erst in neuerer Zeit die Theologie gelegentlich gekümmert hat. Aber eben dieser großartige Kosmos des Mittelalters löste sich in ein Chaos auf. Schon die Kirche selbst löste durch eine immer weitergehende Zentralisierung des Kirchenregiments und die Exemtionsbefugnis der päpstlichen Universalgewalt ihre eigene Ordnung zur beliebigen Verfügbarkeit auf. Im weltlichen Bereich aber entwickelte sich ein Subjektverständnis, welches außerhalb aller jener Relationen mit steigender Folgerichtigkeit auch die Inhalte und Gegenstände des Besitzes zur unbeschränkten Disposition stellte. Das fortschreitend isolierte Subjekt erzeugte ebenso isolierte Objekte. Schon die franziskanische Armutsbewegung entstammte dem Schrecken über die darin enthaltenen Möglichkeiten und Folgerungen. Während die Benediktiner noch unbefangen mit den Gegenständen der Abriet und dem Besitz umgingen, wurde die gegenständliche, geschaffene Welt jetzt selbst zum Problem und der Denunziation ausgesetzt. Im kirchlichen Bereich wurden geistliche Güter, Gnaden, Privilegien, Indulte, Ablässe zu Gegenständen der diskretionären und immer mehr von ihren geistlichen Voraussetzungen abgelösten Verfügung. Der Gläubige wurde zwar auf die umfassende Legitimationsbefugnis des Papstes und den ebenso umfassenden impliziten Charakter des Glaubens an die geistliche Realität und Legitimität der Kirche verwiesen. Aber je mehr die Bindung betont wurde, desto mehr verfiel die Glaubwürdigkeit zugunsten eines Heilsegoismus, in dem der einzelne sich dieser erreichbaren, erwerbbaren geistlichen Güter zu versichern suchte. Die universale
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Kirche depotenzierte sich selbst durch den schrankenlose Gebrauch und Mißbrauch der beanspruchten Kompetenzen. Eben dies lähmte auch ihre Fähigkeit zur Selbstreformation, wie es sich am Beispiel Adrians VI. deutlich gezeigt hat, der schon am Pfründenwesen der Kurie scheiterte. Auch das Lehnsrecht korrumpierte sich selbst. Gewohnheit und Rechtsanschauung, Leistungen nur in der Korrelation zu Gaben zu erbringen, machte es unmöglich, die finanziellen Bedürfnisse einer zentralen Kirchenleitung auf Grund des vorhandenen Steuerkatasters der regionalen Verbände zu decken, so daß diese wieder auf das Sportelwesen und alle seine Mißbräuche angewiesen blieben.
Das Gesamtergebnis war in einem langen und für die Zeitgenossen selbst weder einsichtigen noch abwendbaren Prozeß die Privatisierung und Objektivierung, „Verdinglichung” des Glaubens. Auch der in sich nicht einfach sinnlose Versuch, die Sakramentenlehre durch Objektivierung vor falscher Subjektivierung und Mißbrauch zu schützen, beförderte jene Entwicklung und hob sich damit selbst auf.
Zu den größten Seltsamkeiten der Kirchen- und Weltgeschichte gehört es, daß eine mit einem heftigen antijuristischen Affekt verbundene Bewegung wie die lutherische Reformation einen juristischen Begriff zum Leitbegriff genommen und ihn zugleich in einer Weise überhöht hat, welche keine der vergleichbaren Theologien und Konfessionen zu übernehmen bereit gewesen ist. Dieser juristisch formulierte Überdruck eines rechtsfremden Denkens, der die Schwäche seines Verständnisses nachhaltig vererbt hat, der Ausfall einer Farbe im Spektrum des Geistes, kann nicht allein aus persönlichen Eigenschaften und Erfahrungen zulänglich erklärt werden. Es beruht vielmehr auf einer unverstandenen und wohl auch objektiv uneinsichtigen Umbruchsituation.8 Das ältere realistische Rechtsdenken, in welchem die Relation zwischen Mensch und Welt, Umwelt, Dingwelt, mit seinen religionsgeschichtlichen Hintergründen und tiefen Brechungen noch zum Ausdruck kam und lebendig war, zersetzte sich zusehends im Herbst des Mittelalters und machte einer äußeren Verdinglichung Platz, welche im geistlichen Bereich zu skandalösen und sinnlosen Mißbräuchen führte und hielt historisch bedingte Begriffe, wie etwa den der promissio, für theologisch neutral, ja angemessen. So war die lutherische Reformation in dieser Bewegung zugleich Trägerin und Getragene, Subjekt und Objekt. Die Ablösung von einer theologischen Theorie seinemäßiger Vorgegebenheiten durch einen Freiheitsbegriff verband die christliche Freiheit mit einem bürgerlichen Existenzverständnis. Verbürgerlichung und Akademisierung waren die Folge. Das stärkste bürgerliche Moment ist das Hervortreten eines substratlosen Wortbegriffs, durch welchen das Subjekt die Objekte bestimmt.
Im Umbruch der Rechts- und Selbstverständnisses entsteht im Gegensatz zum alten Realrecht die Vorstellung, daß eine rein verbale Zusage ohne konkretes Substrat volle Gültigkeit besitze, eine bis dahin fremde Vorstellung. Der Übergang von der einen zur anderen Anschauung zeigt sich deutlich im Kontraktrecht. Die Hingabe eines Gegenstandes ist ursprünglich kein Zeichen
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oder Symbol, sondern im Gegenteil der erste Anfang der vereinbarten Leistung, so daß diese Gabe später als Teilleistung und wirkliches Angeld angerechnet wird. Diese Anschauung spiritualisiert sich rechtsgeschichtlich dahin, daß die begrenzte Sachleistung als Zeichen oder Beweismittel zur Verdeutlichung und Manifestation des verbalen Vertrags angesehen wird; die nunmehr noëtische Bedeutung ist deutlich. Das Kontraktsrecht ohne reales Substrat bedeutet eine außerordentliche Ausdehnung der Wirksamkeit von Rechtsbeziehungen, zugleich aber auch deren Verunsicherung, weil sie Zweideutigkeit oder Verleugnung nicht ausschloß. Zugleich bedeutetet diese Veränderung des Rechtsdenkens eine außerordentliche Erhöhung des Selbstbewusstseins des säkularen Menschen, der vermochte, mit dem bloßen Wort die Welt zu verändern. Damit zugleich vollzieht sich eine Veränderung des Weltverhältnisses des Menschen, die Ablösung des Willens und der Vorstellung von der Konkretion der geschöpflichen Welt.
Der negative Grund für die Ausdehnung eines reinen Wortglaubens aber lag darin, daß nunmehr kein Sachgrund und kein Verständnis für eine Mehraktigkeit verbindenden Geschehens mehr vorhanden war, vor allem nicht mehr notwendig erschien. In einer Zeit der Ausbildung bürgerlichen Selbstverständnisses wurden dem Trieb zur religiösen Selbstverwirklichung durch die Praxis der katholischen Kirche Mittel und Ziele an die Hand gegeben. Nachdem man dieses Gefälle in die radikale Bereitschaft des Empfangens und Hörens umgekehrt hatte, gab man ihm mit dem kontraktsähnlichen Begriff der „promissio futurarum rerum” — deren wesentliches Merkmal die Substratlosigkeit und reine Verbalität ist — eine wiederum bürgerliche Perspektive mit, die der sakramentalen communio entgegengesetzt ist. Das Eindringen und die unbewußte Rezeption bürgerlicher Rechtsdenkens in die Theologie, hier speziell der Reformation, ist von der modernen Theologie niemals in Betracht gezogen worden. Die Dogmengeschichte vermittelt keinen verständlichen Einblick in diesen geschichtlichen Wandel. Beide Bewegungen überkreuzen sich, allenfalls mit Übernahme einzelner Begriffe außerhalb des Sinnzusammenhangs. Die vorausgesetzt Autarkie der theologischen Bewegung steht dem Verständnis der rechtlich-soziale Einflüsse und deren Logik entgegen.
Eine erstaunliche Bestätigung der hier vorgetragenen These findet sich bei Fagerberg:
„… 2.3 Der Glaube kommt durch das Evangelium als Verheißung
zustande. … Der Glaube ist von der Verheißung abhängig (Quare
inter se correlative comparat et connectit promissionem et fidem,
Apol. 4, 50).
Die Gleichstellung von Evangelium und Verheißung ist ein
Kennzeichen der reformatorischen Theologie, wofür es kaum eine
Entsprechung in der älteren theologischen Literatur gibt. Das
unmittelbare Vorbild dürfte hier Augustin sein, der in „De
spiritu et litera” zwischen Buchstabe und Geist unterscheidet und
Gesetz und Barmherzigkeit einander gegenüberstellt (De sp. et
litt. 9, 15), allerdings mit dem deutlichen Vorbehalt, daß er nie
direkt vom Evangelium als Verheißung spricht.
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Im eigentlichen Sinne (proprie) ist das Evangelium nach der Apol. dasselbe wie die Verheißung der Sündenvergebung, also ein anderer Ausdruck für den gnädigen Willen Gottes.” 9
F. schildert dann die dogmatische Fortentwicklung:
”… (a) Rechtfertigung kann sowohl bedeuten, gerecht gemacht oder
wieder geboren werden als auch für gerecht erklärt werden.
(b) Die doppelte Bedeutung der Rechtfertigung ist schon in der
Hl. Schrift belegt. … Es ist geradezu gesagt worden, daß die
Apol. hier eine neue Entwicklung einleitet, die die für das
spätere Luthertum charakteristische forensische
Rechtfertigungslehre vorbereitet. Damit wäre der Weg beschritten,
das Verständnis von Rechtfertigung im Sinne der Wiedergeburt
aufzugeben. Diese Entwicklung ist Tatsache in der
Konkordienformel (siehe Solida Declaratio 3, 17). In der Apol.
ist der Gedankengang jedoch ein anderer … (337 f).
Iustificare wird, wie Melanchthon darlegt, an dieser Stelle
forensisch im Sinne eines Freispruches von der Schuld
verwandt.
,Rechtfertigen bedeutet an dieser Stelle (Röm. 5, 1) nach
forensischer Gewohnheit, den Angeklagten freizusprechen und ihn
für gerecht (!? Verf.) erklären, aber um der Gerechtigkeit eines
anderen, nämlich Christi willen, die uns durch den Glauben zuteil
wird. Da somit an dieser Stelle unsere Gerechtigkeit die
Imputation der Gerechtigkeit eines anderen ist, muß man hier von
Gerechtigkeit auf andere (! Verf.) Weise sprechen als da, wo wir
in der Philosophie oder vor Gericht Gerechtigkeit bei den eigenen
Werken suchen.’ … (339) Bultmann betrachtet die δικαιοσύνη als
einen forensisch-eschatologischen Begriff, der mit einem
Freispruch vor Gericht zu tun hat, nicht aber weil man unschuldig
ist, sondern weil man als unschuldig anerkannt wird. … Bultmann
versteht also Paulus rein forensisch.” (343).
Zunächst: Kein Richter auf der Welt erklärt einen Angeklagten für gerecht. Zur Sache im Klartext: Die Interpretation der Rechtfertigungslehre ist eine Neubildung in der Verbindung von Glaube und Verheißung, die selbst durch den Hinweis bei Augustin nicht gestützt wird. Dies erlaubt das Urteil, daß sie unter den Voraussetzungen des Zeitalters, d.h. in der veränderten Bewertung verbaler Aussagen, zu verstehen ist.
Da diese Verbindung selbst keinen Aufschluß und keinen Anhalt über ihren Inhalt gibt, sondern eine doppelte Deutung ermöglicht, spaltet sich die Auslegung. Melanchthon hält — theoretisch verbal — an der effektiven Rechtfertigung fest. Er vermag sie aber nicht mehr mit dem Rechtsgedanken von Rechtfertigung und Gerechtigkeit zu verbinden, weil ihm dafür bereits die rechtshistorischen Belege einer Zurechnung durch Identifikation fehlen. Die effektive Rechtfertigung transzendiert hier den folgerichtigen Rechtsgedanken in eine unbestimmte Spiritualisierung. Andererseits ergibt sich das von Fagerberg bezeugte Gefälle bereits in der Solida Declaratio, also noch innerhalb des Reformationsjahrhunderts. In der Moderne kann der Gedanke, wie Bultmann zeigt,
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nur noch als rechtlicher Selbstwiderspruch, also rechtlich überhaupt nicht mehr, verstanden werden.
Die offene Alternative zwischen effektiver und formaler Rechtfertigung führt also entweder zur transjuristischen Spiritualisierung oder zur Preisgabe des Rechtsgedankens der dikaiosyne theou. Die Ermöglichung wie die Motivation liegt also darin, daß die bloße Verbindung von Glaube und Verheißung die hier entstehende Frage weder erkennen läßt noch löst. Damit ist aber die Konkretion dieses biblisch entscheidenden Gedankens bereits aufgelöst. Melanchthons „andere” Interpretation ist nicht mehr ausdrückbar. Forensisch heißt seitdem Rechtfertigung: für gerecht erklären. Mit dem kommunikativen Element ist auch die Gerechtigkeit selbst in Frage gestellt.
Mit der ekklesiologischen und sozialethischen Kritik Barths ist die sachliche Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Recht, oder anders gesagt, nach dem Rechtsgehalt der Rechtfertigungslehre selbst nicht gestellt. Barth hat dieses Problem weder formuliert noch in Angriff genommen.
Man sollte nun meinen, daß ein so eindrücklich sich mit rechtlichem Gehalt darstellender Begriff schon seit langem Gegenstand entsprechender Untersuchungen gewesen sei.
Tatsächlich sind aber keine rechtswissenschaftlich kompetenten Versuche unternommen worden, den Rechtsgehalt der Rechtfertigungslehre zu erschließen. Begriffsdeutungen aus der Umgangssprache oder mit lexikographischen Hilfsmitteln sind nicht einmal als dilettantisch zu bezeichnen. Jenen Untersuchungen fehlt die Liebe zum Gegenstand, d.h. hier zur Rechtsdimension, als Antrieb, welcher neben falschen Erwartungen schon oft zu genialen Einsichten geführt hat.
Es bedarf hier vielmehr des wissenschaftlichen Rechtsdenken und darin der Aufdeckung der historischen und systematischen Zusammenhänge. Der Theologe muß sich soweit in den Zusammenhang der Rechtslehre hineinstellen, wie er umgekehrt von einem Juristen erwarten muß, daß er sich den entsprechenden systematisch-theologischen Problemgehalt aneignet und auswertet.
Eben dies ist aber bisher nicht geschehen. Es hat sich im Gegenteil der paradoxe Tatbestand ergebend, daß die Rechtfertigungslehre in Verbindung mit der Lehre von Gesetz und Evangelium zu einer abwehrenden Haltung gegenüber einer rechtlichen Interpretation geführt hat, ohne daß die Gründe für diese psychologisch äußerst wirksame Sperre gefunden sind.
Diese Theologie hat durch eine konstitutive Verbindung mit der Philologie, — welche der primären und langfristigen Verbindung des Katholizismus mit der Philosophie vergleichbar ist —, eine Option mit weitreichenden psychologischen und soziologischen Wirkungen übernommen. Wenn die Theologie einen Kampf um ihre Freiheit von der Philosophie geführt hat, so hat sie damit
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gewiß die Bedeutung der Philosophie für sie selbst nicht haben bestreiten wollen und können. Aber sie wird — mit dem selben sachlichen Vorbehalt — einen kaum geringeren, vielleicht wesentlich schwierigeren Kampf um die Freiheit von der Philologie führen und unter Beweis stellen müssen, wenn sie in ihrem eigenen Sinne von Freiheit reden will.
Die Philologie aber führt mit steigender Intensität vermöge der inhärenten Subjektivität ihrer Gegenstände und Methoden zum Verlust der Verständnisses für soziale Bildungen.
Die Theologie bezahlt so ihre Erkenntnisse mit entsprechenden Verlusten, die Öffnung mit der Verschleimung. Die philologische und die rechtlich-soziale Betrachtung und Auslegung unterscheiden sich wie zwei Hochsprachen. Zugleich bildet sich durch die Philologie das Verständnis, eine Art „Formgefühl”, für soziale Tatbestände zurück — vielleicht auch vice versa. Die Philologie reagiert nicht auf die spezifisch rechtlich-sozialen Termini und Leitbegriffe, in denen sich Strukturen und Zusammenhänge anmelden und ausdrücken.
Infolgedessen kann man bisher nur fehlgegangene Versuche einer rechtlichen Interpretation der Rechtfertigungslehre konstatieren.
Die umfangreiche Arbeit von Albrecht Ritschl über die Rechtfertigung stellt sich nicht ihrem Problemgehalt als eines Rechtsaktes, sondern schließt gerade das Problem zugunsten des idealistischen Sittlichkeitsbegriffs aus der Betrachtung aus. Der Versuch, das Rechtselement durch die Antithese von Vater und Richter zu klären, zeigt das Mißverhältnis dieser Philosophie zu ihrem Gegenstande. Man kann einen Rechtsbegriff nicht dadurch deuten, daß man seinen Rechtscharakter leugnet. Das Rechtsproblem muß als solches bejaht werden und zu seiner Wirkung gebracht werden.
Der bei Ritschl vorhandene Gemeinde- und Erwählungsgedanke kann vermöge seiner idealistischen Voraussetzungen den Zugang zum Rechtsgehalt der Rechtfertigungslehre nicht erschließen. Das Mißverständnis ist deutlich: Recht ist hier einseitig kritisch, nicht aber auch kommunikativ und integrativ verstanden.
Einen vielbeachteten Versuch der Verbindung von Rechtfertigung und Recht hat Werner Elert mit der romantischen These gemacht, daß der Begriff der Rechtfertigung eine spezifische Affinität zum deutschen Rechtsdenken besitze, wie sich insbesondere aus einer parallelen Terminologie im Spätmittelalter ergebe. Er war nicht schwer, dies durch eine Anlyse der Rechtssprache der fraglichen Zeit als Wunschexegese zu erweisen. Es hat sich vor allem ergeben, daß der spätmittelalterliche Begriff der iustificatio (oder Rechtfertigung) kein materialer, sondern ein allgemein-prozessualer und formaler Begriff war, der in vielfachen Bedeutungen prozeßrechtliches Handeln als solches — im Zivil- und Strafprozess — bezeichnetet. Welche Bedeutung nun gerade ein prozessualer Begriff für die theologische Sachfrage besitzen könnte, liegt vollends außerhalb der theologischen Gesichtspunkte, weil nur immer die Frage nach materialen Normen und Entscheidungen gestellt zu werden pflegt. Wenn einer dieser prozessualen Begriffe (worauf Peters hinweist) die peinliche Befragung, also
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ein hartes Bedrängen eines Beschuldigten bedeutete, so doch gerade nirgend das Urteil als solches. Aber das Urteil ist allein die Art der Erkenntnis — es wird ja selbst „Erkenntnis” genannt, weil es das enthält, was das Gericht für Recht „erkannt” hat. Erkenntnis und Vollstreckung des erkannten Rechts, d.h. die Einsetzung des obsiegenden Teils in das ihm zukommende und zugesprochene Recht, sind zweierlei. Als Einzelbegriff kann Rechtfertigung auch die formale Vollstreckbarkeitserklärung eines in Rechtskraft erwachsenen Gerichtsurteils bedeuten. Iustificatio liegt vor oder nach dem Urteil.
An einer rechtlichen Interpretation des Gnadenbegriffs ist die Theologie nicht interessiert gewesen. Sie hat gemeint, für ihren Bereich den Begriff allein aufschließen, ja im Gegenteil (ähnlich dem Liberalismus) die rechtliche Dimension des Phänomens ausschließen zu müssen und zu können. Trotz einer theologischen Tradition bis zu Harnack d.Ä. und Barth ist eine dogmatische Erörterung der allein von Grewe und mir vorgelegten Ergebnisse ausgeblieben.10
An einer zusammenfassenden Stelle sagt Pesch in seinem Werk über Rechtfertigung bei Luther und Thomas:
„Nicht nur gegen die Formel vom ,analytischen’ oder
,synthetischen’ Urteil bestehen Bedenken, die ganze Alternative
zwischen ,forensischer’ und ,effektiver’ Rechtfertigung muß heute
als unglücklich bezeichnet werden. Dies einmal deswegen, weil
ihre Lösungsversuche sich oft zu einer ,Geheimwissenschaft’
auswuchsen und zum kaum noch verständlichen ,Theologengezänk’
ausarteten. Aber, zweitens, vor allem auch sachlich, weil hier in
eine Alternative hineingezwungen wird, was Luther in
ursprünglich-unlösbarer Zusammengehörigkeit, in einer
wechselseitigen Inklusive dachte, ohne dabei freilich die Frage
nach Begründendem und Begründeten zu vergleichgültigen. Die
Lutherforscher sind sich aber heute einig, daß, wenn man sich
schon einmal auf die gestellte Alternative einlassen muß, die
Entscheidung für das forensische Verständnis der Rechtfertigung
ausfallen muß.
Nun wird man freilich bei Luther vergeblich den Ausdruck
,forensisch’ suchen. Melanchthon gebraucht in der Apologie zur
Augsburger Konfession zum erstmal den Ausdruck ,Usus forensis’.
Dennoch kann sich das forensische Verständnis der Rechtfertigung
auch terminologisch auf Luther stützen. Schon ganz allgemein
formuliert sich seine Rechtfertigungslehre — wie ja überhaupt die
der ganzen abendländischen Theologie — in juridischer
Begrifflichkeit: Gesetz, Gesetzeserfüllung, Strafe,
Schuldnachlaß, Genugtuung, Knechtschaft, Verurteilung — all das
sind Begriffe aus der Rechtssphäre. Das Bild eines Gerichtsaktes,
wie es dem forensischen Verständnis zugrundeliegt, fügt sich
bruchlos ein. Ferner spricht Luther vom ,Gerichtshof’ Gottes und
gebraucht für die Rechtfertigung gelegentlich auch den Ausdruck
‘Freispruch’.” 11
Auch hier ist der methodische Gedanke niemals aufgetreten, den Inhalt der zitierten Rechtsbegriffe als solchen, im einzelnen wie in der immanenten Logik ihrer Zusammenhänge zu untersuchen. Ich bin genötigt gewesen immer wieder
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zu betonen, daß dies unter dem Vorbehalt voller Freiheit für die Theologie geschehen kann und muß, die Ergebnisse in den Horizont der Theologie einzubringen und auf diese Aufgabe hin zu begrenzen. Diese Anregung erfordert eine systematische Betrachtung denkbarer Prozeßabläufe und eine historische Untersuchung der Bedeutung und des Stellenwerts der auftretenden Begriffe. Weder Thomas noch Luther konnten wissen, in welchem Maße die von ihnen verwendeten sog. forensischen, d.h. hier juristischen Begriffe historisch bedingt waren. Wir können es aber mindestens im weitesten Umfange wissen — und wenn wir es wissen können, so müssen wir es auch erforschen und einbringen.
Schon der Begriff „forensisch” ist als Sammelbegriff mehrdeutig. Er kann vielleicht nur deswegen verwendet worden sein, weil mit Recht hier an einen Prozeß gedacht wurde. Der Begriff „forensisch” kann sich aber irrigerweise auf juristische Begriffe und Vorgänge überhaupt und als solche begrenzen, bei unterschiedlicher Möglichkeit der Auslegung, etwa als „deklarativ” oder „konstitutiv”.
Es könnte sich bei diesem Versuch aber herausstellen, daß gerade die forensische Interpretation den Wahrheitsgehalt zutage brächte, den die ontologische oder effektive Interpretation in problematischen Kategorien auszudrücken versucht. Es könnte ebenso sein, daß gerade die juristische Interpretation zwingend das ausschließt, was die vulgär-juristische Auslegung der Theologen im engeren Sinne als forensisch versteht. Es könnte sich Abe schließlich der ganze von Pesch in der Nachfolge vieler bedeutender Bemühungen beschriebene Streit als durch die rechtsgeschichtliche Situation der Beteiligten und den Fortgang der rechtsgeschichtlichen Entwicklung bedingt erweisen. Er stände dann auf der hohen Ebene einer Kontroverse, die durch die Uneinsichtigkeit der objektiven Situation selbst bedingt wäre — kein Versagen des Denkens, kein banales oder vermeidbares Mißverständnis, sondern ein erst durch die Geschichte auflösbarer Widerstreit.
Was hier zur Erklärung drängt, ist der Schwund der Rechtsformen personaler Identifikation und das Entstehen eines entsprechenden Selbstverständnisses des Menschen als autarke Größe. Daher würde sich die Personalisierung des Wortes ebenso erklären wie die Habitualisierung des Gerechtigkeitsbegriffs, verzweifelte Versuche, ein nicht mehr verständliches interpersonales Geschehen der Christologie und Pneumatologie in den veränderten Personbegriff einzubringen.
In jenem Bemühen ist auch die Tatsache unbeachtet geblieben, daß der biblische Gedanke einer personalen Gerechtigkeit „iustitia coram deo” wesentlich dem Judentum eigentümlich ist, — auch dort nur als Teilhaber an berith und kahl! Es mag dahinstehen, ob ähnliche Anschauungen auch im orientalischen
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Umkreis des Judentums nachzuweisen sind. Sicher ist jedoch die Vorstellung einer personalen Gerechtigkeit den indogermanischen Völkern vollständig fremd und unverständlich. Sie kennen den Begriff der Gerechtigkeit durchgängig nur als einen sachlichen, der ausschließlich vom Inhalt der Entscheidung her zu verstehen ist. Spricht man davon, daß ein Richter gerecht sei, so meint man nicht seine Person, sondern die inhaltliche Bewährung seines Gerechtigkeitssinnes. Aus der Verkennung dieser Haltung entsteht die geradezu pharisäisch wirkende Vorstellung, daß der weltliche Richter im Strafprozess sich im Gegensatz zum Angeklagten als der „Gerechte” verstehe. Wie weit muß sich die Theologie vom Rechtsbewußtsein ihrer eigenen Völker, ihrer eigenen Zeit- und Rechtsgenossen entfernen, wenn sie in einem solipsistischen Begriffsrealismus Vorstellungen unterstellt, die sie bei niemandem vorfindet? Die Verkennung dieser Tatsache hat um so mehr zu Mißverständnissens und Fehlschlüssen geführt, als die reformatorische Theologie dieses Gedanken als einen ohne weiteres allgemeingültigen und deshalb auch verständlichen betrachtet hat.
Bei jener europäischen Auslegung des Gerechtigkeitsbegriffs handelt es sich keineswegs um ein vulgäres Gemeinverständnis, welches einer religiösen Vertiefung bedürfte, sondern um die Quintessenz der großen historischen Rechtskulturen dieser Völker, die aus dem Leben des Rechts selbst erwachsen und weder von Gesetzgebern noch Philosophen, noch Professoren geschaffen sind. Trifft also eine Lehre, welche eine „personale Gerechtigkeit” in den Blick nimmt, auf diese Tradition, so bedarf sie, um wirksam und nicht mißverstanden zu werden, einer Übersetzung. Verhängnisvoll wäre vollends für die Rechtfertigungslehre die Meinung, es gehöre zur Grundbefindlichkeit des Menschen, daß er sich — womöglich unter der Voraussetzung eines besonderen gewissenhaften Eifers — als ein habituell oder ontologisch erkennbarer „Gerechter” verstehe. Wenn sich erweisen ließe — wofür ich keinen Anhalt finde —, daß philosophisch denkende Theologen oder Juristen der Reformationszeit einen solchen Gedanken vertreten hätten, so wäre dies belanglos. Denn dieser philosophische Gedanke besagt weder für das Recht noch für das Rechtsbewusstsein etwas, und keine Jurisprudenz hat eine Veranlassung, einen solchen Gedanken auch nur zu erwägen. Würde also die Rechtfertigungslehre der Theologen das Vorhandensein eines solchen Selbstverständnisses als die negative Bedingung ihrer eigenen These verstehen, so würde sie sich damit in die verhängnisvolle Abhängigkeit eines wahnhaften Irrtums begeben.12
Es ist ein wesentliches Thema der Missions- und Theologiegeschichte, wie sich die Fortpflanzung des Rechtfertigungsglaubens in eine Traditionswelt vollzogen hat, deren Selbstverständnis und Begrifflichkeit diesem Gedanken von Grund auf entgegenstand und noch weiter entgegensteht.
Dies führt auch au einer Frage an den Römer-Brief als das stärkste Zeugnis jener Theologie. An wen richtet er sich eigentlich? Paulus hat durch seine Rede auf dem Areopag die große Tradition des griechischen Denkens herausgefordert. Eine gleiche Konfrontation mit der römischen Welt hat er jedoch nicht
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unternommen, obwohl er als römischer Bürger sich der Bedeutung und Tragweite des römischen Imperium und seiner Rechtsordnung gewiß bewußt gewesen ist.
An wen also war der Römer-Brief gerichtet? Waren dies in Rom ansässige Juden, die sich zum Christentum bekehrt taten, so wäre die Streitlage zwischen Christentum und Judentum in Rom kaum eine andere gewesen als in Jerusalem. Aber wir müssen mit der Möglichkeit, vielleicht Wahrscheinlichkeit, rechnen, daß über einen jüdischen Anteil hinaus der römischen Gemeinde auch Nicht-Juden angehörten. Dies konnten Proselyten sein, welche, freigesetzt durch den Verfall des Polytheismus, zum Judentum übergetreten waren, sich die Vorstellungen der jüdischen Gesetzeslehre angeeignet hatten und dann mit ihren jüdischen Gemeindegenossen dem Christentum zuwandten. So konnten hier Römer, Griechen und andere Nichtorientalen stehen, die von anderen Voraussetzungen herkamen. Die Aussagen des Apostels könnten nun gerade neben den ursprünglichen Juden speziell auf die Situation der Proselyten zutreffen und zielen. Sie könnten im Klartext etwa so lauten.
Ich, Paulus, als geborener und glaubenstreuer Jude bin zum Christen geworden, indem ich im entscheidenden Punkte vom Gesetze frei geworden bin. Ihr wart Nichtjuden und seid Juden geworden. Jetzt sage ich Euch, daß dies ein Umweg war, — daß Ihr an den Gesetzesglauben des Judentums nicht gebunden seid.
Dies wäre eine Auslegung für diese besondere, aber in sich plausibele Lage, die möglicherweise bei der großen Ausdehnung des Proselytentums auch anderwärts im römischen Reich vorkam. Es würde sich also um eine durch die Situation bedingte, sinnvolle, besondere Anrede handeln.
Schwerlich können freilich dieser Gemeinde in nennenswerter Zahl gebildete Römer angehört haben, d.h. solche, denen die große römische Rechtstradition bewußt war. Denn dann hätte sich die Differenz der Gerechtigkeitsbegriffe thematisch gestellt. Also: ein Römer-Brief ohne Römer?
Tatsächlich hat sich nun auch in der Alten Kirche die notwendige Übersetzung des Rechtfertigungsgedankens in das Verständnis der nichtjüdischen Völker vollzogen. Der Begriff der Gnade bot einen sinngemäßen und zulänglichen Ersatzbegriff für das gemeinte Geschehen dar. Auf unzähligen mittelalterlichen Grabdenkmälern und wo immer eines verstorbenen Christen gedacht wird, finden wir den Beisatz „dem Gott genade”. Es ist der allgemeine und selbstverständliche Ausdruck des Glaubens und der eschatologischen Hoffnung. Luther selbst ist des Zeuge. Denn er hat sein zentrales Anliegen am verständlichsten durch die Frage ausgedrückt: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?” Er bewies damit selbst, daß die biblisch legitimen Begriffe „gerecht” und „Rechtfertigung” nicht in gleichem Maße gemeinverständlich waren, dem Denken der Theologen in der Schriftauslegung zugehörten. Der biblische Fromme, der die Frage nach der Rechtfertigung stellt, kommt vom Gottesbund seines Volkes her, er will in ihm bleiben, ihn halten und deshalb als Gerechter anerkannt werden — Pharisäer oder nicht. Diese selbstverständliche
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Voraussetzung als Privileg, Anspruch und Anmaßung des Gottesbundes hat der Heidenchrist im Blick auf seine traditionelle Herkunft nicht. Wenn dieser Gnadenbegriff in mannigfacher Weise entartete und verdinglicht wurde, so hob dies die Notwendigkeit der Übersetzung als solcher nicht auf.
Eine Erschwerung der rechtlichen Klärung beruhte darauf, daß als Kontraposition zum Gedanken der Rechtfertigung der dogmatisch weit ausgeführte, zugleich aber vulgär wirksame Verdienstgedanke als ein zentrales Motiv zum Anlaß für den reformatorischen Protest wurde. Dabei ist nicht beachtet worden, daß der Verdienstgedanke, die Vorstellung eines irgendwie gearteten Anspruch des Menschen gegen Gott, keine denkerische Möglichkeit, sondern vor aller theologischen Erwägung schon ein juristischer Unsinn war und ist. Er war gewiß ein psychologisch sehr wirksames religiöses Motiv. De iure gibt es jedoch den Begriff des meritum als Grundlage eines Anspruchs gegen wen immer überhaupt nicht. Seine Entstehung ist aus einer bestimmten sozialgeschichtliche Situation zu erklären. Er ergab sich aus einem unbegriffenen Widerspruch zwischen der neu entdeckten Rechtssubjektivität des Bürgers und den traditionellen Rechtsformen personaler Bindung, der damals nicht gelöst werden konnte. Die subtilen Differenzierungen der Verdienstlehre waren wesentlich vorsichtiger als das vulgäre Verständnis der religiösen Praxis, welche sie ermöglichten und nach sich zogen. Aber sie hatten die verhängnisvolle Folge, eine wie immer, sublim oder grob verstandene Rechtssubjektivität des Menschen gegenüber Gott anzunehmen und damit die Radikalität der Existenzfrage zu verderben.
Der springende Punkt liegt darin, daß es „Verdienst” immer nur unter der Voraussetzung einer Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsbereich gibt, daß unter dieser Voraussetzung aber Verdienst seinem Begriff nach keinen Anspruch bedeuten, seine Würdigung daher immer nur eine freie und ungeschuldete Zuwendung darstellen kann. Verdienst ist eine sinnvolle Motivierung für eine Vergünstigung und insofern auch „gerecht”. In jener Deutung hebt sich der Verdienstbegriff jedoch in sich selbst auf. Auch der Verdienstgedanke zeigt hier eine geschichtliche gebrochene Situation an.13
Die erneute Herausstellung des Rechtfertigungsgedankens als einer fundamentalen und zentralen Aussage bedeutete eine Art Rejudaisierung, weil damit die terminologischen Schwierigkeiten, die Möglichkeiten des Mißverstehens erneut, und mit der erhöhten Bedeutung dieser Lehre verschärft, hervortraten.
Was anstelle dessen hervordringt und versuchlich wirkt, ist in seiner Betonung das geschichtliche Novum des Ich. Dieses Ich jedes einzelnen ist als solches nicht illegitim; denn das Heilsverlangen des Menschen ist unvermeidlich. Aber die zentrale Stellung, die Akzentuierung des Ich ist ein geschichtlicher Schritt. Schon die Wormser Former, „daß jeder für sich vor Gott stehe”, impliziert — in der deutlichen Frontstellung zur Kirche — eine falsche Antithese zwischen dem einzelnen und der Kirche; sie wird durch deren Ansprüche plausibel, aber darum noch nicht richtig.
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Die lutherische Theologie hat folgerichtig später die Rechtfertigung als Gnadenurteil bezeichnet und damit der Notwendigkeit der Übersetzung Rechnung getragen. Der Begriff „Gnadenurteil” ist eine bewußte Paradoxie. Ein Urteil kann nur, wie die solenne alte Urteilsformel besagt, „von Rechts wegen” ergehen, bedarf also immer eines benennbaren zureichenden Rechtsgrundes.14 Recht steht nie in sich allein, sondern bedarf immer selbst der Rechtfertigung. Es ist dasselbe Verhältnis wie zwischen Bewußtsein und Gewissen. „Non stat pro ratione voluntas”. Eine voluntaristische, durch den Nominalismus ermöglichte Unableitbarkeit des verpflichtenden Wissens verbindet sich hier leicht mit einem existenzialistischen Dezisionismus — der bei Bultmann allein das „Daß” übrigläßt und in der weltlichen Durchführung bei Carl Schmitt die mit Recht immer kritisierten Folgen gehabt hat.
Gnade dagegen hat zwar interne Motivationen, ist aber ihrem Begriffe nach grundsätzlich frei und keiner Begründung fähig und bedürftig. Rechtsgrund und freies Handeln schließen sich aus. Es besteht also auf alle Fälle im Begriff des Gnadenurteils eine vorgegebene Dualität. In unserer Zeit hat Niels Bohr zur Darstellung der Komplementarität den Vergleich des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes herangezogen, welche beide wir uns nicht gleichzeitig vorzustellen vermögen und die doch miteinander bestehen.
Wenn man die Rechtfertigungslehre auf einen einzigen entscheidenden Punkt reduziert oder umgekehrt fast zur Ideologie aufbläht, kann man sie nicht von Irrtümern und Mißbräuchen bewahren. Ein Begriff, der subjektiv punktuell und zugleich vieldeutig und wiederum allumfassend ist und sich damit jeder Konkretion entzieht, hebt sich selbst auf — aber auch eine Kirche hebt sich selbst auf, die sich dieser Frage nicht stellt oder sich selbst außerstande setzt, sie verbindlich zu beantworten.
Der Begriff erfordert vielmehr die Aufschließung dessen, was im Rechtsgang des Prozesses geschieht. Ich erinnere an die dem Theologen vielleicht unverständliche oder anstößige These, daß der Prozeß vor dem Recht ist. Wird ein Mensch als Angeklagter auf ein verwerfliches Tun behaftet, so wird damit nicht nur dieser Tatbestand gegenständlich isoliert unter ein Urteil mit Folgen gestellt, sondern die Stellung des Täters als Person in der Rechtsgemeinschaft in Zweifel gezogen. Wer das Recht eines anderen oder des Ganzen verletzt, verletzt die Rechtsgemeinschaft, welche dieses Recht und zugleich das Recht des Beschuldigten selbst begründet und verbürgt. Wird er schuldig befunden, so erleidet er in der Folge eine Einbuße an seinem eigenen Rechtsstatus — zeitweilig oder dauernd oder sei es auch nur als Verweis oder Rüge. Sein Status wird vermindert. Wird er aber freigesprochen, so tritt er aus der zweideutigen Lage der Beschuldigung in den unzweideutigen Zustand seines bisherigen Mitgliedschaftsrecht zurück. (Welche Bedeutung die Tatsache einer solchen — aus der Biographie und damit der Geschichte nicht zu tilgende Zweideutigkeit
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nachwirkend behält, ist eine andere, hier nicht zu behandelnde Frage.) Der Freispruch läßt jedenfalls sozusagen das Pendel in die Ruhelage zurückkehren.
Dabei ist die Tatsache15 zu beachten, daß der Mensch im Urteil nicht nur allein sein Recht erhält, sondern aus der Souveränität des Richters zugleich ein neues Recht. Der Spruch innoviert immer das umstrittene Recht. Der Rechtsspruch ist ein erkennendes Handeln, welches zugleich immer Neues schafft.
Was ist aber der hier zu klärenden Rechtsbruch? Es ist der Versuch, ein Recht in Anspruch zu nehmen, welches dem Täter nicht zukommt. Er macht sich zu Unrecht zum Herrn der Menschen und Dinge. Dies ist aber auch im vollendeten Verbrechen ein untauglicher Versuch; denn was er tut, kann durch die Tat nicht zum Recht werden und bleibt in seinen Wirkungen immer Unrecht.16
Die Beurteilung einer Tat erfolgt auf dem Wege der Zurechnung. Der Rechtsbegriff der imputatio wird ständig in der Rechtfertigungslehre benutzt, ohne die Einsichten zu erwägen, welche seine genuin rechtliche Verwendung darbietet. Die Zurechnung als erste Voraussetzung der Beurteilung ist zunächst eine Frage der Kausalität. Nur das kann einer Person zugerechnet werden, was und soweit sie es verursacht hat. Wird ein Mensch selbst als gegenständliches Werkzeug benutzt, so ist die kausale Kette zwar gegeben, aber ohne die Qualität des Betroffenen als Subjekt und Kopf einer eigenständigen Kausalreihe. Nach Ausgrenzung der kausalen Zurechnung ergibt sich erst die Frage der Zurechnung von Schuld. Hier differenziert sich die Schuld in die Formen der aktualen Schuld und der Lebensführungs- und Charakterschuld. Die dritte Dimension einer sozialen Gesamtschuld wird in foro als nicht judiziabel außer Betracht gelassen — diese Dimension entspricht mutatis mutandis dem Problem der Erbsünde. Zurechnung setzt in entscheidender Zuspitzung die Personalität und Verantwortungsfähigkeit des Menschen voraus.
Es stellt sich daher die (Rechts-)Frage, wie im Geschehen der Rechtfertigung der höchstpersönliche Charakter der Zurechnung ohne Bruch überwunden oder durchbrochen werden kann.
Die Rechtfertigungslehre geht, in Übereinstimmung mit der ganzen Heiligen Schrift, davon aus, daß die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes nicht verletzt werden darf, und daß ihre Verletzung durch die unbotmäßige Freiheit des Menschen gegenläufig ausgeglichen werden muß. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ohne Vernichtung des schuldigen Menschen, Gottes Herrschaft selbst zu restituieren. Diesen Ausgleich meint die Menschwerdung, die Selbstentäußerung Gottes in die Knechtsgestalt und der freie Gehorsam bis zum Tode. Dieser freie Gehorsam wird nun den Menschen unter bestimmten Voraussetzungen als Verdienst Christi zugerechnet. Für diese Zurechnung fremden Tuns oder Verdienstes tritt der Rechtsgedanke der Stellvertretung und Interzession in Wirkung.
Mit dem Begriff der Stellvertretung schließe ich an die Ausführungen16a über Repräsentation an. Solche Begriffe können nicht einfach spekulativ gebildet oder konstruiert werden — sie müssen imstande sein, den konkreten
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Beziehungsgehalt zu umfassen, den sie intendieren. Dabei ist der Begriff der aktiven Stellvertretung wesentlich leichter zu fassen als der der passiven.
Wenn der höchstpersönliche Charakter der Verantwortlichkeit und damit auch der Strafe die Stellvertretung ausschließt, so setzt er eine hochgradige Individualisierung voraus. Ein anderer kann also nur stellvertretend leiden, wenn er auf irgendeine Weise mit dem Schuldigen in eins gesetzt werden kann. Es geht nicht um die Identität von irgend etwas, sondern um die Person schlechthin, den Träger der Verantwortung selbst. Es geht um eine paradoxale Überschreitung der Autarkie der Person. Die Imputation des Leidens Christi als umgekehrte Zurechnung ist also nur denkbar, wenn und weil dieser auch wahrer Mensch, und zwar in einem exemplarischen Sinne ist. Das bloße exemplum des Vorbildes reicht dazu nicht aus. Deswegen hat Ernst Wolf mit Recht immer die Differenz zwischen exemplar und exemplum betont. Hier wird deutlich, welche konstitutive Bedeutung die Inkarnation hat. Sie ist nicht eine mythologische Überhöhung, sondern die denkerische Voraussetzung der Imputation. Wenn alle Formen der Strafgerichtsbarkeit als Haftung für schuldhaft rechtswidriges Tun mit gutem Grund höchst persönlich sind, so kann nur willkürlich, in Kollektivvorstellungen, vor allem aber immer nur in articulo mortis, der eine für den anderen eintreten: bei der kriegsgerichtlichen Dezimierung, gegenüber dem Tyrannen, von dem Schillers Gedacht „Die Bürgschaft” spricht, in dem freiwilligen Opfer, welches etwa Alexander Kolbe im Konzentrationslager gebracht hat. In iure und de iure gibt es diese freie Übernahme nicht. Das freie Opfer des Glaubens ist schon im Alten Testament vorgezeichnet in der Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn zu opfern, und hier heißt es: Dies rechnete ihm der Herr zur Gerechtigkeit.17
Parallel zur Form der Stellvertretung gibt es das Rechtsinstitut der Interzession. Ein Rechtsträger, der einen unantastbaren Status besitzt, wie etwa die römischen Volkstribunen, oder im Gerüche der Heiligkeit stehende Personen, nimmt sich eines von Rechts wegen dem Tode Verfallenen an und identifiziert sich mit ihm. So konnten etwa Äbtissinnen gewisser Klöster einen Verurteilten auf dem Wege zum Richtstuhl freibitten. Eine praktische soziale Anwendung war der Brauch, einen Täter freizugeben, wenn ein unbescholtenes Mädchen ihn auf der Stelle heiratete. In der gleichen Richtung liegt auch der Gedanke der Schutzmantel-Madonna.
Andernfalls würde die Vollstreckung des Urteils an dem Verurteilten vermöge dieser Identität den Unschuldigen mittreffen und würde so zum Unrecht.
Die Theologie hat sich nicht bereitgefunden, der Rechtssprache nachzugehen, um zu erkennen, was dem Sakramentsbegriff zugrundeliegt. Auch schon ante Christum natum galt es als ruchlos, wenn sich ein Mensch mit Berufung auf Gott eines Rechts rühmte, das ihm nicht zustand. Der im Gottesurteil Unterlegene verfiel dem Tode. In der Erwägung dieser Rechtsform kommt es nicht auf die Frage der Beweismittel, sondern auf den zentralen Gedanken an. Da der sakrale Prozeß mit solchen Risiken verbunden war, konnte er auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten nicht gut angewendet werden. Da aber die Anrufung
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des Richters immer noch einem Heiligkeitsbereich angehörte, mußte der Kläger für den Fall des Unterliegens seine eigene Verhaftung durch das Pfand im vollen Werte des Streitgegenstandes abgelten. Im Verlustfalle verfiel dieses Pfand dem Tempel. Auf diesen Ursprung des Sakramentsbegriffs in der legis actio sacramento habe ich schon früher hingewiesen, damit aber nur Entrüstung geerntet. In einer erneuten Erwägung der Rechtfertigungslehre dürfte sich über den speziellen Problembereich der Sakramente hinaus die Bedeutung des Bürgschaftsgedankens als Stellvertretung und Identifikation erweisen.
Kinder sagt eingangs seines Artikels über Sakramente:
„Im klassischen Sprachgebracht ist ,sacramentum’ ursprünglich Bezeichnung für die Geldsumme, die von Prozessierenden an einem locus sacer hinterlegt wurde und bei Verlust des Prozesses den Göttern zufiel. Daraus erwuchs die Bedeutung: Eid, speziell: sakral vollzogener Fahneneid und überhaupt: ein kultisch festmachender und verpflichtender Weiheakt.” 18
Kein Theologie ist bisher über die Banalität einer Prozeßstrafe hinaus auf die ursprüngliche Bedeutung des Vorgangs in der römisch-rechtlichen legis actio sacramento eingegangen, die dieser Benutzung vorausliegt. Die existentiellen Dimensionen der Religions- und Rechtsgeschichte schrumpfen zur lexikographischen Dürre.
Das Wort sacramentum ist auch kein sinnverändernde Rationalisierung. Hier handelt es sich nicht darum, ein innerweltliches Geschehen zu sakralisieren, sondern genau umgekehrt, die Bekundung der heiligen Scheu vor einem Vorgang, dessen der Mensch nicht mächtig ist, der Stellvertretung. Wenn schon die Theologie Rechtsbegriffe verwendet, ohne juristisch mitzudenken, dann müßte sich wenigstens sprachlich bis zur Wurzel der Begriffe zurückgehen und würde dabei auf den geistigen Gehalt des Prozessrechtes stoßen.19
In einem Aufsatz über „Existenzstellvertretung für die Vielen” kommt Peter Stuhlmacher zu folgendem Schluß:
„Die neutestamentliche Wissenschaft braucht … auf die wichtige Frage, wie Jesus seine Sendung und seinen Tod verstanden habe, die Antwort nicht schuldig zu bleiben. Sie kann vielmehr sagen, daß Jesus gewirkt, gelitten und stellvertretend den Tod erlitten hat als der messianische Versöhner. Der messianische Versöhner aber ist die Verkörperung jener erwählenden und die Verlorenen erlösenden Liebe Gottes, die uns Deuterojesaja besonders eindringlich und verheißungsvoll bezeugt.” 19a
Diese Aussage deckt sich völlig mit der rechtstheologischen Interpretation des Sakramentsbegriffs, die hier geboten wurde. Es gibt also eine folgerichtige rechtliche Aussage über das Versöhnungsgeschehen.
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Was geschieht nun so betrachtet in der Rechtfertigung? Der Glaubende hat sich und muß sich zuallererst jedes Anspruchs auf die eigene Rechtfertigung begeben und begeben haben. Er hat keinen Rechtsanspruch mehr und setzt alle Hoffnung auf den, der für ihn eingetreten ist und der sich mit ihm identifiziert hat. Dies hat aber zur Folge, daß er nicht in die vorige Rechtsgemeinschaft zurücktritt, sondern vorwärts in eine neue, eine zukünftige, eine eschatologische. Die gegenwärtige Wirksamkeit der Identifikation und die zukünftige Bedeutung einer vorausgreifenden Innovation verbinden sich also.
In der Identifikation Christi mit den Menschen, derjenigen des Menschen mit ihm ist die Dialektik von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit durchgehalten. Ohne den Charakter des dualen Vorgangs, die Identifikation und das Statuselement, ist das Ganze nicht zulänglich verständlich. Vor allem ist es kein auf den Kopf gestellter judikaler Akt. Die Verkennung, genauer das Unverständnis, für diese und jede entsprechende mehraktige Struktur hat auch den Versuch Ritschls zum Scheitern verurteilt.
Eine vorgestellte Einaktigkeit der Rechtfertigung als Imputation hebt den Geschehenscharakter und damit die Einbettung in die Bundesgeschichte und die Eschatologie auf. Indem aber auf dem Wege eines reinen Postulats denkerisch alles in eins gefaßt wird, verliert die Sakramentalität als Geschehen Sinn und Ort, wird noëtisch zur Bestätigung, Verdeutlichung und Bekräftigung „des” Worts, zu einer der Überzeugungskraft entbehrenden Verdoppelung.
Zu diesem Thema sagt Peters:
„In Confessio Augustana III und IV gelingt es Melanchthon nicht voll (?), die Rechtfertigung christologisch zu verankern und soteriologisch zu verwurzeln. Die forensisch-spiritualisierende Formel ,propter Christum per fidem’ muß sich vertiefen zu unserem leibhaften Einbezogensein in die Herrschaft des Gekreuzigten.” 20 Später: „Die Rechtfertigung läßt sich nicht herauslösen aus dem Bezug auf die Sakramente.” (115)
Hier is an einen von Anfang an mitgeschleppten Lapsus der CA zu erinnern. Der Satz „nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur spiritus sanctus” (Art. V) ist unbiblisch. Denn unbestritting bringt das NT die Geistmitteilung mit der Taufe in Verbindung, aber nicht mit dem Abendmahl. Dem entspricht das gemeine Kirchenrecht. Die Taufe begründet die Gliedschaft am Leibe Christi, das Abendmahl setzt sie voraus und erneuert sie. Die Verbindung der Begriffe „Wort und Sakrament” als einfache Juxtaposition ist überhaupt misslich und irreführend.
Wenn Karl Barth in seiner eingangs zitierten programmatischen Schrift gegenüber einem von der Rechtfertigungslehre geprägten, in seiner Sicht einseitigen und introvertierten Kirchenverständnis auf die sozialistischen und politischen Konsequenzen verweist, so übergreift er den hier, im Einvernehmen mit Peters herausgestellten Charakter der sakramentalen communio. Dieser zweite
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Schritt aber führt als Drittwirkung zur konkreten Verbindung der Christen und der Gesamtkirche überhaupt wie in der Konsequenz als weitere Drittwirkung in das Feld der Verpflichtung und Verantwortlichkeit.
Karl Barth hat — mit den Hintergründen der in Bd. II, Kap. VII gewürdigten Erwählungslehre — den wesentlichen Tatbestand der communio, den Peters mit Recht vermißt und anmahnt, übersprungen; aber Barths Anliegen widerfährt so Gerechtigkeit — es findet seinen Ort. Eine einseitig forensisch-judikale und deshalb individualistische Rechtfertigungslehre nähert sich dem Calvinismus — freilich ohne dessen systematischen Ansatz. Aber die hier vertretene Verbindung von Glaube und Taufe entspricht der von Barth vertretenen Lehre von bekennenden und liturgischen Kirchenrecht.
Zu alledem gehört eben immer ein Drittes. Wenn Rechtfertigung nicht ohne Kommunikation ist, so hat diese wiederum eine Drittwirkung. Denn sie verbindet ipso facto den Betroffenen mit allen, die an der gleichen Identifikation teilhaben und teilnehmen werden. Deswegen gibt es im Gegensatz zur weltlichen Geschichte in der Kirchengeschichte auch keine damnatio memoriae vergangener Epochen und deren Träger. Die umfassende Gemeinschaft aller Zeiten korrespondiert dem eschatologischen Charakter des Geschehens.
Aus dem Gesagten ergibt sich ein überraschendes Schluß. Karl Barth hat an die Tatsache erinnert, daß die Alte Kirche keine Rechtfertigungslehre besessen habe. Obwohl die paulinischen Schriften bekannt waren, haben sie dogmatisch nicht in dieser Richten gewirkt. An ihre Stelle trat etwas Legitimes und Unmittelbares. Sowohl das Apostolicum wie das Nicaenum enthalten im dritten Artikel eine Aussage über die Vergebung der Sünden; das Nicaenum erweitert diese Aussage in das Bekenntnis zur „einen Taufe zur Sündenvergebung”. Sie bezeugten also das, was Luther als das Entscheidende des rechtfertigenden Glaubens bezeichnet, den im Zentrum des Bekenntnisses stehenden Glauben an die Vergebung der Sünden und an die Inkorporation durch die Taufe. Was fehlte ihnen? Ich meine: nichts als der Begriff.
Hier ist jedenfalls der einzige Ort, wo der Mensch in seiner äußersten Verlorenheit und Isolierung mit der Gesamtbestimmung von Welt und Geschichte verbunden ist und wird.
Zur Auslegung des Begriffs Rechtfertigung und über den Stellenwert dieser Lehre hat sich Edmund Schlink erneut geäußert:
„… Ein Bekenntnis ist zu unterscheiden von einer Dogmatik, die in umfassender Weise grundsätzlich alle Probleme der kirchlichen Lehre zu erörtern hat. Im Bekenntnis geht es demgegenüber um die Mitte des Glaubens und der Lehre und somit nicht um alle beliebigen Abweichungen von der Lehre, sondern um die wichtigsten Verdunklungen ihrer Mitte. Eine quantitative Vollständigkeit aller strittigen Punkte brauchte im Augsburgischen Bekenntnis auch deshalb nicht angestrebt zu werden, weil sich von der Mitte her ganz selbstverständlich auch Folgerungen für solche Lehrmeinungen und Mißbräuche ergeben mußten, die im Bekenntnis nicht ausdrücklich erörtert sind. Vor allem bleibt zu berücksichtigen, daß die Mitte des Augsburgischen
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Bekenntnisses der ,Christus pro nobis’, sein rechtfertigendes, heiligendes, lebendig machendes Wirken durch das Evangelium und durch die Sakramente ist.” 21
Das Votum des Anglikaners Sykes verdeutlicht das gleiche Anliegen in seiner Art, wenn er sagt:
„Eine Kirchengemeinschaft wie die anglikanische könnte eine
andere theologische Tradition, besonders wenn sie so viel
Familienähnlichkeit aufweist wie die lutherische, ohne
Schwierigkeit in sich aufnehmen, doch erhöben sich große
Schwierigkeiten wegen der Form der Erklärung, wie sie die
Bestimmung eines ,Hauptartikels’ zweifellos erfordern würde.
Durch Bestimmung eines solchen Hauptartikels würde gerade jene
Freiheit der theologischen Interpretation unterbunden, die
gegeben sein muß, damit eine so umfassende und vielgestaltige
Tradition bestehen kann. Daß die hohe Stellung dieses Artikels im
16. Jahrhundert angesichts des bestehenden Systems
verdienstlicher Werke aus geistlichen Erwägungen angebracht war,
sei nicht bestritten. Aber mit welcher Begründung hat man daraus
ein hermeneutisches Prinzip für alle künftige Theologie werden
lassen? Je deutlicher erkannt wird, daß sich die Bildung eines
Kanons im Kanon auf individuelle theologische Entscheidung
zurückführen läßt, desto weniger ist seine Erhebung zum
kirchlichen Kanon überhaupt gerechtfertigt. Vom Reichtum und der
Vielfalt der Heiligen Schrift her, die allein der Zucht der
Regula fidei unterworfen sind, dürfte sich eine weniger
willkürliche, theologisch fundiertere und geistlich gehaltvollere
Arbeitsbasis bieten.” 22
Ferner Schlink: „Als Mitte des Augsburgischen Bekenntnisses wird
oft Artikel 4 von der Rechtfertigung des Sünders bezeichnet. Es
dürfte angemessener sein, die Mitte in dem christologischen
Artikel 3 zu sehen, und zwar in dem dort bezeugten Wirken Jesu
Christi an unserer Statt und uns zu Gute.” (7 f.). Schlink weist
dabei auf den Kleinen Katechismus hin, in dem in der Auslegung
des 2. Artikels die Rechtfertigung nicht erwähnt ist. „Die Mitte
der vielen Aussagen über das Heilshandeln Jesu Christi an den
Glaubenden ist hier das ,pro nobis’ (,für uns’), nämlich daß
Jesus Christus ,mein Herr’ ist.” (21) Wichtig: In der Geschichte
der Auslegung des Augsburgischen Bekenntnisses sei „sein Inhalt
oft einseitig auf die Rechtfertigungslehre konzentriert” worden.
„Der Reichtum der neutestamentlichen Aussagen, die den ,Christus
pro nobis’ zusprechen, ist dadurch nicht selten in einer
bedenklichen Weise formalisiert und verkürzt worden.” (20 f.) Im
Diskussionsbericht heißt es: „Die Verklammerung von CA 3 und 4
zeigt, daß es angemessener ist, auf die Mitte des Augsburgischen
Bekenntnisses statt mit dem Begriff ,Rechtfertigung’ mit dem
Begriff ,Christus pro nobis’ hinzuweisen. Rechtfertigung ist
angewandte Christologie und Trinitätslehre!” 22a
Diese Äußerung liegt in der Richtung von Schlinks Anfrage nach Bedeutung und Stellenwert der Rechtfertigungslehre in der lutherischen Theologie, welche er schon 1940/46 in seiner „Theologie der Bekenntnisschriften” vorgetragen hat, ohne indessen damit erkennbare Beachtung zu finden.
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Seine Anregung ist eine wichtige Bestätigung dafür, daß der Monismus des vieldeutigen und mißbrauchten Begriffs „Rechtfertigung” durch den Rückgang auf das Heilsgeschehen selbst ersetzt werden kann und muß. Das Christus pro nobis ist der Inhalt des verkündeten Evangeliums, nicht weniger der Sakramente, und der zentrale Gegenstand des Glaubens. Die Rückführung auf diesen Kern erlaubt, diese drei sinngemäß zu verbinden, ohne jene Spannungen und Probleme zwischen ihnen zu erzeugen, unter denen die lutherische Theologie leidet.
Die zitierte Aussage von A. Peters bezeichnet eine Kontroverslage, zu der vorgreifend durch die prozessuale Darstellung des Rechtfertigungsgeschehens schon Stellung bezogen wurde. Sie muß aber klargestellt werden.
Ich habe mich schon in den Anfängen der gemeinsamen rechtstheologischen Bemühung gegen verengte Formen der Rechtfertigungslehre gewendet, welche Ernst Wolf „als Tradition eines rein forensischen, den christologischen Bezug außer acht lassenden, idealistischen Protestantismus bezeichnet” 23 — offenbar insoweit meiner Ablehnung zustimmend. Er fährt doch fort:
„… Nach biblisch-reformatorischer und auch „dialektischer” Auffassung setzt aber der Akt der iustificatio impii als solcher communicatio, Einstiftung in das Bundesverhältnis zu Gott und Einfügung in die Mitmenschlichkeit. Sanctorum communio, remissio peccatorum, und ecclesia sind für Luther bekanntlich Synonyma.”
Derselbe Wolf findet jedoch bei Luther eine „Verkennung dessen, daß um der besonderen Realpräsenz des Christus im Abendmahl willen die sakramentale Wirkung ihrer Modalität nach doch spezifisch verschieden sein müßte von der allgemeinen Gnadenwirkung, sofern sie in besonderer Weise den Glauben stärkt, mit Christus vereint, den Verklärungsleib vorbereitet”. 24 Wolf wird sich seines Selbstwiderspruchs nicht bewußt: er faßt zunächst die Dimension im Postulat in einem Akt zusammen, um dann Luther nach dem proprium der Sakrament zu fragen.
Tatsächlich vertritt Luther die Auffassung, daß die Predigt ranghöher sei als der Vollzug der Sakramente:
„Quando autem aliquis habet potestatem docendi habet etiam potestatem sacramenta administrandi, quia — wir halten das sacrament geringer denn das predigen”. 25
Angesichts der von Wolf erhobenen Anspruchs und der überragenden Bedeutung der Rechtfertigungslehre fragt sich, warum die lutherische Theologie und Kirche es niemals unternommen hat, einer forensischen, nicht nur idealistischen, sondern auch individualistische Rechtfertigungslehre durch klare Abgrenzung entgegenzutreten, einer Lehre, welche sie in der Auseinandersetzung mit Gegnern ins Unrecht setzte, und — wie Wolf beschwört — ihren eigenen Auffassungen
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diametral entgegenläuft! — so wenig, daß aus Anlaß der heutigen Gespräche über Anerkennung der CA mit gutem Recht die Ausscheidung solcher Positionen gefordert werden konnte und mußte.
Aus dem Gesagten ergeben sich für mich schon jetzt eine Reihe von Folgerungen, die direkt und indirekt für die Kirchenrechtslehre von Bedeutung sind:
1. Eine sog. forensische Rechtfertigungslehre, welche die Rechtfertigung wesentlich in einem freisprechenden Urteilsakt sieht, ist eine nicht nur unzulänglich, sondern verfehlte Lehre, welche die Dimension der communio beiseitestellt. Sie ist die höchst bedenkliche Konsequenz einer jurisdiktionell übergewichtigen Tradition, unter deren Zeichen nach Andresen die lateinische Kirche angetreten ist. Sie trägt zugleich die Merkmale eines monoformen Denkens, welche das pneumatische Geschehen in die Vollgültigkeit immer nur eines einzelnen, dann unvermeidlich kausal verstandenen Aktes verengt.
2. Aus dieser Isolation des Urteilsmomentes entsteht zweitens mit der Vernachlässigung der communio auch die Verleugnung der unmittelbaren Drittwirkung, indem das Verhältnis Gottes zum Menschen als ein rein individuelles und außerhalb jeder geschichtlichen und sozialen Gemeinschaft stehend begriffen wird. Das betrifft sowohl den Kirchenbegriff wie das Existenzverständnis überhaupt. Denn infolgedessen wird auch alle Sozialität der Kirche nicht als ein integrierendes, also existenziales Moment des Geschehens selbst, sondern als eine in das Vermögen des befreiten Menschen gestellte Verwirklichung mißverstanden.
3. Die Drittwirkung der Rechtfertigung verbietet dagegen sowohl partikularistische, aktualistische, wie einseitig präsentische und personalistische Auslegungen, weil diese die personale wie die gesamtgeschichtliche und eschatologische Dimension weder je für sich noch in ihrer Verbindung zulänglich wahrnehmen und ausdrücken können.
4. Iustificatio, communicatio und Drittwirkung — als universale und eschatologische — sind ebenso verbunden wie (im Verständnis) zu unterscheiden.
Die Kontroverslage ist nun so zu beschreiben:
a) Auf der einen Seite steht eine umfassende, aber
zugleich monoforme Auslegung der Begriffe Wort, Glaube,
Rechtfertigung, welche in einer punktuellen Zusammenfassung
höchst unterschiedliche Auslegungen ermöglicht, ohne daß die
Implikationen bestimmt und Abgrenzungen möglich werden. Die
Aussage über die Wahrheit verdeckt den Weg
dieses Geschehens.
b) Auf der anderen Seite besteht das offene Problem des
Verhältnisses der geistlichen Vollzüge, Verkündigung, Glaube,
Taufe, Abendmahl, über deren Zusammenhang, Verhältnis, Rand und
Folge keine Klarheit, vielmehr wesentlich divergente, ja
gegensätzliche Meinungen entstehen.
c) Weder zwischen beiden Betrachtungsweisen noch innerhalb des
komplexen Bestandes von b) zeichnen sich klare Alternativen der
Lösung oder der Verbindung ab. Eine gewisse nominalistische
Tradition erzeugt dabei mit der Präsumtion, daß es keine
explizite Logik dieser Beziehungen gebe, ein
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hinderliches Desinteresse an den Begriffsmitteln. So bestätigt sich das Urteil von E. Jüngel:
„… daß die Einheit der evangelischen Kirche gerade durch das jeweilige Sakramentsverständnis radikal in Frage gestellt wurde … Der Begriff des Sakraments ist eine permanent latente Bedrohung der evangelischen Theologie und Kirche, nicht weil er da ist und — hier mit Zurückhaltung, dort mit Emphase — verwendet wird, sondern weil er unbestimmt da ist und unscharf verwendet wird.” 26
Diese Sach- und Streitfrage macht notwendig, das Verhältnis von Rechtfertigung und Taufe zum Thema zu nehmen, und zwar in direkten Bezug zu den lutherischen Bekenntnisschriften, die der Rechtfertigungslehre eine so zentrale und entscheidende Bedeutung verliehen haben.
1a Dombois, Rechtsgeschichtliche Betrachtungen zu
Shakespeares „Kaufmann von Venedig”, in: Hochland 56, 1964,
220-228 und in: ders., Evangelium und soziale Strukturen, Witten
1967, 214-224.
1b Ders., Juristische Bemerkungen zur
Rechtfertigungslehre I, in: NZSTh 8, 1966, 169-183 und in: ders.,
Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967, 149-165.
1c Ders., Juristische Bemerkungen zum Gleichnis von
den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-12), in: NZSTh 8, 1966, 361-373
und in: ders., Evangelium und soziale Strukturen, Witten 1967,
166-180.
1d Ders., Juristische Bemerkungen zur
Satisfaktionslehre des Anselms von Canterbury, in: NZSTh 9, 1967,
339-355.
1e Ders., Juristische Bemerkungen zur
Rechtfertigungslehre IV, in: NZSTh 18, 1976, 150-159.
2 Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, Zürich 1937
(wiedererschienen: Theologische Studien 104, Zürich 1970).
2a Ders., Kirchliche Dogmatik IV/2, § 67.4, Die
Ordnung der Gemeinde, 765-824, Zürich 1955.
3 Ders., Kirchliche Dogmatik IV/1, Zürich 1953, 585,
vgl. RdG II, 142.
3a Ders., Kirchliche Dogmatik IV/3, Zürich 1959,
876.
4 Peter Stuhlmacher, Schriftauslegung in der Confessio
Augustana, in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit,
Göttingen 1981, 246-270, hier: 264.
4a Wilfried Joest, Art. Rechtfertigung, in: LThK,
Freiburg 21963, Bd. 8, 1046-1050, hier: 1047.
5 Vgl. hierzu RdG Bd. II, Kap. VII, 130 ff., 142.
6 Herbert Goltzen, NT 75 — Lutherbibel oder Attrappe?
Hrsg. A. Völker, Rundbrief d. Ev. Michaelsbruderschaft, 3.
Sonderheft, Gießen 1980, 8 f.
7 Wilhelm Dantine, Die Rechtfertigungslehre in der
gegenwärtigen systematischen
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Arbeit der evangelischen Theologie, in: EvTh 23 (NF 18), 1963,
245-265, hier: 249 f. Vgl. RdG Bd. II, 12 f.
8 Die Analyse einer vergleichbaren Umbruchsituation
hat mir dazu verholfen, scheinbare Ungereimtheiten in
Shakespeares „Kaufmann von Venedig” als sinnvoll verständlich zu
machen. Es geht auch hier um die Gnade. Vgl. Anmerkung 1a.
9 Holsten Fagerberg, Die Rechtfertigungslehre in
Confessio Augustana und Apologie, in: Erwin Iserloh (Hg.),
Confessio Augustana und Confutatio, Münster 1980, 325-345, hier:
335.
10 RdG Bd. I, 171 ff.
11 Otto H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei
Martin Luther und Thomas von Aquin, Mainz 1967, 178 f.
12 Vgl. Anmerkung 1e.
13 Vgl. Anmerkung 1a und 1d.
14 Um genau zu sein: Über dem Urteil steht die
Legitimationsformel: Im Namen des Königs (oder des Volkes), unter
dem Urteil jenes „Von Rechts wegen”. Beides ist sinnvoll und
widerspricht sich nicht. Das Recht kann nicht anders als
verantwortet werden, und dennoch bleibt es Recht und schließt per
intentionem die Willkür aus.
15 Vgl. RdG Bd. I, 164.
16 Vgl. Dombois, Mensch und Strafe, Witten 1957.
16a Vgl. RdG I, Kap. II, 90-162.
17 Luther hat sich gelegentlich heftig über den
sozialen Mißstand entrüstet, daß eingegangene
Bürgschaftsversprechen nicht gehalten wurden. Er wollte die
Bürgschaftsleistung überhaupt verboten wissen, weil allein Gottes
Wort verlässlich sei. Dies war freilich ein Kurzschluß. Der
damalige Mißstand beruhte deutlich auf dem Mangel der
gesetzlichen Schriftform, so wie auch zu seiner Zeit die
heimlichen Ehen auf der Zersetzung der früheren sichtbaren
Rechtsformen beruhten. Er übersah auch, daß
mindestens ebensoviel rechtschaffene Leute durch die
Erfüllung von Bürgschaften zugrunde gehen wie umgekehrt. Aber er
hat sich durch diese, hier nicht passende Verweisung auf das Wort
Gottes selbst der Möglichkeit einer existentialen Interpretation
des Problems beraubt. Denn hier zeigt sich in wie begrenztem
Umfang der Mensch nur für den Menschen eintreten kann. Er kann
Unmündigen und Hilflosen helfen, als Samariter wirken, aber er
kann nicht für die Bewährung des Lebens, die Fähigkeit, sich
selbst im sozialen und Erwerbsleben zu behaupten, eintreten. Die
Schriftform hätte den personalen Charakter der Bürgschaft durch
eine verbale Verdinglichung entscheidend verändert. Daß
diese ähnliche Probleme enthält wie die reale, ist dem
Humanismus fremd.
18 Ernst Kinder, Art. Sakramente, I.
Dogmengeschichtlich, in: RGG, Tübingen 31962, Bd. V, 1321-1326,
hier: 1321.
19 Norbert Hoffmann, Sühne. Zur Theologie der
Stellvertretung, Sammlung Horizonte Nr. 20, Einsiedeln 1981. Vgl.
die dortige Literatur 131 ff.
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19a Peter Stuhlmacher, Existenzstellvertretung für die
Vielen: Mk. 10, 45 (Mt. 20, 28), in: ders., Versöhnung, Gesetz
und Gerechtigkeit, Göttingen 1981, 27-42, hier: 41 f.
20 Albrecht Peters, Systematische Besinnung zu einer
Neuinterpretation der reformatorischen Rechtfertigungslehre, in:
Wenzel Lohff/Christian Walther (Hg.), Rechtfertigung im
neuzeitlichen Lebenszusammenhang, Gütersloh 1974, 107-125, hier:
114.
21 Vgl. E. Schlink, Der ökumenische Charakter und
Anspruch des Augsburgischen Bekenntnisses, in: LWB-Report 6/7,
1979, 1-28, hier: 11.
22 Vgl. auch die kritische Anfrage in dem Aufsatz von
Stephen W. Sykes, Das Augsburgische Bekenntnis in anglikanischer
Sicht und besonderer Berücksichtigung der Frage nach Amt und
Bischofsamt, in: LWB-Report 6/7, 1979, 29-56, hier: 41.
22a Harding Meyer, Diskussionsbericht zu Emilianos
Timiadis, Trinitarische Ökonomie und Christologie, in: LWB-Report
6/7, 1979, 153-155, hier: 154.
23 Ernst Wolf, „Trinitarische” oder „christologische”
Begründung des Rechts? Das Göttinger Rechtsgespräch und seine
Auswirkung, in: Dombois (Hg.,), Recht und Institution I, Witten
1956, 9-33, hier: 18.
24 Ernst Wolf, Zur Verwaltung der Sakramente nach
Luther und lutherischer Lehre, in: Peregrinatio I, München 1954,
243-256, hier: 253.
25 WA II. Abteilung, Tischreden 1, 234, 11 ff.,
zitiert bei: Otto H. Pesch, Rechtfertigung bei Luther und Thomas,
Mains 1967, 331, Anm. 30.
Luther schreibt wiederum ganz unbefangen (an Ambrosius
Katharinus, 1521, WA 7, 721): „Evangelium enim prae pane et
baptismo unicum certissimum et nobilissimum Ecclesiae
symbolum (tessera, Kennzeichen); cum pe solum Evangelium
concipiatur.” (Zitiert bei Peter Brunner, Reform-Reformation,
Einst — Heute, in: KuD 13, 1967, 159-183, hier: 183, Anm.
34).
Wieder ganz anders lautet — in der Aussage über das Abendmahl
speziell — die Lehre vom fröhlichen Wechsel „Christus und ich
werden ineinander gebacken, das mein sund und tod sein werden und
sein Gerechtigkeit und leben mein eigen werden.” (WA, 17.1 175,
8-10). Die mutatio felicissima erscheint in der CA jedoch nicht.
Wenn Luther im Bekenntnis von 1528 sagt:
„Im Heiligen Geist schenkt sich uns der dreieinige Gott ganz und gar, innerlich durch den Glauben, äußerlich durch die Gnadenmittel, so führt er uns zu Christus, übt zum Leiden ein und bringt uns zur Seligkeit …”
(So G. Kretschmar, Der Kirchenartikel der Confessio Augustana Melanchtons, in: Erwin Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio, Münster 1980, 411-439, hier: 419), so setzt dies die unbedingte Ehrung und Anerkennung jedes Handeln Gottes voraus, blendet aber jede Verhältnisbestimmung beider Weisen aus, setzt sie vieler der Preisgabe aus, — denn wozu „äußerlich”, wenn der Glaube eher schon innerlich gibt. Solange jene Unbedingtheit vorauszusetzen ist, hält das und fällt auseinander, sobald unverbindlich nach dem Sinn, dem Verhältnis gefragt wird. Nicht der Sinn, sondern die Setzung entscheidet und trägt.
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Über die Zeit der Orthodoxie sagt Peters:
„Gemeinsam sind freilich auch mit den römisch-katholischen Gegnern die aus dem Mittelalter übernommenen Engführungen, die Isolierung der Stiftungsworte (bis in die Gegenwart nachwirkend, Anm. d. V.), deren Heraushebung aus dem Eucharistiegebet, die Konzentration auf Christi Realpräsenz unter den geweihten Elementen, die seltene Kommunion wie das Zurücktreten der Mahlgemeinschaft hinter die Gnadenzuwendung an die einzelnen.” (Albrecht Peters, Art. Abendmahl, III.4 Von 1577 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: TRE, Berlin-New York 1977, Bd. 1, 131-145, hier: 131 f.)
Von einer durchgreifenden Erneuerung der Sakramentenlehre und
Praxis, geschweige deren Konzentration auf die communio als
solche, kann also keine Rede sein.
26 Eberhard Jüngel, Das Sakrament — Was ist das?, in:
E. Jüngel/Karl Rahner, Was ist ein Sakrament?, Ökumenische
Forschungen, Kleine ökumenische Schriften 6, Freiburg 1971, 9-61,
hier: 12 f.
Von dieser kritischen Selbstdarstellung kann freilich nicht in
der Weise Gebracht gemacht werden, wie es Schilson in der
„Herder-Korrespondenz” (34, 1980, 133-138) getan hat. Vgl. hierzu
meine Bemerkungen, die sich in dem Schlußsatz zusammenfassen:
„Eine katholische Kritik sollte auch den indirekten Eindruck
vermeiden, als setze sie für sich den selbstverständlichen Besitz
voraus.” (Dombois, Brief an Schilson/Tübingen, in: Quatember 44,
1980, Nr. 3, 190 f.).