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Der biblische Begriff der ekklesia ist für die Ekklesiologie wie für die Kirchenrechtslehre der gegebene Ausgangspunkt. „Die profane ἐκκλησία der Antike ist eine Institution der πόλις. Es ist die zum Vollzug von Rechtsakten zusammentretende Versammlung der Vollbürger einer πόλις. Man könnte in analoger Weise die christliche ἐκκλησία die zum Vollzug bestimmter Kulthandlungen zusammentretende Versammlung der Vollbürger der Himmelsstadt nennen. Daß der λαός der christlichen ἐκκλησία der Nachfolger des antiken δῆμος ist, läßt sich auf verschiedene Weise zeigen. Die Formel des Aposteldekrets: ἔδοξε τῷ πνεύματι τῷ ἁγίῳ καί ἡμῖν ist der Beschlußformel der antiken Polis: ἔδοξε τῇ βουλῇ καί τῷ δήμῳ nachgebildet.”38
Unbestritten ist, daß der Begriff im NT von vornherein eine Doppelbedeutung hat, etwa im Sinne Gesamtgemeinde und Einzelgemeinden oder ecclesia universalis und ecclesiae particulares. Indessen zeigt sich hier schon eine Mißlichkeit. Die deutsche Sprache besitzt in „Kirche” und „Gemeinde” zwei prägnant verschiedene Begriffe, deren Unterschied in die gleiche Richtung zu weisen scheint. Aber es ist fraglich, ob sich die vorgegebene Doppelbedeutung von ekklesia mit diesem Gegensatz zur Deckung bringen läßt. Im Gegenteil könnte unser Sprachgebrauch zu der falschen Annahme verführen, in unseren Begriffen und den damit für uns verbundenen Assoziationen schon das Wesentliche der biblischen Unterschiede gegenwärtig zu haben.
Diese Schwierigkeit wird noch verstärkt durch eine gefühlsmäßige Neigung, durch die betonte Verwendung des einen und die Verdrängung des anderen Begriffes die vorgegebene Dualität zu überspielen. Es gibt im katholischen Bereich eine Art, emphatisch von „der Kirche”, ihre Fülle und Universalität zu sprechen, von der der evangelische Christ keinen Begriff habe. Umgekehrt wird der Begriff der Gemeinde gegen das „blinde und undeutliche Wort Kirche” ausgespielt. Zugleich wird das Wort Gemeinde als der Inbegriff aller Möglichkeiten und Aufgaben der Christenheit verstanden — Christus als Gemeinde existierend (Bonhoeffer). Unklar bleibt dabei regelmäßig das Verhältnis zur vorfindlichen Gemeinde in ihrer Begrenztheit und Schwäche. Wenn der evangelische Christ sein Kirchenverständnis ausdrücken soll, so spricht er von der Gemeinde, aus der sich die Kirche aufbaue und die zu allererst genannt werden müsse. Womöglich spricht er von einem „Gemeindeprinzip”, einer den Reformatoren unbekannten Vorstellung.
Schaltet man nun diese schwer vermeidlichen Mißverständnisse und
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die sich in der Interpretation der biblischen Begriffe auswirkenden Vorentscheidungen aus, so ist die sachgemäßeste Übertragung die in „Gesamtgemeinde und dieselbe in lokaler Begrenzung” (Exkurs I S. 184). Wichtig ist die pneumatische Identität: Gesamtgemeinde und Gemeinde sind nicht getrennte Größen, vielmehr kommt die (Gesamt)gemeinde in einer anderen Erscheinungsform, derjenigen der lokalen Begrenzung, vor. Diese Identität ist als fundamentales Merkmal festzuhalten (sog. Äquivalenzgrundsatz des Kirchenrechts).
Die Debatte über diese vorgegebene Doppelbedeutung von ekklesia gleicht dem äußeren Bilde nach den Universalienstreit des Mittelalters — man fühlt sich an den Streit um via antiqua und via moderna erinnert. Die Einen setzen die ecclesia universalis ante rem und die Anderen post rem. Die Einen deduzieren die Gemeinde aus der Kirche und die Anderen die Kirche aus der Gemeinde. Für die Einen ist die Gemeinde ein Seelsorgebezirk der Kirche, und für die Anderen ist die Kirche ein technisch-zweckhafter Überbau der Gemeinde. Die Sache wird dadurch nicht besser, daß diese Deutungen abschwächend verschleiert werden.
Der Kirchenbegriff wird auf diese Weise jedenfalls eindeutig zentriert entweder in der (sichtbaren) universalen Kirche oder dort, wo — im Sinne von CA VII — das opus proprium der Kirche geschieht. Jedenfalls hat die Kirche ihre Konkretion und zentrale Legitimation bei dieser Art der Betrachtung nur jeweils in dem Einen oder Anderen: im einen Falle in dem deduktiven Zusammenhänge, im anderen in diesem sich immer wiederholenden, überall mögliche und notwendigen Geschehen. Das entgegengesetzte andere Moment des ekklesia-Begriffs stellt so im besten Falle nur ein Spielbein zu dem Standbein der jeweiligen zentralen Begründung dar. Damit ist aber der für den ekklesia-Begriff zentrale Identitätssatz aufgehoben. Wenn ekklesia Gesamtgemeinde und dieselbe in lokaler Begrenzung ist, so kann dieses und zweier differenter Erscheinungsformen eben nur solange durchgehalten werden, als mit einer Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit zweier, hier eben dieser beiden Formen überhaupt gerechnet und Ernst gemacht wird.
Aber bei aller Kritik an der unbedenklichen und ungesicherten Weise, in der realistische und nominalistische Denkformen auf die Probleme der Theologie und Kirche angewendet worden sind, muß man doch sagen, daß hier die Theologie nicht überfremdet worden ist. Im Gegenteil: jede Theologie hat diejenigen philosophischen Denkformen übernommen und herangezogen, in der ihre prinzipiellen Anliegen am leichtesten auszudrücken waren. Die Theologie sollte sich daher zu ihrer eigenen Wahl bekennen. Die Theologie sollte die Philosophie nicht einer Einseitigkeit beschuldigen, die sie selbst zu vertreten hat. Jene Entscheidungen der Theologie zum philosophischen Ausdruck sind auf ihre theologischen Gründe zu befragen.
Trotz dieser Polarisation der Begriffe stellt sich die ekklesia in concreto
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nicht nur in zwei, sondern in drei Formen dar. Bei der Klarstellung dieses Sachverhaltes ist der vokabelmäßige Unterschied von Kirche und Gemeinde unentbehrlich, aber nicht ausreichend.
Kirche im allgemeinsten wie im grundsätzlichsten Sinne ist sicherlich die ecclesia universalis, die allgemeine, allumfassende Kirche, die „catholica” des Bekenntnisses. Was die universale Kirche ist, das versteht sich eigentlich von selbst. Es ist die Kirche überhaupt als Inbegriff ihrer Wirkungen und Möglichkeiten, die Kirche in der Geschichte.
Unter ecclesia universalis wird hier die Gesamtheit der mit Christus durch die Taufe Verbundenen als Einheit, nicht als Summe von Menschen verstanden. Ihre Einheit wird durch die Identität dieses einen Herrn begründet, dem sie durch den nicht rücknehmbaren, nicht wiederholbaren Vorgang der Taufe einverleibt sind.
Ist aber der Begriff der ekklesia biblisch von vornherein ein doppelter, so bildet sich mit geschichtlicher Notwendigkeit als Zwischenglied und Vermittlung die partikulare Kirche, die etwas Anderes und mehr als die Gemeinde ist. So wie die beiden Begriffe von ekklesia nicht aufeinander reduziert werden können, sondern im Verhältnis dialektischer Identität stehen, so würde auch die ecclesia particularis notwendig mißverstanden, wenn sie aus dem verbindenden Mittel zur Folge des einen oder anderen würde.
Die Ekklesiologie als Lehre von der Kirche und hier ihrem Recht kann also nur in dieser aufeinander bezogenen Dreiheit entwickelt werden. Die partikulare Kirche wie die Gemeinde stehen begrifflich neben und sachlich innerhalb der universalen Kirche.
Der biblische Tatbestand war ein anderer. Hier gab es nicht nur die ekklesia überhaupt, als universale, sondern die ekklesiai in Korinthe, Ephesus ebenso wie in Asien, Lydien usw. Die ersteren waren in unserem Sinne Gemeinden, die zweiten aber keineswegs Partikularkirchen. Aber beide fallen unter den gleichen Begriff der „ekklesia in lokaler Begrenzung”, wobei das Vorhandensein einer greifbaren Organisation keineswegs Voraussetzung ist. Die ekklesia in Asien meinte sowohl die organisierten Gemeinden der zusammengefaßten Mehrzahl wie überhaupt alle dort vorhandenen zerstreuten Christen. Unser heutiger, einer bestimmten vorfindlichen Wirklichkeit entsprechender Begriff der Partikularkirche ist eine Art Mittelbegriff, gemessen am biblischen Tatbestand in seiner Doppelheit. Diese Partikularkirche ist „ekklesia in lokaler Begrenzung”. Dennoch ist sie etwas anderes als Gemeinde. Sie wird definiert durch die verbandsmäßige Zusammenfassung mehrerer Gemeinden; Partikularkirche in jeder denkbaren Begrenzung, auch auf eine einzelne Polis, bedeutet eine historische Singularität, Gemeinde proprie dicta meint das fortdauernde geistliche Ereignis der Versammlung. Dieses allein aber ist der geistliche Existenzgrund jedes Christen: jeder ist einmal versammelt und hinzugetan worden, wenn er auch sonst in der Vereinzelung lebt.
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Nur universale Kirche und leiblich-konkrete Gemeinde haben daher eine primäre theologische Dignität, nicht unsere Partikularkirche.
Manche Fragen werden hier auch durch eine Überprüfung des Sprachgebrauchs deutlich. Wenn man etwa von einer Kreissynode oder einem Dekanat als „Kreisgemeinde” spricht (wie die Verfassung der Kurhessischen Kirche von 1926) oder womöglich im analogen Sinne von der ganzen Partikularkirche, so ist die Künstlichkeit des Ausdrucks offenkundig. Denn die „Kreisgemeinde” kann gar nicht im gleichen Sinne sich versammeln, wie die Ortsgemeinde als gottesdienstliche Gemeinschaft. Die ständig vorkommende Verwechslung von Gemeinde proprie dicta und Parochie hat ihren verständlichen Grund darin, daß beide wirklich Versammlungen sind. Der Grund der Verwechselung liegt weiter darin, daß von Anbeginn von der Sache des Glaubens selbst her jeder Christ gehalten ist, die Gemeinschaft der Christen zu ständiger, sich immer erneuernder Gemeinsamkeit zu suchen (Acta 2, 42). Dieses Lebenselement liegt vor aller parochialen und territorialen Organisation, bildet aber deren Grundlage. Christen mögen in tatsächlicher Vereinzelung leben, gerade in der Missionssituation. Aber es gibt keine Christiani vagantes, die nach Absicht und Willkür sich abgesondert halten und das Recht in Anspruch nehmen, sich der Versammlung zu entziehen. Wie unus episcopus, nullus episcopus, — so gilt auch: unus Christianus, non-Christianus. Eine Synode aber — wiewohl geistlich und kirchenrechtlich selbst ekklesia — ist als repräsentative Versammlung wieder etwas Anderes als „Gemeinde” in dem bisher erörterten Sinne. Nicht weniger künstlich und fiktiv ist dann die Bezeichnung des leitenden geistlichen Amtes als „Landpfarrer” oder „Landesoberpfarrer”. Man kann dieses Amt personal als Bischof, Superintendent oder sonstwie, oder funktional als Präses oder Präsident bezeichnen: das ist jedenfalls nicht gewaltsam und unschlüssig wie jene Bezeichnungen.
Die Partikularkirche als Mittelbegriff bezieht also ihre Legitimität und Kraft von beiden Seiten. Sie macht gegenüber der lokalen Gemeinde das Recht der universalen Kirche geltend, alles das, was diese Gemeinde vermöge ihrer Lokalität und Aktualität nicht selbst wahrnehmen und darstellen kann. Sie kann das aber nur dann und in dem Maße, in dem sie selbst in der Gemeinschaft der universalen Kirche rückgebunden und verantwortlich ist.
Sie ist von der anderen Seite zugleich als Erweiterung der Gemeinde in den Missionsraum zu verstehen, den die Apostel mit der Bezeichnung als ekklesia einer Landschaft stets im Auge haben. Wird diese Brückenfunktion durch Fortfall eines Verbandes mit universalem, insbesondere auch übernationalem Anspruch gegenstandslos, wird die fruchtbare Spannung von universaler Kirche und Gemeinde aufgegeben, dann gerät das Verhältnis von Partikularkirche und Gemeinde in die Problematik von Über- und Unterordnung.
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Die Partikularkirche ist recht verstanden die konkrete Vermittlung zwischen universaler Kirche und Gemeinde. Demnach umschließt die Sammlung der universalen Kirche alle denkbare Versammlungen. Die partikulare Kirche, Brücke und Vermittlung zwischen jenen beiden Größen eigener theologischer Dignität, steht wie das Gleichheitszeichen in einer Formal a = b, S = V.
Wie tief die Bildung der partikularen Kirche ansetzt, zeigt die Apostelgeschichte. Wäre das Christentum in Gestalt der jerusalemer Urgemeinde unter dem Patriarchat des Jakobus eine innerjüdische Erscheinung, eine Fortbildung Israels geblieben, so wären universale und partikulare Kirche in eins gefallen. Gestiftet zu Pfingsten, aber konkretisiert durch die außerjüdische Mission, zu allererst die paulinische, entfaltet sich in der Partikularität der Landschaften und Völker auch die ecclesia particularis, zunächst in Gestalt der Differenz zwischen Juden und Heiden, später in der Vielzahl der missionierten Völker.
Da die drei Weisen von Kirche miteinander verschränkt und aufeinander angewiesen sind, werden wir das Verfassungsproblem induktiv durch die Darlegung der Formen darzustellen haben, in denen eben dieses Verhältnis gestaltet ist.
Die ekklesia theou hat ihren unverwechselbaren Auftrag in notwendiger Eigenständigkeit und richtet ihn eben darum kraft eigenen Rechtes aus. Sie hat aber als ständiges Gegenüber die Welt, in die sie gesandt ist. In sie muß sie eingehen, wie der Apostel den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche wird, ohne sich mit ihnen um ihres Judentums oder Griechentums willen gleichzumachen. Aber indem die ecclesia sich in die geschichtlichen Zusammenhänge hinein entäußert und entäußern muß, muß sie zugleich ihre unverwechselbare Sondierung und Besonderheit durchhalten. Sie muß sich aus der Verbindung mit Völkern und Kulturen auch immer wieder zurücknehmen, um aus dieser Zurücknahme zugleich die Kraft neuen missionarischen und exemplarischen Wirkens zu gewinnen. Aus geschichtlicher Notwendigkeit hat die Großkirche den weiten Umkreis der geistlichen und sozialen Verantwortlichkeiten übernommen, die ihr mit zunehmender Ausbreitung und schließlich mit der Erreichung der Deckung von Kirche und Gesamtbevölkerung zuwuchsen. Gerade eine Kirche von heute, die sich ihrer Weltverantwortung in neuer Weise bewußt wird, kann einen solchen geschichtlichen Prozeß nicht als Verfremdung abtun, sondern muß die Verschlingung legitimer und illegitimer Momente in diesem Geschehen sorgfältig in Betracht ziehen. In eben dem Maße der Weltverantwortung aber mußte auch die radikale Distanz zur Welt in immer deutlicheren Formen ausgebildet werden. Diese widersprüchliche Bezogenheit begründete eine Dialektik, die sich auch in Formen der Existenz von Kirche auszudrücken vermag, ja ausdrücken muß.
Mit der Entwicklung zur Staats- und Volkskirche mußte sich daher auch mit einer gewissen Notwendigkeit das Ordenswesen entwickeln. Die
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Verweisung auf eine Sonderlinie asketischer Bestrebungen, einer besonderen Heiligungsfrömmigkeit oder womöglich Werkgerechtigkeit reicht zur Erklärung dieses Phänomen in keiner Weise aus. Es hat sich hier um eine umfassende Bewegung von großer geistlicher wie institutioneller Prägekraft gehandelt, der eine konstitutive geschichtliche Bedeutung zukommt. Sie steht in einem sinnvollen, proportionalen Verhältnis zur Großkirche. Durch Jahrtausende haben die Beziehungen zwischen Großkirche und Orden ein bedeutendes, verwickeltes, aber nicht einfach unlösbares Problem dargestellt. Die darin liegende Spannung kann nicht aufgehoben, sondern muß durchgehalten werden.39
Wir erhalten damit eine vierte Art von ekklesia, die quer in einem erst noch zu bestimmenden Verhältnis zu den bisher aufgezeigten Formen und Begriffen von ekklesia steht. Auf diese Weise gliedert sich unser Thema in vier Bereiche: universale Kirche, partikulare Kirche, Gemeinde und Orden. Unter Orden sind hier alle selbständigen Gruppen zu verstehen, die auf Grund besonderer Berufung und freier Wahl ihrer Glieder in bewußter Korrelation zu der grundsätzlich jedem Christen zugänglichen „Kirche” und „Gemeinde” stehen, aber eben darum selbst nicht Kirche oder Gemeinde zu sein beanspruchen, weder gesonderte Denomination, noch ecclesiola in ecclesia, noch Heiligungsgemeinde als „eigentliche” Kirche. Aus dieser bewußten Begrenzung und bejahten Bezogenheit ergibt sich über den präzisen und engeren Begriff des Ordens hinaus der hier gemeinte, für die Struktur der Kirche charakteristische Verbandstypus, dessen weiteste, schon etwas blasse Umschreibung man im Begriff der „besonderen Dienstgemeinschaft” versuchen könnte.
Diese vier Formen sind keine isolierten Größen. Jede von ihnen verweist auf die übrigen und ist mit ihnen konstitutiv verbunden. Die Universalität der Kirche umschließt alle einzelnen Formen, ohne sie doch einfach im Wege der Ableitung verfolgen zu können.
Dies ist vor allem der Ertrag der Besinnung auf die gleiche Dignität von Kirche und Gemeinde im strikten Sinne. Wie sehr diese Frage, das Verhältnis von Universalität und Partikularität rechtlichen Charakter trägt, zeigt die Formulierung des Canons 2 der Lex Fundamentalis Ecclesiae. Er lautet in § 1:
„Unica Christi Ecclesia, quam in Symbolo unam, sanctam, catholicam et apostolicam profitemur, quam Salvator noster, post resurrectionem suam Petro pascendam tradidit (Io. 21, 17), eique ac ceteris Apostolis diffundendam et regendam commisit (cf. Mt. 28, 18 ss.), in Ecclesiis particularibus et ex iisdem exsistit, ita ut sit etiam Corpus Ecclesiarum, quae singulae sunt portio Populi Dei, sub Episcopo proprio una cum presbyterio per Evangelium in Spiritu congregata, in qua vere inest, operatur et crescit una, sancta, catholica et apostolica Ecclesia.”
In dieser hart umstrittenen Formulierung wird das Prinzip der universalen
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Einheitskirche gebrochen und die wechselseitige Beziehung von universaler und partikularer Kirche umschrieben. Die verschiedenen möglichen termini, die hier zur Debatte standen — exsistere, consistere zeigen die Schwierigkeit an, das Verhältnis zutreffend zu umschreiben. Vermieden mußte auf alle Fälle eine Auffassung werden, die entsprechend der Tradition des philosophischen Universalismus (generalia ante rem) die Teile aus dem Ganzen ableitete. Was hier von der Partikularkirche ausgesagt ist, läßt sich auch von der Gemeinde sagen: hier geht es nur darum, die Verschränkung zweier unterschiedlicher Größen deutlich zu machen. Vollends handelt es sich hier über den theologischen und historischen Gehalt der Aussage hinaus um eine rechtliche Aussage: der Rechtsstatus der partikularen Kirche wird hier als ein konstitutiver und originaler ausgesprochen und in aller Form anerkannt. Diese Aussage füllt eine Lücke, die das bisherige System des CIC auf der Grundlage des I. Vaticanums offengelassen hatte, obwohl damals der originale Rechtsstand des Bischofsamts anerkannt worden war. Über diese Anerkennung hinaus sind jetzt auch die Partikularkirchen als solche einer statusrechtlichen Anerkennung teilhaftig geworden.
Mit der Mehrzahl der Vormen von Kirche sind damit bestimmte Relationen vorgezeichnet, wenn die wechselseitige Verwiesenheit aller Formen von Kirche als grundlegender Tatbestand vorauszusetzen ist. Solche Relationen sind:
1. Diejenige zwischen Universalkirche und Partikularkirche. Dieses Problem unterteilt sich in ein solches zwischen Universalkirche einerseits und Partikularkirche und Gemeinde andererseits. Unter diesem Blickwinkel können Partikularkirche und Gemeinde gegeneinander austauschbar erscheinen. Dieser nicht bedachte Tatbestand hat eine Fülle von Verwirrung hervorgebracht. Es gibt kein Maß und Mindestmaß, von dem aus bestimmt werden könnte, wie sich Gemeinde und Partikularkirche voneinander abheben. In den Zeiten der Mission haben zahlreiche Gemeinden gleichzeitig den Status als Partikularkirchen gehabt. Andererseits vermag normalerweise die einzelne Gemeinde diesen Status und die damit verbundenen Verpflichtungen und Aufgaben nicht zu übernehmen. Nicht nur die Quantität der Kräfte, sondern auch die Qualität einer differenzierten Struktur hat die größeren Zentralgemeinden dazu getrieben, an dem geschichtlichen Miteinander, an der theologischen und kirchenrechtlichen Fortentwicklung der Kirchen unmittelbar teilzunehmen. Daraus, und nicht allein auf Grund allein der flächenmäßigen Ausdehnung der Missionskirchen ist das Zurücktreten und die Mediatisierung des großen Teils der Gemeinden im Verhältnis zur Universalkirchen zu erklären gewesen.
Das erste gemeinte Verhältnis ist also dasjenige zwischen der Universalität der Kirche und allen partikularen Formen, die wie Partikularkirche und Gemeinde jedem Christen offen sind.
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2. Ein völlig anderes Verhältnis bezeichnet die Spannung zwischen Universalkirche und den Tatbestanden, die unter dem Sammelbegriff des Ordens behandelt wurden. Hier geht es um das Verhältnis von Gesamtkirche und bewußter Minderheit. Dabei bleibt auch hier die wechselseitige Bezogenheit grundlegend. Nu diejenige Minderheit hat hier ein Recht, welche sich auf die Gesamtheit bezieht, die Grenzen dieses Verbandes auch als den ihrigen anerkennt und innerhalb seiner ihre Legitimität sucht. Die Gesamtkirche andererseits sieht sich durch die bewußte Abschiebung einer solchen Minderheit vor die kritischen Fragen gestellt, welche diese Absonderung konstituieren. Es ist nicht vorentschieden, wer hier Recht hat. Von jeher hat die Minderheit der Großkirche ihre Verweltlichung im weitesten Sinne vor Augen gehalten. Aber eben der Orden kann rigoristisch Forderungen erheben, die in Grundlage und Folgerungen irrig sind. Dies hat sich klassisch in dem Armutsstreit der radikalen Franziskaner mit Johannes XXII. im 14. Jahrhundert gezeigt. So gut oder schlecht das Papsttum damals gewesen sein mag, — hier war es theologisch und kirchenrechtlich im Recht. Es kann also die universalistische Ableitung von zentralen Grundsätzen und Kompetenzen nicht dadurch umgekehrt werden, daß man der Minderheit vermöge ihrer kritischen Reinheit ein grundsätzliches Voraus zuerkennt, dem nur bedauerlicherweise die Gesamtheit notwendig unzulänglicherweise zu folgen imstande ist. Die großen geschichtlich wirksamen Orden hatten mit Recht diese falsche Alternative vermieden. Nicht äußere Disziplin, sondern die Einsicht in den Tatbestand selbst hat sie davor bewahrt. Das Miteinander und Gegeneinander unterschiedlicher Verantwortlichkeiten ist in der Gegenwart auch im deutschen Protestantismus in dem theologischen Streit um die Atombewaffnung zum Austrag gekommen. Hier machte sich erschwerend bemerkbar, daß die Denkformen für die Möglichkeit wesentlich unterschiedener, aber bezüglicher Positionen — in diesem Falle im ethischen Bereich — erst gefunden werden mußte. So gewiß die damals formulierte Komplementaritätsthese (Weizsäcker/Howe) vergröbert oder auch mißverstanden worden ist, so sehr hat doch C.F. von Weizsäcker in der Folge an dem unaufgebbaren Wahrheitskern dieser Erkenntnis festgehalten. Das antiinstitutionelle Mißtrauen und die Wiederentdeckung der Funktion aktiver Minderheitsgruppen in der Kirche bringt heute die Versuchung mit sich, in jener Umkehrung der Konzeption die Lösung zu suchen. In Wahrheit wird damit das Problem in ein mechanisches Folgeverhältnis umgedeutet. Die Minderheit als Träger eines kritischen Bewußtseins ist dann allein dazu berufen, die träge Masse der Gesamtheit regelmäßig mit enttäuschenden Ergebnissen in Bewegung zu setzen. Die unvermeidliche und selbstverschuldete Enttäuschung wird dann pharisäisch dem anderen Teil als Fehler zugerechnet. Damit ist dann erst recht wieder die Universalität der Kirche spiritualisiert. Denn sie wird hier der Rechtsexistenz und Legitimität als nur äußerer entkleidet.
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Erst als ein drittes Verhältnis ist dann dasjenige von Mehrheit und Minderheit in Betracht zu ziehen. Mehrheit und Minderheit sind beide Teile der Gesamtheit, wobei die Mehrheit gezwungen sein kann oder sich als legitimiert versteht, mangels anderer Entscheidungskriterien sich an die Stelle der Gesamtheit zu setzen. Das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit aber hat in der Sozialgeschichte und unter deren besonderen Bedingungen auch in der Kirchengeschichte eine rechtlich genau beschreibbare Entwicklung durchgemacht. Diese Relation ist also von den früheren abzuheben, in denen die verschiedenen Weisen von Kirche in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten sind. In dem Verhältnis Mehrheit und Minderheit dagegen kommen immer nur Entscheidungsprozesse innerhalb einer dieser Formen zum Austrag.39a Eben darum aber dürfen die verschiedenen Relationsformen nicht miteinander verwechselt werden.
Nach alledem verbindet also die Kirche primäre und sekundäre Lebensformen miteinander. Daß Gesamtkirche und Gemeinde primäre Dignität besitzen, drückt sich auch darin aus, daß in den verschiedenen historischen Kirchen jeweils das Eine oder das Andere als fundamental verstanden und mit emphatischen Aussagen überhäuft wird.
Die sekundäre Formen sind etwas anderes als das, was man in der Soziologie als sekundäre Systeme versteht. Gewiß sind sie sekundär im Sinne geringerer theologischer Dignität. Aber hier handelt es sich nicht um ein fragwürdiges geschichtsphilosophisches Urteil über historische Lebensformen, sondern um eine evidente theologische Gegebenheit. Der bedeutende Rang und die Bezüglichkeit der beiden sekundären Formen zeigen die Kirche unter den Bedingungen der Geschichte. Die Kirche hat den Charakter als Volkskirche nicht allein auf Grund eines versuchlichen Angebots oder eines historischen Zufalls übernommen. Sie war vielmehr vermöge ihrer Universalität genötigt, jedermann das Evangelium zu verkündigen und damit konkret zu sagen, wie der Mensch in jeder denkbaren sozialen Position Christ sein könne. Sie konnte also nicht rigoristisch bestimmte Berufe, die Soldaten, die Inhaber staatlicher Ämter, die Schauspieler usw., als „weltlich” oder „ungeistlich” ausschließen und disqualifizieren. Vermöge dieser notwendigen Ausdehnung konnte — und mußte sie sogar bei gegebener Gelegenheit — soziale Gemeinwesen in ihrer Ganzheit umfassen. Dies ist übrigens zu allererst von Konstantin und außerhalb des römischen Reichs in Gestalt der armenischen Nationalkirche im frühen vierten Jahrhundert geschehen; die dort entwickelten Grundsätze haben ihrerseits, wie Ritzet gezeigt hat, in wesentlichen Fragen, wie denen des kirchlichen Eherechts, auf die byzantinische Großkirche zurückgewirkt.
Die Partikularkirche mit der Tendenz, breite Bevölkerungsteile zu organisieren und womöglich ganze Bevölkerungen zu umgreifen, verhält sich zu den Orden wie nach der soziologischen Begrifflichkeit (Geburts-)Gemeinschaft und Bund.40 Der einen Form gehören alle kraft Geburt,
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der anderen immer nur wenige auf Grund einer besonderen, freien Entscheidung an. Der einen gehört jeder Getaufte ipso facto an; ihm kann die Zugehörigkeit zur Gemeinde niemals verweigert werden; in den Gemeinschaften freier Wählt bedarf es nicht nur des Entschlusses, sondern auch der Aufnahme und Bewährung. Der Unterschied zwischen diesen beiden modi christlicher Existenz ist in der reformatorischen Tradition völlig aus dem Blick gekommen, nachdem man sich einem Gemeindemonismus verschrieben hatte. Man vermag diese korrespondierenden Bildungen weder nach ihrem immanenten Sinn und Aufbau zu begreifen noch ihnen einen vernünftigen Platz im gesamten Gefüge einzuräumen. Daß der Verdacht und Vorwurf der Werkgerechtigkeit und selbstgemachten Heiligkeit zum Verständnis dieser Tatbestände nicht ausreicht, hat sich selbst heute noch nicht überall herumgesprochen.
An diese sekundären Formen, welche ihren Entscheidungsgrund in der Geschichte der Kirche haben, schließen sich dann tertiäre Formen an, die sich in ihrer Zweckbestimmung als fungibel erschöpfen. Erst hier kommt mutatis mutandis und mit Vorbehalt jene Unterscheidung zum Zuge, die in der allgemeinen Soziologie zwischen primären und sekundären Systemen gemacht worden ist. Gleichwohl wird die kritische Abwertung, die — mit oder ohne Recht — an den soziologisch-sekundären Systemen geübt wird, in populärem Selbstverständnis in der Kirche bereits auf die in unserem Sinne sekundären Formen bezogen. Auf diese Weise wird der geschichtliche Sinn jener Formen falsch eingeschätzt und eine Ideologie der Eigentlichkeit übernommen.
Jene vier Bereiche sind nun keineswegs gleichmäßig in der ganze Kirchengeschichte in konkreter rechtlicher Form als manifeste Verfassungselemente feststellbar. Ihr Vorkommen und ihr Verhältnis zueinander ist daher durch die einzelnen Abschnitte der Verfassungsgeschichte der Kirche zu verfolgen.
In der Urkirche waren zunächst Gesamtkirche und Gemeinde vorhanden. Die schon in der biblischen Zeit bestehenden Gemeinden heben sich deutlich von der Zentralgemeinde, der Ursprungsgemeinde, vom Vorort der Christenheit, Jerusalem ab, welcher sich selbst als Gemeinde darstellte. Die kanonischen Schriften enthalten genügende Hinweise darauf, daß die Mission an ganze Gebiete und die in ihnen vorhandenen Christen dachte. Trotzdem kann eindeutig von Gemeinden gesprochen werden, die in der Briefliteratur und in der Offenbarung Johannis direkt angeredet werden. Auf der anderen Seite aber besaß die Vorortgemeinde Jerusalem die Bedeutung einer gesamtkirchlichen Zentrale. Die von Paulus veranlaßte und überbrachte Kollekte hat gerade die kirchenrechtliche Bedeutung, die durch Jerusalem vermittelte und repräsentierte Einheit der Kirche zum Ausdruck zu bringen. Von Partikularkirchen kann zu dieser Zeit nur anfangsweise geredet werden. Paulus respektiert die Abgrenzung der verschiedenen apostolischen Missionsgebiete sorgfältig.
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Diese Situation verändert sich aber tiefgreifend mit der Zerstörung Jerusalems. Nicht nur das Judentum, auch die Christenheit hat damit (von der kurzen Epoche im Pella abgesehen) ihr Traditionszentrum verloren. Das war die historische Voraussetzung dafür, daß sich alsbald Partikularkirchen an den Orten der hauptsächlich apostolischen Wirksamkeit ausbildeten. In diesem Kreise hat Jerusalem nie mehr eine seiner ursprünglichen Stellung auch nur annähernd vergleichbare Bedeutung zurückgewinnen können.
In dieser zweiten Epoche stehen Partikularkirche und Gemeinde noch nebeneinander. Denn einerseits bildeten sich traditionsreiche Großgemeinden mit einem bedeutenden Einzugsgebiet und Einfluß, während auf der anderen Seite sich die unmittelbare Selbständigkeit zahlreicher, höchst unbedeutender bischöflicher Gemeinden durchhielt. Noch heute verzeichnet das päpstliche Jahrbuch fast 2000 untergegangene altkirchliche Bischoftstitel, in der großen Masse verschollener Dörfer in Nordafrika und Vorderasien, deren Gemeindevorsteher dem Bischofstitel besessen haben. Wenn auch ein Teil davon legendär oder unzureichend belegt sein mag, so zeigt doch die Menge der Namen, daß die frühe Kirche ein ausgebreitetes Gemeindewesen von rechtlicher Selbständigkeit gehabt hat, welches zu den großen Zentren durch den Äquivalenzgrundsatz in Beziehung stand. Dieser Kreis wurde durch die Versagung der bischöflichen Würde an die Vorsteher der Teilgemeinden und weiterer Dorfgemeinden begrenzt. Dieses Gefüge wurde durch ein intensives Netz von Beziehungen mit relativ geringer rechtlicher Verbindlichkeit und begrenzter organisatorischer Kraft zusammengehalten. Insofern ist das von Harnack geprägte Stichwort von der „katholischen Konföderation” nicht ohne Grund. Sie ordnen sich zu größeren Verbänden, wobei das Prinzip der missionsrechtlichen Filiation und Nachordnung zu Ursprungsgemeinden und die Anpassung an die realen Zusammenhänge der Staatsgliederung in Konkurrenz treten und zusammenwirken.41
Die Lage veränderte sich dann wiederum durchgreifend durch den Konstantinischen Bund. Die Vorortsstruktur wurde durch die förmliche konziliare Anerkennung einer Rangordnung von Patriarchaten formalisiert, woran sich bis heute sowohl Streitigkeiten wie Spekulationen geheftet haben. Die Grundstruktur einer Verklammerung von wenigen Vorortgemeinden und zahlreichen Einzelgemeinden blieb im Wesentlichen bestehen. Die schon in der zweiten Epoche sich abzeichnende Veränderung aber lag darin, daß der Kaiser als kirchenrechtliches Subjekt auf der Ebene der Gesamtkirche auftrat, das Konzil einberief, seine Beschickung technisch durch die Schnellpost ermöglichte, Synodalpräsidenten seines Vertrauens bestellte und für den Vollzug der Beschlüsse sorgte oder mindestens eintrat. Die synodal verfaßte und mit traditionell legitimierten Häuptern geschmückte Kirche entbehrte dagegen einer eigenen Kirchenleitung. Sie blieb eine Föderation ohne ständige Geschäftsführung, ohne
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einen aktiv legitimierten Träger ihrer Stämmigkeit. Am allerwenigsten kann davon geredet werden, daß auch nur anfangsweise der Bischof von Rom als der im Rang anerkannte Erste unter den Patriarchen eine solche Rolle übernommen habe. Wenn er zu den Konzilsbeschlüssen Stellung genommen, sie angenommen oder verworfen hat, so machte er kein anderes Recht geltend, als die anderen Häupter der Kirche auch, da ohne den allgemeinen Konsens der Kirche ein wirksamer Beschluss grundsätzlich nicht zustande kommen konnte. Daß ihm in diesem Gefüge ein bedeutendes Gewicht zukam, widerspricht dem nicht. Mit zunehmender Klarheit hat auch die katholische Kirchengeschichtsschreibung erkannt, daß für die Periode der alten Kirche nicht von einem Primat Roms gesprochen werden kann, der mit späteren Primatsvorstellungen real zu vergleichen sei.42 Die Hartnäckigkeit, mit der die katholische Ekklesiologie und Kanonistik das Papsttum des zweiten Jahrtausends als zentrale Kirchenleitung in die ganz anderen Verhältnisse des ersten Jahrtausends hineinprojiziert hat, ist nicht allein aus dem handgreiflichen apologetischen Interesse zu erklären, das Gewordene als Ursprüngliches nachzuweisen. Vielmehr erschien der Gedanke unvollziehbar, daß die Kirche weder als Kollektivsubjekt noch in Gestalt eines sichtbaren Oberhauptes Rechtssubjektivität besaß. Der unendliche historische Streit um Selbstverständnis, Rang und Prärogativen des römischen Stuhls dauerte an, weil sonst eine Art Vakuum hervorgetreten wäre und hätte zugegeben werden müssen — die Pentarchie der Patriarchate ersetzt nicht eine personale Einheit der Kirche, die, von heute aus gesehen, als ein selbstverständliches Postulat erscheint.
Wenn andererseits die orthodoxe Tradition bedauert, daß nach Nicaea II (787) kein weiteres ökumenisches Konzil zustande gekommen und infolgedessen eine allgemein verbindliche Fortentwicklung von Lehre und Ordnung der Kirche unmöglich geworden sei, so läßt sie dabei außer Acht, daß die Voraussetzung einer solchen Fortbildung von einem Faktor abhing, der nicht in der Struktur der Kirche begründet war, nämlich von dem Vorhandensein eines christlichen Herrschers, dessen Einflussbereich wenigstens einigermaßen oder überwiegend sich mit dem Ausbreitungsbereich der Kirche deckte. Fehlte ein solcher Träger, so zeigte es sich, daß die Kirche in der Struktur der Vorortsordnung und der Bischofssynode für sich allein einer Rechtssubjektivität ermangelte, die sie instandbesetzt hätte, zu tun, was die Kirche tut und tun muß — nämlich Lehre und Ordnung fortzubilden. Es kann aber weder geschichtlich noch ekklesiologisch postuliert werden, daß es immer eine solche historische Größe geben müsse, welche der Kirche diesen Dienst zu leisten bereit ist, ganz zu schweigen von dem hohen politischen Preis, den dieser Dienst die Kirche gekostet hat.
Dabei ist bemerkenswert, daß trotz der konsequenten Bestreitung eines römischen Jurisdiktionsprimates der Stuhl von Konstantinopel nach dem
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großen Schisma sehr deutlich und ausdrücklich ganz entsprechende Prärogativen für die Ostkirche in Anspruch genommen hat, ohne sie freilich durchsetzen zu können.43
In der lateinischen Hälfte der Kirche deren Abgrenzung deutlich durch die alte Teilung des römischen Reichs mitbestimmt ist, waren Tendenzen vorhanden, die schließlich zu ganz anderen Verfassungsformen geführt haben, zu einer zentralen Einheit, wie wir sie heute im Jurisdiktionsprimat des Papstes vor Augen haben. Die Motive dieser tiefgreifenden Scheidung sind in der neueren Kirchengeschichtsschreibung deutlich und bisher unwiderlegt beschrieben worden. So sagt Carl Andresen:44
„In der griechisch-orthodoxen Kirche … war die sakramentale
Mysterienhandlung der Eucharistie das Herzstück der Kirchenlehre.
In ihr wird das ewige Priestertum des Christus, der in seiner
Unsichtbarkeit das alleinige Haupt der Kirche ist, gebrochen
sichtbar. Überall, wo dieses Mysterium gefeiert wird, ist auch
die transzendente Christusherrschaft gegenwärtiges Geheimnis.
Alle Bischöfe besitzen daher „iure divino” gleichen Rang; eine
Vorrangstellung ist von diesen theologischen Voraussetzungen aus
nicht zu begründen. Wenn man sich auf den Synoden zur gemeinsamen
Beschlußfassung zusammenfindet, dann geschieht das auf der Basis
der Gleichberechtigung aller und in der Einheit des einen
hohepriesterlichen Amtes des Episkopats …
Entsprechend der heilsgeschichtlichen Deutung des Erlöserwerkes
des geschichtlichen Christus und der sich damit verbindenden
stärkeren Betonung der Versöhnungslehre in der abendländischen
Christologie wurde die sündentilgende Wirkung im sakramentalen
Geschehen der Eucharistie besonders hervorgehoben. Dieselbe
wiederholte im Meßopfer die innergeschichtliche Heilstat
des Christus. Als Mitte des liturgischen Geschehens verlieh sie
einerseits der Kirche den Charakter einer heilsgeschichtlichen
Institution („Extra ecclesia nulla salus”; Cyprian); andererseits
ergab sich aus diesem theologischen Verständnis die Möglichkeit,
die sakramentale Mitte des ekklesiologischen Selbstverständnisses
zu dem Christuswort von der Löse- und Bindegewalt des Petrus (Mt
16) in Beziehung zu setzen. Was jeder römisch-katholische Bischof
im eucharistischen Opferakt vollzieht, verdichtet sich in der
Schlüsselgewalt des Apostolischen Stuhles auf einem bevorzugten
Bischof. Das juristische Element der Versöhnungslehre findet
seine pontifikale Ausgestaltung im judikalen Charakter der
römischen Primatslehre … Der sakramentale und der sakrifizielle
Typ des Amts treten auseinander. Für die kirchenrechtliche
Entwicklung bedingt dies auf der Seite der Ostkirche die Tendenz
der Gleichordnung aller Bischöfe mit beschränkten historischen
Ehrenprimaten, auf der Seite der Westkirche zur jurisdiktionellen
Vereinheitlichung unter einer einzigen Leitung.”
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Während man in der Ostkirche entsprechend dem paritätischen Episkopalismus die Gleichstellung aller Apostel betont, sprach man im Westen vom „Privileg des Petrus”. Papst Leo I., der Große (440-461), hat dem in einer Predigt klassischen Ausdruck verliehen (Mirbt 169). (Anm.: Staat vieler Belege sei nur auf das Beispiel Mirbts 216, eine Äußerung Gregors d. Gr. zum Meßopfer, hingewiesen: „Hinc ergo pensemus quäle sit pro nobis hoc sacrificium, quod pro absolutione nostra passionem unigeniti filii semper imitatur.”)
Schon in der patriotischen Tauflehre zeichnet sich die Spaltung zwischen lateinischer und griechischer Kirche ab.45 Diese frühe Scheidung zwischen sakramentaler und sakrifizieller Theologie macht die Probleme deutlich, die diese Entwicklungen ausgelöst haben. Es ist keineswegs ausgemacht, daß eine dieser Linien ein ausschließliches Recht und die unverkürzte Wahrheit für sich habe, daß etwa die Ostkirche lediglich einen illegitimen Sonderweg gegangen sei. Im Gegenteil stellt sich heute die Frage nach ihrer positiven Bezüglichkeit. Die Linie der lateinischen Theologie hat bis zum großen Schisma von 1054, bis zur dauernden Trennung von Westen und Osten, nicht zu einem Grade der rechtlichen Ausprägung geführt, die sich als eigener objektiver Typus in der Verfassungsgeschichte erkennen läßt. Dagegen haben sich dann zu Beginn des zweiten Jahrtausends die Wege sehr deutlich getrennt.
Für den nunmehr getrennten orientalischen Bereich machte sich das Fehlen der kaiserlichen Gewalt in zunehmendem Maße bemerkbar, welche bis dahin die Voraussetzung kirchlicher Einheit gebildet hatte. Das untergegangene Byzanz hat dem nichtapostolischen Kaisersitz den Ehrenprimat seines Patriarchen auf nur noch sehr schmaler Basis hinterlassen, während Moskau die Konzeption eines Dritten Rom zwar auf russische Ambitionen stützen, aber niemals zu gesamtkirchlicher Wirksamkeit bringen konnte. Die Konkurrenz zweier Rechtstraditionen, die sich parallel zur Kircheneinheit verstehen, belastet die spirituale, juristisch wenig gesicherte Einheit der Ostkirche. So besitzt heute die Ostkirche zwar Partikularkirchen, Gemeinden und Orden, aber keine effektive, zu ständigem aktiven Handeln befähigende Gesamtverfassung. Das Element der Gesamtkirche ist in ihr nur sehr unzulänglich in Gestalt des mühsam immer erst herzustellenden Konsenses der selbständigen Partikularkirchen gegeben.
Umgekehrt ist die Entwicklung auf der lateinischen Seite zu verstehen. Hier konnten sich die Ansätze auswirken, die von der geschilderten theologischen und liturgierechtlichen Grundlage her mit steigender Konsequenz eine einheitliche Leitung hervortrieben. Freilich hat sich diese Leitungsgewalt nur in langen geschichtlichen Kämpfen der Mitwirkung oder Selbständigkeit anderer verfassungsrechtlicher Subjekte entledigt, des Kardinalskollegiums, des ökumenischen Konzils, der Nationalkirchen. Die Folgerichtigkeit, mit der das geschehen ist, zeigt, daß hier nicht eine „historische Idee”, sondern ein tragendes theologisches Prinzip wirksam
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gewesen ist. In dem Maße, in dem diese effektive Einheit durchgesetzt wurde, wurde die rechtliche Rolle der Partikularkirchen und Gemeinden herabgedrückt. Die Partikularkirche wurde zur vereinzelten, der Gesamtleitung unmittelbar unterstellten Diözese, die Gemeinde zum Seelsorgebezirk des Bistums. Schließlich wurde die Diözese zur Gemeinde höherer, die Gemeinde als Seelsorgebezirk, als Ausschnitt, „portio”, zur Gemeinde niederer Ordnung; diese letztere entbehrt bisher über pastoral-seelsorgliche Funktionen hinaus der selbständigen kirchenrechtliche Stellung (Exkurs V, S. 197 ff.). Ihrer Bedeutung beraubt wurden insbesondere die Querverbindungen zwischen den Diözesen, die Metropolitan- und Provinzialverfassung. Die Entstehung selbständiger Primatbischöfe im Bereich der lateinischen Kirche hatte der römische Stuhl im Laufe der Geschichte verhindern können, weil die apostolische Tradition im Westen durch die Wirksamkeit der Apostel Petrus und Paulus sich auf Rom beschränkte. Infolgedessen haben die Sitze von Arles und Canterbury, später von Salzburg, Mainz, Bremen und Lund, keine selbständige Bedeutung zu gewinnen vermocht, obwohl die lateinische Kirche von der unausgetragene Spannung zwischen Zentrale und Nationalkirchen durchzogen wird. Auf diese Weise enthält die lateinische Kirche wiederum nur drei Elemente — eine höchst effektive gesamtkirchliche Leitung mit voller bewußter Rechtssubjektivität, die diözesane Großgemeinde und die Orden.
In diesem Gefälle bedeutet dann die Reformation nicht nur einen Einschnitt, sondern auch eine Variante unseres Problems. Sie zerstörte nachhaltig jede in ihrem Bereich vorhandene gesamtkirchliche Leitung und bildete diese auch nicht in eigener Form neu. Sie führte dagegen zur Ausbildung selbständiger Partikularkirchen und erneuerte das in der römischen Kirche verkümmerte selbständige Recht der Gemeinden. Obwohl sie in den großen Konfessionskirchen durchaus volkskirchlichen Charakter trug, unterdrückte sie zugleich den vierten Bereich, den der Orden. Diese Unterdrückung aber schlug in ihre eigenes Gefüge durch eine ständige unausgetragene Spannung zwischen volkskirchlicher Gesamtgemeinde und erwählter Heiligungsgemeinde zurück.
Bei alledem besteht ein empfindlicher Widerspruch zwischen der unbestreitbaren geistlichen, kirchengeschichtlichen und allgemeingeschichtlichen Bedeutung der Orden einerseits, ihrer subjektiven und vielfach ästhetisierenden Wertschätzung auf der protestantischen Seite andererseits, und dem gleichzeitigen Unvermögen der reformatorischen Theologie, ihnen einen angemessenen Platz in ihrem Bilde von Kirche zuzuweisen. Die ekklesiologischen und soziologischen Folgen, welche durch die Zerstörung der Ordenstheologie, die Akademisierung und Verbürgerlichung der theologischen Ausbildung und die Monopolstellung der Fakultäten entstanden sind, liegen vollends außerhalb des Horizonts. Die Existenzdialektik des Christen und der Kirche, die in jenen gegensätzlichen Formen gelebt und zugleich zur Darstellung gebracht wird, wird
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jedem einzelnen Christen mit der Wirkung aufgelastet, daß ihre Spannung in einer Art Parallelogramm der Kräfte zum Erliegen kommt.
Während die lutherische Kirche alle in dieser Richtung weisenden Kräfte mit großer Entschlossenheit bekämpfte, versuchte die reformierte Kirche, das Problem durch eine Verschärfung der Gemeindedisziplin zu lösen. Das Scheitern dieses Versuches wird an dem Ausgang der Ehegerichtsbarkeit in den Kirchen der oberdeutschen Reformation sehr deutlich.46 Die Folge dieser unbewältigten Probleme war, daß sich sozusagen links von den großen Konfessionskirchen als eine Art Ersatz für das verdrängte Ordenswesen freikirchliche Gemeinschaften als Minderheitskirchen herausbildeten, die seither ein fast unübersehbares Spektrum der Fortbildungen zeigen. Sie sind in vielen Formen den Gefahren der Sektenbildung erlegen, besitzen aber in ihrem Kern die kirchenrechtliche Legitimität notwendiger Minderheitsbildung im dialektischen Verhältnis zur Großkirche. Sie setzen sich dabei dem Vorwurf aus, aktive und engagierte Christen aus der Großkirche zu deren Schaden herauszuziehen, dieser aber die sehr umfassenden geistigen und sozialen Verantwortungen zu überlassen, während sie sich — im Gegensatz zu den Orden und analogen Verbänden — weder zum Dienst der Gesamtkirche verpflichtet wissen noch sich deren Kritik stellen. Im Ganzen genommen haben die reformatorischen Kirchen das hier liegende Problem nicht zulänglich erkannt. Die immer erneuten Lösungsversuche der reformierten Seite, die etwa in der Konfirmationslehre deutlich hervortreten,47 zeigen daß das Problem erst noch zu bewältigen ist.
Die Verfolgung jener vier Elemente der Kirchenverfassung durch die ganze Geschichte bietet einen Prüfstein für Entscheidungen und Verhältnisse, die je für sich, objektiv und absolut genommen, nicht zulänglich verstanden werden können.
Wir befinden uns aber heute unzweifelhaft in einer Lage, in der die früheren Lösungen nach den verschiedensten Richtungen überschritten werden. In jeder der historischen Lösungen macht sich heute die in ihre liegende Verkürzung deutlich bemerkbar.
In der römischen Kirche können heute die Partikularkirchen nicht mehr übergangen werden; die Zusammensetzungder Kirche aus Partikularkirchen, die Existenz und Konsistenz der Kirche in solchen, ist vom II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich anerkannt worden.
Dem entspricht auch der oben zitierte Canon 2 des Entwurfs einer Lex Ecclesiae Fundamentalis. Die Neubildungen des Gemeinderechts auf konziliarer Grundlage sind dagegen verfassungsrechtlich noch nicht rezipiert. Der erwähnte Entwurf erwähnt sie überhaupt nicht und behandelt praktisch alle Bildungen unterhalb und außerhalb der Bischofssynoden, die gesamte Diözesan- und Parochialverfassung als solche bischöflichen Rechts, als widerrufliche Gestaltung auf administrativer Grundlage.
Die Neubildung des Gemeinderechts auf römischer Seite wird freilich
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zugleich eines Teiles ihrer Bedeutung durch Entwicklungen beraubt, die auf Grund der modernen sozialen Bedingungen zur Bildung von übergemeindlichen Verbänden im Rahmen der Diözese drängen. Es wird hier besonders deutlich, daß die einer Strecke weit unvermeidliche Deckung von Gemeinde und Parochie nur eine bedingte ist.
Die Ostkirche wird durch den Zwang der ökumenischen Bewegung veranlasst, ihre eigenen Verfassungsstrukturen zu überprüfen und nach Formen zu suchen, in denen sie ihre Gemeinsamkeit in diesem unausweichlichen Beziehungsfelde mit der erforderlichen Ständigkeit geltend machen kann. Sie wird erstmalig seit einem Jahrtausend gezwungen, Leitungsformen auszubilden, die in dem scheinbar uneränderlichen Traditionsbestand bisher nicht vorhanden waren. Auch in diesem Zusammenhang ist der Plan zu sehen, einen gemeinorthodoxen Codex Iuris Canonici zu schaffen48.
Im Bereich der reformatorischen Kirchen ist mit der Bildung konfessioneller Weltbünde und durch die Zugehörigkeit zum Ökumenischen Rat der Kirchen die Notwendigkeit entstanden, die Frage der Gesamtkirche und ihrer rechtlichen Struktur in einer Weise zu überprüfen, die bisher außerhalb ihres wesentlich partikularen Horizonts lag49. Die These, daß der ökumenische Rat der Kirchen eine Superkirche weder sei noch sein wolle, ist im Verhältnis dazu nicht mehr als eine Trivialität. Denn daß auf dem Wege eines vereinsmäßigen Zusammenschlusses eine universale Kirche nicht konstituiert werden kann, sollte aus fundamentalen theologischen Einsichten klar sein. Die Veränderung der Gesamtsituation wird auf der anderen Seite durch die Tatsache sichtbr, daß es im reformatorischen Bereich zur Neubildung von selbständigen Gemeinschaften gekommen ist, die — mit oder ohne monastische Elemente — den bisher unbesetzten oder durch Sekten okkupierten Bereich der Orden einnehmen.
Die Freikichen wiederum, die an vielen Stellen den Typus der Volkskirche angenommen haben, sind im Begriffe, ihre Stellung zu den Großkirchen zu überprüfen und folgeweise neu zu gestalten, während diese ihrerseits zu einer differenzierten Revision ihres Urteils über die Freikirchen gelangt sind.
Schließlich sind die Bewegungen zu erwähnen, die — bisher ohne breitere Wirkung — doch modellartig die Gesamtkiche auch in lokaler Einheit zu verwirklichen trachten. Hierhin gehören etwa die Unionsverhandlungen im Bereich der Kirche von England, die Kirche von Südindien, die Bildung nationaler Christenräte, die Annäherung der konfessionellen verschiedenen Missionen. Von der gemeinschatlichen diakonischen Wirksamkeit kann in diesem verfassungsrechtlichen Zusammenhange einigermaßen abgesehen werden, zumal der Weg dieser Gemeinsamkeit häufig unter der Voraussetzung gesucht wird, daß ekklesiologisch und kirchenrechtlich eine effektive Vergemeinschaftung nicht oder noch nicht möglich sei.