|21|

Kapitel I

Der Systemzwang der Kirchenrechtskritik

Die Reformation ist aus geistlichen Erfahrungen entstanden, die zugleich als theologische Probleme lange und sorgfältig durchdacht worden sind. Je zentraler diese Fragen waren, desto größer auch die Wirkungen der so entstehenden Auseinandersetzung. Diese Fragen haben sich aber von vornherein mit solchen des Kirchenrechts verbunden. Es stellte sich die Frage nach den Subjekten theologischer Aussagen, nach der Verbindlichkeit kirchlichen Handelns und Legitimation. So ist über die Autoritätsansprüche des Papsttums, der Konzilien, der Bischöfe gestritten worden. Bei alledem bestand innerhalb der Streitlage ein tiefgreifender Unterschied. Die Lehrtradition der Kirche in Gestalt von Patristik und Scholastik, in denen die nur strittig gewordenen Fragen sämtlich schon verhandelt worden waren, waren den beteiligten Theologen im großen Ganzen bekannt, in den Bibliotheken der Klöster und Universitäten greifbar. Anders stand es mit den kirchenrechtlichen Fragen. Auch hier waren zwar die Kompendien des päpstlichen Rechts vorhanden, und Luther hat bekanntlich eine gezielte, zeitlich und damit sachlich begrenzte Auswahl dieser Texte als schriftwidrig verbrannt.25 Trotzdem fehlte auch der zeitgenössischen Kanonistik, geschweige denn der Ordens- und Fakultätstheologie eine umfassende Kenntnis der damit verbundenen historischen und systematischen Probleme. Von einer geschichtlichen Erforschung konnte vollends nicht die Rede sein. Die bruchstückhaften Zitate, mit denen auf diesem Gebiete gekämpft wurde, zeigen die Unvollständigkeit dieses Wissens. Gekämpft wurde im großen Ganzen unter Berufung auf den rechtliche status quo, den Endertrag der Entwicklung und Tradition, dessen Legitimität wieder theologisch bestritten wurde. Dieser Lage hat jedoch nicht angedauert. Schon sehr bald ergab sich die Notwendigkeit genauerer Erforschung der Kirchen- und Dogmengeschichte. Flacius auf der lutherischen, Baronius auf der katholischen Seite waren markante Träger dieser Arbeiten. Diese Bemühung ist dann nicht mehr abgerissen, hat aber erst in der Moderne umfassenden und im strengen Sinne wissenschaftlichen Charakter gewonnen. Man kann diesen Vorgang mit der Kriegsgeschichte vergleichen. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts traf man sich auf strategisch wichtigen Schlachtfeldern und versuchte, sich durch frontalen Angriff oder Umgehung zu besiegen. Erst in unserem Jahrhundert entwickelten die streitenden Heere durchgehende Fronten über hunderte von Kilometern bis zu geographischen Hindernissen oder politischen Grenzen, um Durchbruch oder Überflügelung auszuschließen. Ein ähnlicher Vorgang hat sich auch in der konfessionellen Auseinandersetzung abgespielt. Das Eindringen des Entwicklungsgedankens —

|22|

qualitativ — und die Aufdeckung eines bis dahin unbekannten riesigen historischen Stoffs — quantitativ — ließ zusammenhängende, historisch reflektierte Positionen entstehen. Man übersah nunmehr die ganze Kirchengeschichte. Man konnte und mußte sie vorwärts und rückwärts mitbedenken, wenn man zu gegenwärtigen Streitfragen Stellung nehmen wollte. Aus den genannten Gründen ist die Ausdehnung dieses Wissens auf der kirchenrechtlichen Seite noch wesentlich wichtiger geworden als im Bereich des dogmatischen Streits. Wer jetzt Stellung bezog, mußte sein Urteil zu der Gesamtentwicklung von Kirchenrecht und Kirchenverfassung in Beziehung setzen.

Andererseits ist die eingetretene methodische Lage als solche kaum bedacht worden. Die streitenden Theologen verhalten sich immer noch wie ein älteres Heer ohne einen Generalstab, in dem die Erfahrungen und Reflektionen der Kriegswissenschaft und Kriegsgeschichte präsent sind und nutzbar gemacht werden. Sie wiederholen immer von Neuem die partikularen Auseinandersetzungen wie ehedem die Heere, die an Ort und Stelle von einem Befehlshaber gelenkt wurden.

Dabei ist die methodische Lage der Beteiligten ganz wesentlich verschieden. Der Katholizismus verbindet Offenbarungspositivismus mit Geschichtspositivismus. Er verlegt die legitimen Wurzeln seiner jetzigen Gestalt mit konsequenter Positivität in die Basisaussagen des Neuen Testaments (beispielsweise Matth. 16, 18). Er behauptet ebenso, daß die geschichtliche Entfaltung bis zur heutigen Gestaltung des Primats in wesentlichem diesen Ursprüngen und deren Zielbestimmung entspreche. Er rechtfertigt vor allem die wesentlichen Kontingenten Entscheidungen der Geschichte, die nicht als begrifflich notwendig gefordert und abgeleitet werden können, die aber — so oder so — getroffen werden müssen. Er schließt Mängel der Gestaltung, eine Schwankungsbreite und Verbesserbarkeit der Interpretation nicht aus, verneint aber in jedem Falle und in jedem Sinne einen Bruch in der Entwicklung. Daraus entsteht vor allem im praktischen Gebrauch ein gewisser Maximalismus. Dieser bejaht die vorhandenen Gestaltungen und hält sich damit zugleich Raum für deren zukünftige Abwandlung frei, ohne für eine prinzipielle Kritik Raum zu geben. Er hat dabei eine Methodik entwickelt, auch wesentliche Änderungen ohne Preisgabe des Prinzips und ohne zugestandenen Gesichtsverlust durchzuführen.

In einer entgegengesetzten methodischen Lage befindet sich der Protestantismus. Ohne in negativer Verallgemeinerung traditionsfeindlich zu sein, hat er mit dem Prinzip der Tradition den Gesamtbestand des gewordenen Rechts der Kirche in Frage gestellt. Er hat dann unternommen, die für die Kirche notwendige und ihr eigentümliche Rechtsordnung von Neuem aus der Schrift zu entwickeln und sich zugleich dem Grundsatz unterworfen, daß diese Ordnung jeweils neuen Erkenntnissen der Schriftauslegung ausgesetzt werden müsse. In der historischen Sicht

|23|

ist dies aber entgegen der Situation des 16. Jahrhunderts nur dadurch zu begründen, daß von irgendeinem Zeitpunkt an eine grundsätzliche Fehlentwicklung der Kirchenrechtsgeschichte anzunehmen sei. Es genügte nicht, dieses oder jenes Institut des Kirchenrechts als schriftwidrig abzulehnen. Man mußte nunmehr die Entwicklung bezeichnen und begrenzen, die diese Bildungen hervorgebracht hatte. Infolgedessen war jeder Versuch, historisch und dogmatisch die kirchenrechtliche Position der reformatorischen Kirchen zu bezeichnen, nunmehr mit innerer Notwendigkeit an die gleichzeitige Ausbildung einer Abfalltheorie gebunden. Da aber diese Konzeption nicht an die historische Positivität einer vorfindlichen legitimen Kirche anknüpfte, sondern diese Legitimität jeweils zu begründen sich verpflichtet sah, mußte jeder hier sich äußernde Theologe seine eigene Abfalltheorie ausbilden und damit seinen historischen Standort bezeichnen. Jeder mußte eine Art Gesamttheorie der Kirchengeschichte produzieren. Diese methodische Lage hat die größten Mißlichkeiten mit sich gebracht. Die einen taten sich durch Radikalität hervor und behaupteten, daß schon in der Mitte der kanonischen Texte die verderblichen Ansätze des Katholizismus zu finden seien. Die anderen empfahlen sich durch sorgfältige Abwägung der für die Kirche wesentlichen und unvermeidlichen institutionellen Elemente und versuchten, sie von anderen, fragwürdigen zu unterscheiden. Die einen kamen in die Schwierigkeit, bei einer so radikalen Infragestellung überhaupt noch den historischen Boden, die denkerisch und praktische Möglichkeit für die Bildung des geschichtlichen Kirche freizulassen. Sie setzten sich dem Vorwürfe auch säkularer Kritiker aus, daß sie vor der Geschichte schlechthin und erst recht vor der Geschichte der Kirche ausgewichen seien. Die vorsichtigeren Exegeten dagegen brachten sich in die Schwierigkeit, bei ihren subtilen Unterscheidungen überhaupt noch durchgreifende Gründe zu bezeichnen, die zu so schwerwiegenden und verhängnisvollen Fehlern führen konnten. Je verwickelter der Tatbestand wurde, desto unschlüssiger wurde das negative Urteil.

Zwar wurde anerkannt, daß die Theologie des Neuen Testaments oder die in ihr vereinigten differenten Theologien der einzelnen kanonischen Verfasser jeweils mit einer bestimmten Konzeption von Kirche verbunden gewesen seien. Aber wie hätten sie real ausgesehen? Die tatsächlich entstandene Kirche des sogenannten Früh- oder Altkatholizismus wurde auf alle Fälle bereits als Zustand gründlicher Abweichung verstanden. Diese Kirche aber, die angeblich bereits vermöge eines verhärteten Geistbegriffs und falscher Institutionalisierung des Amtes auf die schiefe Ebene geraten war, überstand die Stürme der Verfolgung, und ihre hierarchischen Repräsentanten vermochten von 325 bis 451 die orthodoxen Bekenntnisse, die monumentale altkirchliche Trinitätslehre und Christologie zu formulieren. Eine auf Grund eines falschen Geisterglaubens häretisch verfaßte Kirche war also für ihre eigenen Kritiker orthodox.

|24|

Dieser Widerspruch beruht auf einer Rückwärtsprojektion von Anschauungen, die erst ein Jahrtausend später überhaupt möglich gewesen sind — eben die Trennung von Lehre, Liturgie und Recht.

Aus dieser Lage hat der namhafteste Autor, Rudolf Sohm, den bequemsten, zugleich aber verfehltesten Ausweg genommen. Mit seiner spektakulären Formulierung von der Unvereinbarkeit von Kirche und  Recht geriet er mit einer Fülle rechtlich relevanter Schriftaussagen in Konflikt und schnitt zugleich die Möglichkeit geschichtlicher Kirchenbildung an der Wurzel ab. Die formale Radikalität seines Standortes hat dieser These ihre große Wirkung verschafft. Sie beruht im Grunde darauf, daß sie sich auf die bezeichnete Sachlage erst gar nicht einläßt. Die umgekehrte Position aber bezog der bekanntermaßen sehr emotional und in radikalen Umschlägen sich äußernde Sohm durch weitgehende, wenn auch nicht vorbehaltlose Anerkennung des altkatholischen Kirchenrecht als einer bedeutsamen Lösung.

Diese beiden, beinahe kontradiktorischen Theorien Sohms, sind kaum diskutiert worden. Erörtert wurde immer nur die eine, welche der negativen Tradition und dem antijuristischen Vorurteil entgegenkommt. Der erstaunliche Tatbestand gegensätzlicher Urteil des bedeutendsten Gewährsmannes wurde nicht beachtet. Während man die nachgeschriebenen, in sich nicht voll durchredigierten Vorlesungen beachtete, ließ man das geschlossene posthume Werk außer Betracht. Das hat dazu geführt, daß der unbestrittene Bestand älterer kirchenrechtlicher Bildungen (Bischofsamt, Synodalwesen, Ordinationsrecht usw.) als eine Anhäufung einigermaßen konvergenter Einzelbildungen aufgefaßt wurde, gerade nicht aber als das von Sohm ermittelte, auf dem Geisterglauben und der Sakramentalität der Kirche aufruhende System. Weil man Recht wesentlich als Normativität verstand, setzte man sich mit dem ganz anderen Geist dieses Systems (dessen Kohärenz und Folgerichtigkeit ja hätte bestritten werden können) gar nicht erst auseinander. Während kundige Darsteller sogar dem heutigen orthodoxen Kirchenrecht im Gesamtleben der Ostkirche und mit diesem „eindrucksvolle Geschlossenheit” bescheinigen26, wird der gleiche Tatbestand für die ältere Kirche nicht einmal erwogen.

Dabei hat Sohm27 diesem System — in seiner gedanklichen Vollendung durch Gratian — die außerordentlichste Laudatio gewidmet, welche die Wissenschaftsgeschichte kennt:

„Den Inhalt des gesamten unermesslichen kanonistischen Stoffes wußte er durch ein Wort auszudrücken und zu beherrschen. Dies Wort lautete: das kanonische Recht ist Sakramentsrecht. … Alles kanonische Recht handelt von Gott, von dem Geheimnis seines Lebens in der Christenheit.
Mit diesem einen Wort bändigte er die Rechtssätze, so daß sie sich von selber zu einem wissenschaftlichen Systeme ordneten. … Als Ganzes genommen ist sein Werk von vollendeter systematischer Kunst.

|25|

In seinem System des kanonischen Rechts entwickelt Gratian den Begriff des kanonischen Rechts. Höhere systematische Leistung gibt es nicht. Das Wesen des behandelten Gegenstandes ist zum Gesetz seiner künstlerischen Gestaltung geworden. Die Idee, die der Stoff selber in sich trägt, ist befreit und in die Herrschaft über die Gesamtdarstellung ein gesetzt, so daß in allen Einzelheiten, in jedem Tropfen des Ozeans der Rechtssätze das Licht des Geistes sich widerspiegelt, der das Ganze geschaffen hat.
In dem Augenblick aber, als Gratian sein Werk vollendete, war das von ihm behandelte kanonische Recht bereits zum Untergang bestimmt.”

Unwillkürlich ist sie zur Laudatio seines eigenen Werkes geworden. Denn sein eigenes Verdienst ist es, den Gesamtzusammenhang, den Systemcharakter sowohl in der Kirchenrechtsgeschichte des ersten Jahrtausends wie im Decretum Gratiani erkannt und dargestellt zu haben.

Freilich hat er selbst die Kirchenhistoriker dazu verleitet, sein Lebenswerk zunichte zu machen. Hätte er diesen letzteren Standpunkt folgerichtig durchgehalten, so hätte er sich etwa auf den Standpunkt eines mittleren Anglikanismus stellen können, der — weder hochkirchlich noch evangelikal — den umfassenden Charakter des älteren pneumatischen Kirchenrechts und die Tradition des Bischofsamts und der drei Ämter zu bewahren trachtet.

Aber auch diese Konsequenz hat er nicht gezogen: die unvermeidliche Abfalltheorie wurde in der These erneuert, daß die Kirche auf alle Fälle, wenn nicht schon zu Anbeginn, so doch ausgangs des ersten Jahrtausends nach dem Scheitern des Altern Kirchenrechts ihr Heil in einer körperschaftsrechtlichen Verfassung, das heißt einer ungeistlichen Selbstbehauptung mit den weltlichen Mitteln eines klug geleiteten Gemeinwesens gesucht habe.

So mußte er der anschließenden geschichtlichen Entwicklung ein theologisch legitimes Motiv bestreiten. Er fand nicht mehr an der Stelle der kirchenrechtlich ausgemünzten Geistlehre ein anderes tragendes theologisches Prinzip. Vielmehr schlüpfte nunmehr durch die imitatio imperii die Kirche als Subjekt in die Hülle der römischen Rechtstradition. Eine falsche, gesetzliche, dem Verdienstgedanken und der Selbstmächtigkeit des Menschen verfallene Theologie führt in eine grundsätzliche Verweltlichung, die das negative Urteil rechtfertigte. Diese These steht in der Kette der bei allen säkularen Kirchenkritikern sich immer wieder erneuernden und bei Oswald Spengler zur Methode erhobenen Pseudomorphosentheorie. Die Kirche kippte gleichsam in ihre Gegenteil, das weltliche Regiment um, und konnte dann theologisch bei Radikalisierung der Argumentation als Antichrist definiert werden. Die Reste dieser Abfalltheorie hat erst in unserer Zeit Karl Barth an mancherlei Stellen, zuletzt ausdrücklich in seiner kleinen humorvollen Schrift „Ad limina apostolorum” beerdigt.

|26|

Bei alledem ist niemals erkannt worden, daß der Versuch einer Abfalltheorie als historisches Gegenbild und schlüssiges Urteil über die Entwicklung methodisch unmöglich ist. Der Vorgang ähnelt dem Phänomen der Naturrechtslehre. Auch das Naturrecht beruht auf der Bestreitung der Tradition als Legitimationsprinzip und zugleich dem Versuch, Basisgrundsätze zu entwickeln, von denen aus die positiven Rechtsordnungen zu kritisieren und zu regulieren seien. Das Naturrecht, die ständige Hinterfragung des positiv-historischen Rechts kann jedoch die Positivität der Rechtsordnung in keiner Weise ersetzen. Sie will das, recht verstanden, auch nicht — trotzdem bleibt ihre bekannte Crux immer die Geschichtlichkeit des Rechts einerseits und seine Positivierung andererseits. Sie ist ein kritisches, kein konstruktives Prinzip. Die Schwierigkeit der Abstraktion solcher Generalsätze verbindet sich mit der Notwendigkeit, die Geschichtlichkeit jeder Gestaltung angemessen zu berücksichtigen. Ein Naturrecht zu produzieren ist verhältnismäßig leicht. Man hat für eine gewisse Zeit gespottet, daß jede Buchmesse ein neues Naturrecht bringe — in krassem Gegensatz zu dem Anspruch und der Aufgabe, allgemeingültige und damit auch zeitlose Grundsätze nachzuweisen. Dabei kann das Naturrecht den Rechtsbegriff nicht aufgeben, kann also die Menschheit nicht in eine außerrechtliche Formlosigkeit und paradiesische Harmonie verweisen. Es muß den Platz und den Rang der notwendigen Positionierung des Rechts und seiner konkreten Verbindlichkeit offenhalten, wenn es nicht sich selber seines Gegenstandes berauben will. Damit ist aber jeweils der Übergang in eine andere Form gegeben, in die das Naturrecht selber niemals gebracht werden kann.

Dieser Vergleich zeigt, daß die reformatorische Kritik vermöge der Reduktion auf bloße Grundsätze keine vergleichbare Gegenposition, sondern ein anderes genus, eine andere Anschauungsart darstellt. Auch sie kann und will auf den Begriff der Kirche und ihr geschichtliches Recht nicht verzichten. Auber auf diese beschriebene Weise kann zwischen der Positivität der historischen Kirche und ihrer Kritik zulänglich nicht vermittelt werden. Dies ist vielmehr erst dann möglich, wenn die Träger dieser Kritik durch sie hindurch die Last der eigenen Gestaltung auf sich nehmen. Erst dann werden sie vor die ekklesiologischen und soziologischen Realitäten gestellt, welche in der kritischen Theorie nur allzu leicht unter den Tisch fallen. Vor allem aber müssen sie dann selbst sich zu ihrem historischen Standort bekennen. Dieser Standort aber kann niemals der Standort der Zeit sein, aus dem diese Kritik ihre positiven Maßstäbe zu beziehen beansprucht. Reformatorische Kritik ist daher nur dann kommensurabel, wenn sie transformatorisiche Neugestaltung wird. Wie wenig sich aber die Ekklesiologie der reformatorischen Kirchen auf dieses Problem eingelassen hat, zeigt die Kritik Ebelings, wonach diese Kirchen mit ihrer eigenen Tradition nicht fertiggeworden sind. Dies beruht auf der Strukturdifferenz zwischen Naturrecht und geschichtlichen Recht.

|27|

Tatsächlich haben sich aber auch die Reformatoren wesentlich anders verhalten, als ihre eigene kritische Theorie hätte annehmen lassen. Sie haben niemals versucht, die hochgelobten paulinischen Geistgemeinden mit der Vielfalt institutionell ungeordneter Geistbegabungen zu erneuern. Sie haben einerseits die Verfassung der Kirche aus dem „Wie” einer vielfältigen historischen Gestaltung auf das zirkuläre Verhältnis von Amt und Kongregatio, institutionell auf das bloße „Daß” des Amtes der Verkündigung reduziert, dessen Vorhandensein für Luther wie für Calvin der einzige kirchenrechtliche Satz gewesen ist, dem sie die Qualität des ius divinum uneingeschränkt zubilligten. Von dieser, der urkirchliche Situation ganz unvergleichlichen Position haben sie dann die Kirchenverfassung iure humano gestaltet. Dabei sind sie freilich dann wieder sehr gegensätzlich verfahren. Die lutherische Seite ist der naturrechtlichen Methode insofern treu geblieben, als sie alle anderen Bildungen außerhalb des Amtes als variabel und funktional verstanden hat. Vermöge dieses permanent kritischen Charakters verlagert sich die ganze Dignität des positiven Rechts und die gesamte positiv gewertete Geschichtlichkeit in den Raum der weltlichen Ordnung.

Der Calvinismus hat hier weniger denkerisch konsequent gehandelt als in der Erwählungslehre. Er reduzierte zwar das ius divinum auf das eine Predigtamt (so entschieden Calvin, insoweit in voller Übereinstimmung mit Luther), rezipierte aber eine reiche Fülle ordentlichere und außerordentlicher Ämter nach biblischem Vorbild als Programm und gute Tradition. Vermöge dieser entscheidenden Positivität der Amts- und Synodalverfassung kehrte sich die naturrechtliche Kritik nicht ständig gegen die Kirche selbst, sondern entschieden gegen die weltliche Ordnung, mit der rigoristischen Tendenz, ihr die Kirche als Vorbild vorzuhalten. Rechtspositivismus und naturrechtliches Denken verhalten sich wie Standbein und Spielbein: man steht immer nur auf einem und bewegt sich mit dem anderen, und zwar wechselweise. Die permanente Kirchenkritik und die Reduktion des positiven Kirchenrechts hat die Einen zur Staatskritik unfähig gemacht, und der in vieler Hinsicht naive Ämterbiblizismus hat den Anderen die Freiheit zur kritische Distanz zwischen Kirche und Staat bewahrt. Beide Alternativen sind von weltgeschichtlicher Wirkung gewesen. Aber beides zugleich konnte und kann man nicht haben.

Der eine Systemzwang der Kirchenrechtskritik besteht also in der unausweichlichen Wahl zwischen positivistischer und naturrechtlicher Haltung. Der andere Zwang besteht darin, schlüssig erklären und in die Geschichte einzuordnen, was man selbst nicht ist und nicht sein will. In diesem Zwang zeigt sich die Universalität und die Einheit der Kirche als eines gemeinsamen Rechtskreises, in dem alle Erscheinungen aufeinander verweisen und von einander abhängig sind.

Die katholische Kirche hat es gegenüber jenem Systemzwang formal gesehen am einfachsten. Sie hat aber zugleich die größte historische

|28|

Beweislast zu tragen. Sie begnügt sich damit, unterschiedliche Grade der Defizienz, der grundsätzlichen Mängel bei den von ihr getrennten Kirchen festzustellen. Ihre heutige kirchenrechtliche Position läßt sich in zwei Cannes der vorliegenden Entwürfe zur Lex Ecclesiae Fundamentalis klar umreißen. Kanon 9 des Entwurfs28 definiert die Bedingungen der vollen Kirchengemeinschaft wie folgt:

„Ad plenam communionem cum Ecclesia requiritur:
1. Communio in una fide, quae expostulat ut qui baptismum receperunt omnes veritates profiteantur a Christo Domino revelatas, quas per Ecclesiam acceperunt.
2. Communio sacramentorum quae quidem ex institutione Christi sunt symbola rei sacrae et invisibilis gratia formae visibiles.
3. Communio in regimine Ecclesiae, per episcopos, Apostolorum successores, qui cum successore Petri, totius Ecclesiae visibili Capite, ad Populum Dei regendum a Spiritu Sancto positi sunt.”

Es ist eine aus der Constitutio Lumen Gentium gezogene, sachlich einer Definition des Kardinals Bellarmin entsprechende Formel.

Die Existenz der getrennten Kirchen will ein Kanon des Entwurfs Mörsdorf29 wie folgt rechtlich erfassen:

„In quadam communione cum Ecclesia catholica variis modis inveniuntur etiam Ecclesiae et Communitates ecclesiales, ab ipsa decursu temporum seiunctae, quae in Christum Dei Filium credentes atque baptismum rite administrantes, tamen alia necessaria media salutis atque Ecclesiae divinam constitutionem imperfecte, licet etiam diversis gradibus, acceptant et custodiunt.”

Der Heidelberger Alternativ-Entwurf hatte eine andere Fassung (Kanon 2 § 4):

„Ecclesia Catholica agnoscit communionem, etsi nondum perfectam, inter se et alias Ecclesias aut communitates ecclesiales christianae exsistere seseque una cum illis ex mandato Christi teneri ad plenam unionem instaurandam.”

Die Entwürfe Mörsdorf und Heidelberg nehmen im Grundsatz den Gedanken der relativen Anerkennung auf, der in meinem Referat vor dem Internationalen kanonistischen Kongreß der Universität Rom erörtert worden ist.30

Daß die römische Kirche nicht katholisch genug gewesen war, um die in der Reformation aufbrechenden, durch ihre eigene Geschichte provozierten Kräfte in sich zu verarbeiten und zu integrieren, hat sich die Kirche zwischen Trient und dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht allzu schwer gemacht. Ranke31 sagt über das Ergebnis des Trienter Konzils in seiner getragenen Sprache:

„Die katholische Kirche erkannte ihre Beschränkung an: auf die Griechen und den Orient nahm sie keinerlei Rücksichten mehr; den Protestantismus stieß sie mit unzähligen Anathemen von sich. In dem

|29|

früheren Katholizismus war ein Element des Protestantismus einbegriffen; jetzt war es auf ewig ausgestoßen. Aber indem man sich beschränkte, konzentrierte man seine Kraft und nahm sich in sich selber zusammen.”

Nach dem Sturm der gescheiterten Reformen des 15. und der Reformation des 16. Jahrhunderts überlebt die Kirche durch eine solche engere Zusammenfassung. Wie der Puritanismus dem Old merry England ein Ende bereitet hat, so auch die Gegenreformation der Weite des mittelalterlichen Katholizismus.

Ist die positive Beweislast der römischen Kirche am größten, so die negative des Protestantismus. Sie liegt darin, daß sie drei Viertel der gegenwärtigen Christenheit und zugleich drei Viertel der Geschichte der Christenheit nicht als legitime Verwirklichungen der Kirche anerkennt. Zugleich treten durch das ständige und grundsätzliche Außenstehen wissenssoziologisch erkennbare methodische Verzerrungen ein. Die Inhalte der Darstellung und des Urteils werden vergegenständlicht, womöglich in Potenzierung gerade der dem anderen Teil vorgeworfenen Vergegenständlichung; sie werden zugleich vereinzelt und aus ihrem Zusammenhang herausgelöst. Ex nunc werden Urteile gefällt, die ex tunc fragwürdig sind. Verlorengegangene Dimensionen der Frömmigkeit und geistlichen Erfahrung können nicht einfach rational und interpretativ wieder erschlossen werden.

Eine dritte, wiederum unvergleichbare Position auf diesem Felde nimmt die orthodoxe Kirche ein. Auch sie verbindet Offenbarungspositivismus und Geschichtspositivismus in dem beschriebenen Sinne. Sie betrachtet die bis zum Ausgang des ersten Jahrtausends erwachsene Form der Kirche als kanonische Ordnung, in Übereinstimmung mit der bis zum achten ökumenischen Konzil von Nicaea II. (787) in der ungeteilten Kirche rezipierten Lehre. Auch sie muß daher eine typische Abfalltheorie entwickeln. Abgefallen ist für sie die römisch-lateinische Kirche, die damit die Tradition der Kirche verlassen und die materiale Einheit der Kirche gesprengt hat. Dieser Abfall wird gesehen in Jurisdiktionsprimat, in der Aufgabe der Kollegialität, in der rationalen Begrifflichkeit der scholastischen Theologie, die den Geheimnischarakter der Kirche zerstört wie überhaupt in dem diskursiv-normativen Denken der Westkirche in Lehre und Recht. Als Abfall erscheint aber auch in dieser Linie die Reformation und der gesamte Protestantismus. Sie bilden nicht die Korrektur, sondern die verderbliche Konsequenz der römisch-lateinisch-westlichen Abirrung in subjektivistischer Form.

Durch diese Position hat sich die Ostkirche selbst von den geistigen Entwicklungen des II. Jahrtausends ausgeschlossen, die wesentlich in der lateinischen Kirche ihren Ort gefunden haben. Auch ihre Theologie hat sich weitergebildet; aber so wie die Kirche selbst mangels ökumenischer Einheit nicht mehr in Anspruch nimmt, dogmatische und kirchenrechtliche Beschlüsse mit gesamtkirchlicher Verbindlichkeit zu fassen, so hat auch

|30|

ihre eigene Fortentwicklung nurmehr partikularen Charakter ohne bedeutende Einwirkung auf die übrige Kirche. Während die östliche Theologie im ersten Jahrtausend an Aussagekraft und innerer Bewegung die lateinische eher überwog, ist jetzt der Antrieb der Geschichte und die Last der Fortbildung auf die lateinische Kirche übergegangen.

Auch die Ostkirche hat sich kirchenrechtlich fortentwickelt, aus dem Patriarchatssystem ist mit und ohne Willen ein Bund autokephaler Nationalkirchen geworden. Sie hat das offene System der alten Kirche mit dem Grundsatz der pneumatischen Rezeption und die liturgische Form der Akklamation kirchenrechtlicher Akte festgehalten. Aber schon für die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends hat Loening32 vergleichend festgestellt, daß der Grundsatz der Gemeindewahl der Bischöfe in der Westkirche in höherem Maße praktisch bewahrt worden war, als gerade im Osten. Die Ostkirche ist heute wesentlich eine bischöfliche Kirche. Die tatsächliche Stellung des Pfarrklerus und der Gemeinden ist in ihr schwach und wenig bedeutend. Andererseits hat sich das Ineinander von sakramentaler Frömmigkeit, orthodoxer Lehre und kanonischer Ordnung so lebendig bewahrt, daß auch die Gemeinden diese Einheit voll in ihre Loyalität aufgenommen haben. Das praktische und subjektive Verhältnis der orthodoxen Gläubigen zu ihrem Kirche ist handgreiflich ein wesentlich anderes als in de lateinischen Kirche. Dies beruht darauf, daß dieser Klerus den Gemeinden niemals mit dem Anspruch des ständigen Gewissensrichters gegenübergetreten ist. Infolgedessen kann man sagen, daß bis heute das orthodoxe Kirchenvolk nicht nur der Hüter des orthodoxen Glaubens, sondern auch der orthodoxen kanonischen Ordnung der Kirche geblieben ist.

Aus dieser Lage erklärt sich auch das ständige Mißverständnis, dem die orthodoxe Position im Bereich des Protestantismus ausgesetzt ist. Dieser meint zu Unrecht, daß die Übereinstimmung in der Kritik an der Papstkirche zugleich auch eine Übereinstimmung in den Auffassungen und Zielvorstellungen bedeute. Dies ist völlig falsch. Der Protestantismus ist deswegen für die Orthodoxie indiskutabel, weil er die kanonische Tradition der Kirchenverfassung und deren integrale Verbindung mit der Lehre aufgegeben hat. Eine ständige Kritik an der kanonische Ordnung der Kirche, ein ständiger Regreß auf Grundlagen und Grundsätze ist mit dieser Haltung unvereinbar.

Die Kehrseite dieser Haltung ist, daß die Orthodoxie sich auf diese Weise dem Fortgang der Geschichte entzogen hat. Nicht einmal ihre eigene Position ist für den nichtorthodoxen Christen in dem erforderlichen Maße zu bestimmen. Ich habe wiederholt unternommen, lateinischen Christen die Position der Orthodoxie in Lehre und Recht zu verdeutlichen. Die Richtigkeit meiner Darstellung wurde von anwesenden Orthodoxen auch anerkannt. Trotzdem wurde mir dann gelegentlich gesagt, dies sei zwar richtig, aber trotzdem nicht orthodox. Diese Haltung

|31|

einer irrationalen Unzugänglichkeit erinnert an ein Wort Goethes in seinem Kommentar zum west-östlichen Diwan, wo er sagt: „Wenn ihr an diesen erhabensten Geistern teilhaben wollt, so müßt ihr euch selbst orientalisieren; der Orient wird nicht zu euch kommen.” Man müßte also, um die Orthodoxie recht zu verstehen, erst selbst orthodox werden. Diese Haltung ist feilsch nicht allein eine solche der Ostkirche. Man kann sie auch in dem eine Strecke weit geistesverwandten Luthertum aufzeigen. Seit den Unionen zu Anfang des 19. Jahrhunderts befinden sich die konfessionslutherischen Landeskirchen in Deutschland in einer Haltung der Abwehr für ihren integralen Konfessionsbestand. Oftmals lassen sich die Voraussetzungen und Intentionen dieser Haltung begrifflich und inhaltlich in keiner Weise mit Bestimmtheit umschreiben; soweit sie erkennbar sind, gehen sie sogar beträchtlich auseinander. Hier gibt es offenbar eine irrationale Gemeinsamkeit und einen Vorbehalt des integralen Selbstverständnisses, an dem man nur teilhaben kann, wenn man sich selbst vorbehaltlos in diese Gemeinschaft hineinbegibt. Dann aber braucht sie nicht mehr verbindlich artikuliert zu werden. Damit ist aber zugleich jede unmittelbare und konkrete theologische Auseinandersetzung unmöglich gemacht; es wird allzusehr mit vorgeschobenen oder unzulänglichen Argumenten gekämpft.

Die beschriebene Situation ist von  hoher Bedeutung für die Entwicklung des orthodoxen Kirchenrechts. Dieses befindet sich nach wie vor objektiv in der archaischen Form einer großen Sammlung einzelner, systematisch gegeneinander nicht vermittelter Konzilsbeschlüsse. Sie bilden zwar, vor allem auch hinsichtlich ihres verfassungsrechtlichen Gehalte durchaus ein sinnvolles Gesamtsystem; ein solches ist aber aus ihnen niemals entnommen und formuliert worden. Im Gegenteil. Wo dies geschieht, zeigt sich unwillkürlich eine Veränderung des Stils und der Begrifflichkeit, von der nicht auszumachen ist, ob sie noch dem ursprünglichen Geiste entspricht oder eine Anleihe beim lateinischen Kirchenrecht darstellt. Diese Problematik zeigt schon die einzige in deutscher Sprache erschienene originale Gesamtdarstellung des orientalischen Kirchenrechts, diejenige des Bischofs Milasch von Zara.33 Die romfreien orthodoxen Kirchen haben der römischen Kirche immer vorgeworfen, daß diese die unierten orientalischen Kirchen latinisiere und diese selbst haben sich Jahrhunderte hindurch gegen solche Tendenzen gewehrt. Erst spät hat die römische Kirche selbst die Verderblichkeit einer solchen Haltung erkannt und die gemachten Fehler zugestanden. Aber auch nach dieser Erkenntnis besteht heute ein offener Streit darüber, ob und wieweit die von Pius XII. erlassenen Teilgesetzte eines Codex Orientalis wiederum und immer noch eine Latinisierung des orientalischen Kirchenrechts enthalten.

Nun besteht heute die Absicht, im Zusammenhang mit der geplanten panorthodoxen Synode auch den Versuch der Bildung eines orthodoxen Codex Iuris Canonici zu machen. Bei dieser Gelegenheit soll die Zahl

|32|

überholter altkirchlicher Kanones abgestoßen, der noch verbindliche Bestand überprüft und übersichtlich zusammengefaßt werden. Die Vorarbeiten für dieses schwierige Unternehmen sind noch nicht weit gediehen.34 Bei einem solchen Unternehmen würde jedoch unvermeidlich die Ausbildung einer Rechtsbegrifflichkeit und damit einer Rationalisierung des Rechtsbestandes erfolgen, welche zu denselben Fragen führen muß, die sich bei dem Buch des Bischofs Milasch ergeben haben. Andererseits ist dieser Versuch eine unausweichliche Probe auf die Fähigkeit der Ostkirche, sich in der gegebenen Situation zu bewähren, und ihr Erbe für ihre eigenen Gläubigen wie für die gesamte Kirche aufzuschließen und zu vertreten.

Das Grundsätzliche dieser Haltung wird auch an den Problemen der sogenannten westlichen Orthodoxie deutlich. Unter diesem Begriff faßt man die romfreien bischöflichen Kirchen lateinischer Tradition zusammen, also die anglikanische Kirchengemeinschaft und die in unterschiedlicher Stärke in Europa und Nordamerika verbreiteten Altkatholiken. Sie stehen gemeinsam, wie die Orthodoxie, auf der altkirchlichen Lehrtradition der ersten acht Konzilien und bewahren unter Ausschluss des päpstlichen Jurisdiktionsprimats die bischöfliche Kirchenverfassung als essentiellen Grundsatz. Der damit verbundenen Ausschließung von der theologischen Entwicklung des zweiten Jahrtausends entspricht es, wenn man hat urteilen können, „der Anglikanismus sei im Prinzip diejenige Form des Christentums, die am wenigsten in der Theologie gebildet sei”. Wenn dieses Urteil des Konvertiten van de Pol auch durch ein affektives Element getrübt ist, so muß man doch Gassmann zustimmen, der „auf das fast völligen Fehlen einer intensiven wie auch extensiven systematisch-theologischen Arbeit in dieser Kirche” hinweist.35 Dieses Fehlen entspricht aber dem Ausweichen vor den Entwicklungen, die dann zugleich auch die Voraussetzung der Kirchenspaltung mit sich gebracht hat. Englischer Humor konnte die Lage so ausdrücken, daß im 16. Jahrhundert sich das Papsttum von der englischen Kirche getrennt habe. Aber dieser Scherz drückt folgerichtig die traditionalistische Grundhaltung aus; im 16. Jahrhundert wurde die Veränderung der altkirchlichen Tradition manifest und trennend wirksam, für die nicht die Kirche von England, sondern ihr Motor, das Papsttum, verantwortlich war. So konnte man in einer vermittelnden Comprehensivness, in einem breiten Spektrum von Anglokatholizismus bis zu den Evangelikalen eine Einheit darstellen, in der die Lehre nur ein Teil, das gemeinsame geistliche Leben alles war. Diese Kirche hat auch die institutionelle Monopolisierung der Fakultätstheologie nicht übernommen, die den doktrinären Zug der kontinentalen Theologie hervorgebracht hat. Die westliche Orthodoxie hat wie die östliche noch die Gleichung von lex orandi und lex credendi festgehalten. Diese, vom diskursiven Denken nicht zerstörte Einheit von Leben, Lehre und

|33|

Verfassung, bildet das Wesentliche, das immer wieder einem methodischen Mißverständnis ausgesetzt ist, durch welches der protestantische Beobachter seine eigenen Voraussetzungen in einen ihm fremden Tatbestand hineinverlegt. Eben daraus aber ergeben sich die Schwierigkeiten, die theologische Position, etwa in der Frage der bischöfliche Sukzession, also in Bezug auf einen geschichtlichen Tatbestand in schlüssiger Begrifflichkeit wiederzugeben. Die Geschichte widersetzt sich der Deduktion und Subsumtion.

In dieser dritten Position sind also die beiden alternativen Denkmöglichkeiten unseres Problems vereint, ohne daß aus dieser Verbindung eine Lösung hervorgeht. Die bischöfliche Kirchen halten weder einen Geschichtspositivismus bis in die Gegenwart durch, noch vollziehen sie jenen ständigen Regressus auf Grundsätze und biblische Vorbilder, wodurch  sie mit ihrer eigenen Geschichtlichkeit in unauflösbare Kollision geraten würden. Die Lösung des Widerspruchs zwischen der römischen Kirche und dem Protestantismus kann also auf diese Weise nicht vermittelt werden. Dieser Widerspruch muß in sich selbst aufgelöst und die in ihm enthaltene Problematik in ihrer theologischen Legitimität betrachtet und aufgearbeitet werden. Bedeutsam bleibt freilich, daß die Orthodoxie den wesentlichen Bestand bewahrt hat und in ihr trotz aller Brechungen lebensfähig repräsentiert. Die Forderungen, die heute an eine Verfassungsreform der römischen Kirche gestellt werden, sind in einem wesentlichen Umfang Anliegen, welche diese Kirche in Abweichung von ihren eigenen historischen Grundlagen außer Kraft gesetzt hat (Kollegialität, Synodalbildung usf.).

So entspricht dem Systemzwang der Kirchenrechtskritik zugleich der sachliche, denkerische Zwang, das Recht der Kirche als Ganzes zu begreifen. Kirchenrecht kann heute nurmehr als ökumenisches betrieben werden. Dies gilt nicht deswegen, weil wir das Hochziel und die Forderung christlicher Einheit auf die Fahne geschrieben haben, deren Verwirklichung andere dann die ernsthaften Hindernisse der Wahrheitsfrage und die Fragwürdigkeit äußerer, sichtbarer Einheit entgegenstellen mögen.

Das Kirchenrecht ist objektiv ökumenisch; es kann nur in dem Gesamtzusammenhang dieses Rechtskreises verstanden werden. Eine konfessionelle Betrachtung muß heute denkerisch und gegenständlich den uns zugängliche Stand der Erkenntnis so wesentlich unterbieten, daß sie als Parteinahme und Postulat, nicht jedoch als wissenschaftliche Darstellung gelten kann. Diese Auffassung geht noch über den Stand der Dinge hinaus, der sich 1961 in der Zielsetzung ökumenischer Darstellung in den Systementwürfen Erik Wolfs und dem meinigen ausdrückte. Diese Lage hat sich vielmehr in der Zwischenzeit in der objektiven Bedeutung der Studie Pirsons über „Universalität und Partikularität der Kirche” unausweichlich manifestiert.

|34|

Das Gesetz Christi aber, daß einer des andern Last tragen solle, gilt auch für die getrennten Kirchen, gilt für die Bemühung um ökumenisches Kirchenrecht. So waren nicht nur die „neglectae necessitudines” und die „occasiones praetermissae” einzuklagen, — es war auch auszusprechen, dies geschehe „ut aliquis adsit qui pergrave onus vestrum ut proprium suscipiat” (an Kardinal Felici).