Die Verfassungsgeschichte der Kirche zeigt eine fortschreitende, bedeutende Umbildung ihrer rechtlichen Lebensformen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß wesentliche Bildungen, wie etwa die Gliederung und Sammlung in Gemeinden, gewisse Grundzügen des Sakramentsrechts wie des Amtrechts als ein Art Unterbau trotz aller Wandlungen und Spaltungen erhalten geblieben sind. Jedoch ist auf diese Tatsache weder im Bereich der einzelnen Kirchen noch in der ökumenischen Bewegung reflektiert worden. Eine Bestandsaufnahme ist jedoch um so wichtiger, je klarer die gewichtige Problematik der kirchlichen Verfassungsgeschichte in einer Untersuchung hervortritt: sie ist gewissermaßen ein Gegengewicht dazu.
Auffälligerweise ist nun die Möglichkeit von Sätzen des allgemeinen Kirchenrechts gerade von solchen Autoren bestritten worden, welche in einem sehr strikten Sinne die Möglichkeit und Notwendigkeit von Kirchenrecht vertreten (Barth, Erik Wolf). Nach Karl Barth kann es nur um die Aufzeichnung der allgemeinen, aber auch theologisch verbindlichen Voraussetzungen des Kirchenrechts, nicht aber um seine Entfaltung gehen. „Es gibt kein allgemeines Kirchenrecht”.139 Es muß verschieden entfaltet werden. So entschieden er sich gegen eine falsche Spiritualisierung des Kirchenrechts bei Sohm, gegen Emil Brunners Mißverständnis der Kirche wendet — so wenig ist eine Begründung für diese strikte Verneinung allgemeinen Kirchenrechts zu finden. Auch ob vielleicht die Verschiedenheit der Gestaltung eine Strecke weit eine übereinstimmende sein müsse oder könne, wird nicht erwogen. Der Theologe entwickelt nur die
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Axiome, nach denen Kirchenrecht theologisch legitim gebildet werden muß, — die Konkretion ist grundsätzlich partikular.
Es ist immer mißlich, nach den Begründungen eines Autors zu fragen, der uns diese selbst versagt. Das Gewicht der Folgerungen einer solchen Auffassung macht jedoch diese Untersuchung unvermeidlich. Aus gewissen verstreuten Andeutungen könnte man den Grund für die Barth’sche Ablehnung darin suchen, daß er Kirchenrecht immer nur als einen Versuch der Gestaltung, als einen Versuch des Gehorsams ansehen will. Damit wird freilich eine sehr bestimmte Bejahung von Kirchenrecht von innen heraus in Frage gestellt. Denn wenn seine gegen Emil Brunner scharf formulierten theologischen Sätze so verbindlich sind, wie sie unzweifelhaft gemeint sind, so müßten ja auch die kirchenrechtlichen Folgerungen in einem vergleichbaren Sinne und Maße verbindlich sein. Das wäre durch die gleichzeitige Rücknahme in den Charakter des Versuchs in Frage gestellt. Gemeint ist möglicherweise ein anderes: die Wandelbarkeit solcher Bildungen soll vorbehalten werden. Indessen zeigt die Geschichte des Kirchenrechts selbst, daß auch die bestimmteste Vertretung von Sätzen des sogenannten ius divinum tiefgreifende Umgestaltungen der Auslegung und Anwendung keineswegs ausgeschlossen hat. So wird das, was an verständlichem Vorbehalt gegen eine im Rechtsleben freilich in diesem Sinne nicht vorkommende Unwandelbarkeit gemeint ist, potenziert und damit übergewichtig. Eine zweite Erwägung führt zu der Deutung, daß die konkrete Anwendung jener theologischen Sätze in so hohem Maße von partikularen, zeitlichen und nationalen Verhältnissen abhängt, daß schon darum von allgemeinen Grundsätzen nicht gesprochen werden kann. Auch diese Auffassung ist bedenklich. Denn sie setzt im Stile der liberalen Theologie das Element der außertheologischen Faktoren im Gestaltungsprozeß so hoch an, daß die Eigentümlichkeit der Kirche darunter bis zur Unerkennbarkeit verschwindet. Das würde in der Konsequenz heißen, daß die Kirche selbst keine historische Identität erkennbarer Art besitzt. Jeder Gebildete weiß, daß etwa die großen historischen Rechtskreise des germanischen oder römischen Rechts, das Recht auch anderer Kulturkreise gewisse unverwechselbare Eigenheiten besitzt. Es von vornherein aber auszuschließen, daß die Kirche ihre unverwechselbare Eigenheit besitzt, hieße in der Konsequenz, daß sie außerstande wäre, in die Geschichte selbst einzugehen. Sie bliebe immer irgendwie außerhalb und oberhalb der konkreten Geschichte. Auch wenn man auf diese Folgerungen Barth nicht mit Sicherheit haften kann, so drängen sie sich doch auf und können nicht ausgeschlossen werden. Es liegt diese Erwägung in Richtung der kritischen Frage, die ich im größeren Zusammenhang in Kap. I meines Kirchenrechtswerkes an Barth gestellt habe.
Etwas deutlicher äußert sich Erik Wolf, der übrigens trotz mancher Verbindung zu Barth nicht in dem Grade als dessen juristischer Interpret oder Gewährsmann verstanden werden darf, wie vielfach angenommen
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wird. Er warnt140 sicher mit Recht gegen die kritiklose Übertragung von Grundbegriffen der allgemeinen Rechtslehre oder allgemeinen Kirchenrechtslehre auf das Kirchenrecht, vor dem abstrakten Rationalismus des 18. und dem juristischen Positivismus des 19. Jahrhunderts. Aber das sind abgelebte Gegner; es fällt auf, daß keine Abgrenzung im Raum des 20. Jahrhunderts versucht wird. Mit der Ablehnung jener Haltungen wird eine Begründung für die hier ebenfalls ausgesprochene Bestreitung des allgemeinen Kirchenrechts nicht gegeben. Nach späteren Ausführungen muß das Kirchenrecht zugleich unionstheologisch auf das Verbindende, kontroverstheologisch auf die Herausarbeitung des um der Wahrheit willen Streitigen und zugleich „existential-theologisch” ausgearbeitet werden. Wolf wendet sich also zunächst nur gegen die Deduktion aus problematischen Allgemein- und Obersätzen — sicher zu Recht. Er wendet sich dann — bis zu einer gewissen polemischen Abwertung der historischen Bekenntnisse — gegen eine Ideologisierung des Bekenntnisbegriffs, durch welche jeder einzelne Satz des Kirchenrechts je nach dem Bekenntnis einen anderen Sinn erhalten müßte. Aber zwischen der Ablehnung von Generalsätzen und dem Postulat einer mit der kritischen Kontroverse verbundenen Unionstheologie fällt die Frage nach dem gegebenen Bestand allgemeinen Kirchenrechts stillschweigend dahin. Ich finde jedenfalls nicht, daß sie von ihm irgendwo ernstlich in Angriff genommen worden ist. Nach wie vor werden die verschiedenen historisch-bekenntnismäßigen Typologien von Kirchenrecht einander gegenübergestellt, die sich irgendwo — wenn auch annahmeweise nicht erst am Jüngsten Tage — wie die Gerade im Unendlichen eines versöhnenden johanneischen Kirchenrechts treffen sollen. Das Verdikt gegen das allgemeine Kirchenrecht hält durch.
Auch hier vermisse ich die eigentliche Begründung. Im Gegenteil; wenn Wolf sich gegen die Ideologisierung des Kirchenrechts wendet, nach welcher identische Sätze in unterschiedlichen konfessionellen Zusammenhängen einen verschiedenen Sinn haben müßten, so würde die Ablehnung des allgemeinen Kirchenrechts gerade dorthin führen, wo Wolf selbst nicht hin will. Der Hinweis auf Spuren ökumenischen Kirchenrechts in allem konfessionellen Kirchenrecht verkleinert das Phänomen und Problem durchhaltender Gemeinsamkeit bis zur Unkenntlichkeit. Das gemeinsame Prinzip der Offenheit und Vorläufigkeit meint etwas anderes. Hier wird einmal die Gemeinsamkeit der Haltung mit Barth sehr deutlich. Insoweit gilt auch für Wolf das oben Gesagte.141
Als ein dritter Autor wendet sich Dietrich Pirson gegen meine Annahme gemeinen Kirchenrechts mit dem Satze: „Gemeinsame Rechtsinstitute in verschiedenen Kirchen begründen noch keinen Bestand an universal-kirchlichen Normen”, und begründet dies damit, meine Meinung beruhe auf einer bekenntnismäßigen Auffassung, nach welcher der gottesdienstlichen Tradition in besonderem Maße konstitutive Bedeutung für
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die kirchliche Ordnung zukomme.142 Nun hat Karl Barth im Rahmen der von ihm entwickelten theologischen Voraussetzungen das Kirchenrecht als liturgisches und bekennendes Recht qualifiziert. Diesen Gedanken habe ich aufgenommen, aber ihn doch dahin abwandeln müssen, daß er nicht als Deduktionsbasis ex nunc von uns aus gelten könne, sondern als heuristischer Schlüssel für das Bildungsgesetz allen Kirchenrechts in seinen sehr verschiedenen Gestaltungen sich bewähren müsse. Abgesehen davon, daß ich mit Barth auch von der Dualität von Liturgie und Bekenntnis ausgegangen bin, ist für mich die Tradition als solche so wenig wie für Barth ein Beweisgrund.
Es handelt sich also nicht um die materiellen Inhalte irgendeiner Tradition, sondern um die Ausweisung eines Bildungsgesetzes, nach welchem sich durch Liturgie und Bekenntnis Kirchenrecht bildet, weil sie die spezifischen Handlungsformen sind, in denen sich Kirche vollzieht. Man wird schwerlich Barth das unterstellen können, was man meint, bei mir vermuten zu können. Nun hat Dietrich Pirson das besondere Verdienst, durch seine Schrift einen Schritt aus dem traditionellen Partikularismus der Betrachtung herausgetan zu haben. Seine These ist es gerade, daß die Universalität der Kirche die Voraussetzung aller kirchlichen Legitimität in jedem partikularen Zusammenhange ist. Daß dies nicht notwendig eine sichtbare institutionelle Form von Einheit erfordert, ist außerhalb des Streites. Da die Begründung für die Ablehnung meiner These deren Voraussetzungen selbst nicht trifft, vermisse ich auch hier die Benennung der Gründe, die Pirson im Ergebnis zu der gleichen Ablehnung führen.
Die Bedeutung und die Verantwortung dieser Position ist deswegen so groß, weil sie selbst unter der Voraussetzung ihrer theoretischen Richtigkeit die Bedeutung derjenigen Rechtssätze ungemein vermindern, in denen auf Grund eines unbestreitbaren Konsenses gemeines Kirchenrecht objektiv nachweisbar ist. Wenn also theoretische Gründe dagegen beständen, im strikten Sinne von allgemeinen Kirchenrecht zu sprechen, so schließt das den vorhandenen Tatbestand nicht aus, müßte ihn aber zugleich verdunkeln. Wie wäre denn die ökumenische Situation von heute, wenn nicht von dem anerkannten Satz ausgegangen werden könnte, daß die Taufe die unverlierbare Gliedschaft in der Kirche begründet! Wie würde sich die ökumenische Christenheit verstehen, wenn ihr nicht jenes unverwechselbare Element von Öffentlichkeit eignete, welches keine bloße Tatsache, auch nicht allein eine theologische Position bedeutet, sondern vor allem einen sehr bestimmten rechtlichen Horizont und rechtliche Folgerungen einschließt! Wie würde diese Christenheit aussehen, wenn sie sich nicht von Anbeginn in konkreten, leiblich versammelten Gemeinden zusammenfände, so daß also eine abstrakte Reichsunmittelbarkeit isolierter gläubiger Individuen in ihr ausgeschlossen ist? Also gerade solche Elemente, die die reformatorischen Kirchen aufs stärkste bewegen, bestimmen von Grund auf diese rechtlichen Strukturen!
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Freilich besteht unverkennbar zwischen dem universalen Anspruch allgemeinen Kirchenrechts und dem Geltungsbereich der nachweisbaren Konsense über solches Recht eine bemerkenswerte Differenz. Gerade hier aber ist die bloße Alternative von Bejahung und Verneinung, das „Alles oder Nichts” verderblich. Es haben ja bekanntlich die großen verfaßten Kirchen von der griechischen Orthodoxie bis zum Calvinismus eine unbestrittene gemeinsame Bekenntnisgrundlage in den drei altkirchlichen Symbolen. Diese Symbole sind jedoch nicht die Basis für alle Kirchen, die im Ökumenischen Rat vereinigt sind. Trotzdem besteht evident keine frontale Antithese in dieser dogmatischen Frage. Ähnlich ist es auch in den Sätzen des allgemeinen Kirchenrechts. Gewisse Grundsätze sind von allen den — und gerade den großen — Kirchen rezipiert, die sich über die einschlägigen Fragen verbindlich geäußert haben. Viele der übrigen Kirchengemeinschaften haben diese Fragen beiseite gelassen. Die Erfahrung der Arbeit in der Faith and Order Commission on Institutionalism143 hat aber gezeigt, daß die Vertreter wesentlicher Freikirchen übe reite Strecken dann mit den historischen Großkirchen auch hier einig gehen, wenn sie auf die bisher von ihnen unbeachtete Relevanz solcher Fragen in einem geduldigen und brüderlichen Gespräch aufmerksam gemacht werden.
Ein Analogen zu dieser Lage stellen die konziliaren Aussagen über das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den getrennten Christen dar. Wenn hier zwischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften unterschieden wird, so sind bekanntlich hierfür gerade kirchenrechtliche Elemente, wie etwa die apostolische Sukzession der Bischöfe, wesentlich. Daß aber an dieser Stelle nebeneinander von Kirchen von unbestrittener kirchenrechtlicher Existenz und kirchlichen Gemeinschaften gesprochen wird, zeigt, daß diese Differenz, so wichtig sie auch genommen wird, zugleich doch weder fundamental noch radikal ist.
Für das Selbstverständnis der ökumenischen Bewegung und ihren Fortgang ist es wesentlich, ja unerläßlich, daß wir auf diese Konvergenzpunkte mit Sorgfalt achten, ohne über die Zwirnsfäden des theoretisch unlösbaren Generalienproblems zu stolpern. Würden wir die faktische Bedeutung übersehen, die diese Gemeinsamkeiten besitzen, würden wir gezwungen, unseren Ausgangspunkt von der historischen Partikularität der getrennten Kirchen so zu nehmen, daß auf Grund eines sogenannten Ansatzes, eines mehr oder minder klar umschreibbaren Vorverständnisses jeder einzelne Satz in seiner Bedeutung verändert und affiziert werden würde. Man muß also, wenn man das eine bestreitet, fast unvermeidlich das Entgegengesetzte mit nicht weniger gefährlichen Konsequenzen tun. Ich vermag freilich die oben zitierte Grundauffassung von der Universalität der Kirche als Voraussetzung aller Legitimität des Kirchenrechts denkerisch auch jetzt nicht mit der Bestreitung allgemeinen Kirchenrechts zu vereinen.
Ungeachtet der hier liegenden Gegensätze versuche ich im folgenden,
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eine gewisse Bestandsaufnahme der für mich erkennbare Sätze gemeinen Kirchenrechts vorzulegen. Dabei ist erneut auf jene Differenzierung zu verweisen, daß ein Teil dieser Sätze wesentlich im Konsens der verfaßten Kirchen steht, nämlich derjenigen, die es auf sich genommen haben, die Problematik von Kirchenverfassung bis zu einer gewissen Schlüssigkeit verantwortliche auszutragen, die es gerade deswegen mußten, weil sie als umfassende Volks- und Landeskirchen sich nicht auf Minderheiten und theologisch begrenztere Positionen beschränken. Sehr viele Versuche, diesen Problemen zu entgehen, beruhen gerade auf dem Verzicht, aber auch der Weigerung, die damit verbundene Verantwortung für die Öffentlichkeit, die Allgemeinheit des christlichen Glaubens als Angebot für jedermann wirklich durchzuhalten. Viele engere Zusammenschlüsse höchst achtbarer Christen, die aus sehr verständlichen Gründen sich von den institutionellen Großkirchen getrennt haben, leben insoweit auf Kosten derjenigen, mit denen sie nichts zu tun haben wollen, und überlassen es ihnen, die Last und Mißlichkeit dieser Aufgaben sichtbar zu tragen. Die im Nachfolgenden vorgeführten Sätze wollen also in der bezeichneten Differenzierung gelesen werden.
Es ist bei alledem nicht vermeidlich, daß bei der Formulierung bestehender Rechtsgrundsätze ein Element der Interpretation einfließt, welches sie voller auslegt, als sie vielleicht überall verstanden werden. Unvermeidlich geht diese Interpretation bis zu einem gewissen Grade auch in die Forderung über. Aber der kundige Leser wird das, was hier nicht zu scheiden ist, doch in etwa zu unterscheiden wissen.
Ein solcher Versuch bedeutet freilich auch eine Art Appell, eine dringende Erinnerung, einen Stachel für alle zukünftige Arbeit, das nicht aus den Augen zu lassen, was — im schlimmsten Fall als hypothetische Basis der Gemeinsamkeit — sich für die Zukunft als fruchtbar erweisen wird. Auch wer diese Sätze mehr oder minder weitgehend bestreiten würde, müßte doch zur Kenntnis nehmen, daß die darin beschlossenen Lebensgehalte und Probleme ihn selbst zu einer besseren und angemesseneren Gestaltung verpflichten. Tradition ist in diesem Sinne gerade nicht Bindung an Vorentscheidungen, durch die alles schon geklärt ist. Sie bringt vielmehr im Gegenteil in der vorfindlichen Gestaltung ins Bewußtsein, worum es der Christenheit schon immer gegangen ist worum es einer zukünftigen Christenheit unter ihren eigenen Bedingungen und in ihren eigenen Formen immer erneut wird gehen müssen. Man wird freilich erkennen, daß in diesen, auch wieder sehr bescheidenen Basisformulierungen ein hohes Maß von Einsicht und konkretem Gehorsam liegt, welches unsere Achtung und Aufmerksamkeit erfordert. Es wird also versucht, oberhalb der partikularen Verschiedenheiten zu formulieren. Um der Klarheit willen ist es dabei an einzelnen Punkten notwendig, die Stellen mit aufzuweisen, an denen der Grundkonsens dann wieder auseinandergeht.
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Der Konsens ist seit langem vorhanden und evident, obwohl wegen der partikularrechtlichen Betrachtung und der Vereinzelung der Sachprobleme in der Kirchenrechtslehre diese unbestrittene Rechtslage bisher kaum ins Bewußtsein getreten ist. Für die partikularen Kirchen bedeuten und erfordern solche Sätze nicht eine Änderung ihrer Grundsätze, sondern deren Präzisierung im Blick auf diese Gemeinsamkeit.
Damit gehe ich nunmehr auf die konkreten Sätze über:
I. Taufe
1. Die Taufe kann von jedem verantwortungsfähigen Menschen ohne
Rücksicht auf seinen Glauben und seine eigen Taufe gültig
vollzogen werden, sofern er dabei die Intention hat, zu tun, was
die Kirche tut, und das Wesentliche der Form beachtet
(Ketzertaufe).
2. Die Taufe ist nicht wiederholbar.
3. Die Taufe begründet die Gliedschaft in der allgemeinen Kirche.
Jeder Christ ist volles Glied der Kirche an allen Orten.
II. Gemeinde
4. Gemeinde im Sinne des Kirchenrechts ist diejenige Versammlung
getaufter Christen, in der das Evangelium dergestalt ausgerichtet
wird, daß der Christ in ihr zu jeder Zeit alles zum Heil
Erforderliche empfangen kann (Suffizienz der Gemeinde).
5. Die Gemeinde ist darauf angelegt, ständig („in der Apostel
Lehre, im Brotbrechen und im Gebet”, Apg. 2, 42) zusammenzuleben.
Dem widerspricht nicht, daß eine gottesdienstliche Versammlung im
Einzelfall im gleichen Sinne Gemeinde ist. Daraus kann jedoch der
Begriff der Gemeinde nicht im Sinne jeweiliger Aktuosität
verstanden werden (Ständigkeit der Gemeinde).
6. Jeder Christ ist gehalten und verpflichtet, sich einer
Gemeinde anzuschließen und zuzurechnen. Dieser konstitutive
Gemeindezwang ist nicht mit dem regulativen territorialen
Parochialzwang zu verwechseln (Gemeindezwang). Es gibt also keine
reichsunmittelbare Gliedschaft der allgemeinen Kirche ohne
Verweisung des einzelnen auf eine konkrete, gemeindeartige
Bindung.
7. Jeder Christ ist verpflichtet und berechtigt, nach dem Maß der
ihm verliehenen Gaben zum Dienste der Gemeinde und ihrer
Auferbauung beizutragen. Jeder Christ ist verpflichtet und
berechtigt, das Evangelium missionarisch auszubreiten (Dienst-
und Missionspflicht).
8. Christen besitzen als solche, und nicht nur hilfsweise iure
civili, Vereinigungsfreiheit. Jede Vereinigung von Christen
kirchlichen Rechts ist jedoch verpflichtet, sich zu Kirche und
Gemeinde in der Gemeinsamkeit des Dienstes in verbindliche
Beziehung zu setzen und darauf in Anspruch nehmen zu lassen
(Vereinigungsfreiheit kirchlichen Rechtes).
9. Die Kirche kann besondere Lebens- und Dienstgemeinschaften von
Christen mit bestimmter Mitgliedschaft als Gemeinden eigener Art
anerkennen und ihre Glieder vom Gemeindezwang freistellen. Die
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Gottesdienste auch solcher Gruppen sind grundsätzlich öffentlich (exemte Sondergemeinden).
III. Gottesdienst
10. Der Gottesdienst ist in allen seinen Teilen öffentlich,
sofern die Gemeinde nicht aus seelsorgerlichen und pädagogischen
Gründen noch nicht zu vollen Aktivrechten aufgenommene Mitglieder
von der Teilnahme ausschließt oder die Öffentlichkeit durch
äußeren Zwang oder Gefahr der Verhinderung unmöglich wird. Daher
sind auch Sondergottesdienste aus persönlichen Anlässen keine
Privatgottesdienste, unbeschadet der Freiheit des Christen, sich
im privaten Kreise zur Erbauung zu versammeln (Öffentlichkeit des
Gottesdienstes).
11. Die Verbindung mit dem einen gleichen Herrn und die
Allgemeinheit der Kirche verbieten nicht, sondern ermöglichen und
erlauben die Verschiedenheit gottesdienstlicher Formen, sofern
sie die unverkürzte Ausrichtung des Evangeliums ermöglichen.
IV. Amt
12. Die Ordination zum Amt der Kirche intendiert und versteht
sich als Übertragung des Amtes in der allgemeinen Kirche. Es gibt
daher nur im tatsächlichen, nicht im rechtlichen Sinne etwa
Bischöfe der römisch-katholischen, lutherischen Kirche usw. Die
Bestellung zu Verrichtungen, die auf bestimmte Personen und
Sachbereiche beschränkt ist, ist in diesem Sinne daher kein Amt
(Universalität des Amtes).
13. Die Ordination zum Amt der Kirche ist nicht wiederholbar,
auch nicht nach vorgängiger disziplinärer Aberkennung der mit ihm
verbundenen Rechte. von der Ordination ist die Einsetzung in
bestimmte wechselnde Amtsbereiche und Funktionen zu unterscheiden
(Verbot der Reordination).
14. Das Amt der Kirche ist jedem Christen — Eignung vorausgesetzt
— ohne Rücksicht auf Abstammung und soziale Herkunft zugänglich
(hinsichtlich des Geschlechts bestehen Unterschiede der
Rechtsauffassung) (Geistlichkeit des Amtes).
15. Die Ordination ist eine gemeindeöffentliche gottesdienstliche
Handlung. Sie wird im Regelfall (außer im Fall der Not oder
Verhinderung) durch mindestens drei dazu Bevollmächtigte (in
denen sich die Gesamtkirche repräsentiert) unter Gebet und
Handauflegung vollzogen. (Die Anforderungen, die an die
Ordinationsvollmacht gestellt werden, sind in den getrennten
Kirchen verschieden.)
16. Unbeschadet unterschiedlichen Verständnisses über Intention
und Weise ihres Handelns bekennt sich die Kirche zu der ihr
gegebenen Verheißung, daß in ihr konkret Vergebung der Sünden
geschehen kann (Schlüsselgewalt).
17. Die Kirche beansprucht Pflicht und Recht, aus
schwerwiegenden geistlichen Gründen Glieder mit dem Ziele
auszuschließen, sie dadurch als rechte Mitglieder
wiederzugewinnen (Schlüsselgewalt).
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18. Unbeschadet der Frage, ob und in welchem Sinne Gruppen von getauften Christen ohne Amt und bestimmte Verfassung als Formen der Kirche angesehen und erkannt werden können und müssen, sind sich die verfaßten Kirchen darüber einig, daß zu den Merkmalen der Kirche das mit ihr gestiftete apostolische Amt (in der Singularität oder der Pluralität der Ämter, in Gleichheit oder Ungleichheit) gehört.
V. Gesamtkirche
19. Eine jede Gemeinde ist gehalten, vermöge ihres Charakters als
Glied und Gliederung der allgemeinen Kirche, die Gemeinschaft mit
allen ihr erreichbaren Gliederungen zu suchen, von denen sie
nicht durch kirchentrennende Unterschiede geschieden ist
(Grundsatz der Interdependenz, Autarkieverbot).
20. Partikulare Kirchengemeinschaften können Selbständigkeit nur
insofern beanspruchen, als die Ausrichtung ihres Auftrags unter
den gegebenen realen Bedingungen dies erfordert, nicht jedoch auf
Grund der nationalen Gemeinsamkeit ihrer Glieder (Verwerfung des
Ethnizismus).
21. Die Ausübung der mit der Zugehörigkeit des einzelnen
Christen, der Gemeinde und Partikularkirche zur allgemeinen
Kirche Verbundenen Rechte wird durch die bestehenden
kirchentrennenden Unterschiede und die dadurch bedingte Aufhebung
der (vollen) Kirchengemeinschaft nur gehemmt; sie sind selbst
nicht aufgehoben. Andererseits unterliegt ihre Ausübung am
anderen Ort in der allgemeinen Kirche der wechselseitig
anzuerkennenden guten Ordnung in brüderlicher Liebe. —
Der nachfolgende Absatz VI würde gedanklich als allgemeine Voraussetzung vorzuschalten sein. Um aber den Bedenken zu entgehen, daß er vorweg Gesichtspunkte des Autors dem Ganzen auf dem Wege der Abstraktion entnimmt und zugleich unterschiebt, ist in diesen letzten Sätzen, die eine andere Qualität haben, versucht worden, eine Art Wurzel zu ziehen.
VI. Allgemeine Grundsätze
22. Alles Recht der Kirche und in der Kirche ist Dienstrecht. Es
verleiht nicht Macht, sondern an den Auftrag gebundene Vollmacht.
Diese dient der Sammlung und Sendung.
23. Die Kirche gründet sich
auf das in ihr ständig gottesdienstliche erneuerte, gelehrte und
gelebte Bekenntnis, daß Jesus Christus ihr Herr, Gott und Heiland
sei. Sie besitzt ihre Legitimation nicht ohne dieses
Bekenntnis.
24. Alle einzelnen Christen,
Gemeinden und partikularen Kirche sollen untereinander das Band
des Friedens halten und bewahren und darum auch nach Frieden mit
jedermann trachten und Frieden stiften
(Friedenspflicht).
25. Die Armen, Kranken und
Gefangenen und Verfolgten haben als die verborgenen
Stellvertreter des Herrn ein besonderes ständiges Anrecht an die
Kirche (diakonischer Charakter des Kirchenrechts).