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Die Kirchengeschichte hat sich — ausgedrückt in institutionellen Bildungen — in einer Kette von Spaltungen vollzogen. Augustin hat das Wort von der „anima naturaliter christiana” geprägt. Man kann dieses Wort dahin abwandeln, daß diese anima zugleich eine anima haeretica ist, aber in einem wesentlich anderen Sinn, als der traditionelle Haeresie-Begriff verstanden wird. In der Kirchengeschichte sind die im christlichen Glauben enthaltene wesentlichen und bezüglichen (dialektischen oder komplementären) Gegensätze aufgebrochen und in ihre Elemente auseinandergetreten; dadurch ist zugleich immer von neuem die Kraft zur positiven, von einzelnen Zentralmotiven ausgehenden, durchgängigen Gestaltung entbunden worden.
Unter Häresie versteht man bisher die Überbewertung oder Absolutsetzung einer Teilwahrheit, die eben darum in eine unfruchtbare Abseitsstellung geraten muß. Im Gegensatz dazu haben die hier gemeinten Spaltungen die positive Möglichkeit umfassender Neugestaltung dargeboten.
Die erste dieser Spaltungen war diejenige zwischen sakramentaler und sakrifizieller Struktur des liturgischen Handelns und folgeweise der Kirchenverfassung. Es sind jene Vorgänge, die sich schließlich im großen Schisma von 1054 nach langen, immer wieder aufbrechenden Spannungen über alle partikularen und zufälligen geschichtlichen Gründe hinaus niedergeschlagen haben.56
Die zweite Spaltung ist diejenige zwischen Katholizismus und Protestantismus. Die Bezüglichkeit beider Größen ist bisher sowohl durch die konfessionelle Polemik als auch durch einen versöhnenden Irenismus verdeckt worden. Fast als einziger Theologe hat Paul Tillich57 in seinem Aufsatz „Über die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus” gezeigt, daß sich hier der priesterliche und der prophetische Typus als Antithesen geschieden haben.
Die dritte Spaltung ist diejenige zwischen den beiden großen reformatorischen Konfessionen. Sie ist, wie zu zeigen sein wird,58 eine Konsequenz der hochmittelalterlichen Verfassungsgeschichte und in der Sache eine Spaltung von militia und civitas.
Da aber diese reformatorischen Konfessionen die Dialektik von Kirche und Welt nicht mehr im Gefüge der Kirche selbst institutionell darzustellen imstande waren, hat sich zwischen den konfessionellen Großkirchen
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und der protestantischen Linken eine neue Antithese von Großkirche und Gemeinschaften freier Wahl herausgebildet.
Die positive Bedeutung dieser Gesamtbewegung liegt darin, daß durch die Existentialisierung eines Teils eine neue positive Verdichtung in partikularen Gestaltungen möglich geworden ist. Diese haben sich nicht, wie es in der Konsequenz und im klassischen Begriff der Häresie liegt, in Sonderbildungen verlaufen. Sie haben im Gegenteil mit dem größten Einsatz die Verantwortung dafür übernommen, das Ganze christlicher Existenz in sich neu darzustellen. Sie haben Dogmatik, Ethik, Kirchenverfassung in eigener Weise, umfassend und zugleich mit dem Anspruch auf Suffizienz und Allgemeingültigkeit neu durchgebildet.
Damit ist unvermeidlich der Denkzwang entstanden, den tatsächlich partikularen Charakter, die eingetretene Vereinseitigung aus dem Bewußtsein zu verdrängen und durch das Postulat zu ersetzen, daß dieser Teil virtuell das Ganze sei. Was hier nicht einbezogen werden kann, muß entweder als irrelevant oder als schädlich, als Irrlehre und Irrweg qualifiziert werden, obwohl es unzweifelhaft seine geistliche und historische Lebenskraft bewährt. Die Ekklesiologie wird einer ausschließlich zweiwertigen Logik unterstellt, die keine andere Beziehungsformen zuläßt. Die kritische Frage nach der materialen Katholizität der je einzelnen Bildungen wird nicht ernstlich gestellt.
Im Gegensatz zu relativierenden Branch-Theorien oder verdammenden Abfalltheorien muß die kraftvolle Positivität in den Blick genommen werden, die durch diese Bewegung der Individuation möglich geworden ist. Hier handelte es sich um aktive Individuationen; es entstehen geschichtliche Einheiten, eine Art Quasi-Subjekte mit einer eigenen Geschichte, eigenem Bewußtsein und eigener institutioneller Repräsentanz.
Das Besondere dieses Vorgangs, ausgedrückt nicht zuletzt in der Verfassungsgeschichte der Kirche, liegt darin, daß die einzelnen historischen Formen, die zeitlich aufeinanderfolgen, zugleich nebeneinander bestehen bleiben. Die uns bekannten weltlichen Gemeinwesen und gerade die im geschichtlichen Kontext des Christentums lebenden Staaten machen eine Verfassungsgeschichte durch, in welcher die eine politische Form die andere ablöst. Der Ständestaat hat das Lehnswesen, die absolute Monarchie den Ständestaat, die verfassungsmäßige Monarchie die absolute, und schließlich die Demokratie die Monarchie abgelöst. Daß die Epochen jeweils noch rezessive Restmomente der vorangegangenen enthalten, ändert an dieser sukzessiven Entwicklungsform offensichtlich nichts. Im Gegensatz dazu hat die Jurisdiktionshierarchie der lateinischen Kirche die altkirchliche Form der liturgischen Hierarchie in Gestalt der Ost-Kirche nicht aus der Welt geschafft. Die Reformation hat nur einen Teil der lateinischen Christenheit erfaßt, und der auf das Luthertum mit kurzem Zeitabstand folgende Calvinismus hat wieder nur einen Teil der
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reformatorischen Einflußzone besetzen können. Dieses Nebeneinander sukzessiver Formen ist eine unverwechselbare Eigentümlichkeit der Kirche, die bisher nie beachtet worden ist, weil das konfessionelle Selbstverständnis den Blick für die fortdauernde geschichtliche Einheit der Kirche verstellt hat.
Diese Bewegung kann in ihrem wesentlichen Kern und Antrieb gerade nicht, wie of versucht, auf historisch-nationale Besonderheiten gewisser Völkergruppen zurückgeführt werden. Denn innerhalb unseres Kulturkreises sind die verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen in den verschiedenen Ländern, wenn auch mit beträchtlichen partikularen Unterschieden, parallel gegangen. Die politische Verfassungsgeschichte hat unzweifelhaft einen universalen Zug, der mit der allgemeinen Geistesgeschichte im Zusammenhang steht. Wie die Branch-Theorie ist also auch die Reduktion auf jene historisch-nationalen Unterschiede ungeeignet, den Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Nebeneinander und dem behaupteten universalen Wahrheitsanspruch aufzuheben. Diese Besonderheiten bedeuten nicht mehr als begünstigende Dispositionen, die durch die unterschiedliche Stärke und Form der Traditionsbildung potenziert werden.
Für das Problem der aktiven Individuation ist das bekannte Standardwerk von Linton über die Geschichte der Erforschung der Urkirche von besonderer Bedeutung. Es hat jedoch, wie es scheint, auf die Exegese keine wesentlichen Wirkungen ausgeübt. Wenn er nachweist, daß über einen langen Zeitraum die bedeutendsten Forscher in ihre Ergebnisse die Modellvorstellungen ihrer Zeit eingetragen haben, so handelt es sich nicht um banale Fehler mehrerer Einzelner oder einer bestimmten Zeitepoche, der freilich diese Vorstellungen entsprechen. Es erweist sich vielmehr, daß die philologisch und ideengeschichtlich gewiß hervorragend geschulten Theologen nicht die methodischen Voraussetzungen mitbringen, um rechts- und sozialgeschichtliche Tatbestände in den kanonischen Texten teils überhaupt zu erkennen, teils, wenn thematisch erkannt, angemessen auszulegen. Soziale Lebensformen sind eben nicht die Verwirklichung literarisch formulierter Programme und Ideen, normativer Vorstellungen, die ihren zulänglichen Ausdruck in Texten gefunden hätten. Ideengeschichte und Realgeschichte sind zweierlei. Hier hilft freilich auch eine Soziologisierung der Theologie nichts. Denn diese Soziologie hat sie heute zu einem System abstrakter Begriffe ausgebildet, die gemeinhin nicht exakt definiert und zugleich unbegrenzt auslegbar sind. Ihr Zusammenhang zur Geschichte ist subjektiv und objektiv weitgehend gelöst. Er wird ersetzt durch die Schemata bestimmter Geschichtsphilosophien, die regelmäßig auf bestimmten Religionsphilosophien aufruhen, deren ungeklärte Voraussetzungen und Periodisierungen für die Theologie unannehmbar sind. Etwas Anderes ist die Einbeziehung einer rechtssoziologisch reflektierten, sorgfältig in die Einzelheiten eindringenden
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Rechtsgeschichte. Es ist nicht erkennbar, daß das von Linton gezeigte Scheitern methodisch beachtet worden ist. Man hat im besten Falle die hier nachgewiesenen einzelnen Fehlers ausgeschieden, den methodischen Mangel aber nicht behoben.
Das soziologische Ergebnis, das Linton formuliert, die Beschreibung der Urkirche als „ungleichmäßig beschließende Versammlung”59 ist soziologisch durchaus treffend, in seiner Tragweite von ihm aber nicht erörtert und auch weiterhin nicht bedacht worden. Es stellt sich nämlich die Frage, in welchem Maße hier eine Übereinstimmung der sozialen Formen mit der Umwelt vorliegt, und wie weit es sich um originale Bildungen handelt. Gerade wenn es sich, wie Linton zeigt, bei der Urkirche um archaische Formen handelt, hat hier die Urkirche ihre eigene Originalität, ihren eigenen „Geist der Frühe”. Offenheit der Form, Vielfalt und Produktivität der Gestaltung wie der Gemeinschaftscharakter sind Wesenselemente, die den Soziologen keineswegs verwundern werden. Ebensowenig ist verwunderlich, daß diese Ursprungslage sich durch Befestigung der Formen, Einbeziehung von Erfahrungen und Bildung von Tradition abklärt. So unzulänglich biologische Vergleiche für geistig-soziale Prozesse sind, sind sie doch mit Vorbehalt erhellend. Daß aus dem biegsamen Schössling nach einiger Zeit ein fester Baum wird, ist kein Zeichen der Krankheit. Es ist deswegen, in die Geschichte übertragen, auch kein Sündenfall.
Es scheint mir unmöglich, die Lebensformen der Urgemeinde wesentlich auf die Umgebung zurückzuführen. Denn wenn diese Umgebung im palästinensischen Bereich eine Strecke weit archaische Formen aufwies, so bestand zugleich in unberechenbarem Maße der Einfluß der hellenistischen, sozialgeschichtlich späten Zivilisation. Beides muß ineinander gewirkt haben. Auch sind die Gemeinden, an die Paulus schreibt, und die als pneumatische Geistgemeinden bezeichnet werden können, zum großen Teil nicht im palästinensischen, sondern gerade im hellenistischen Bereich, im Gebiet einer ganz anderen rechtlichen und sozialen Tradition. Die Kirche lebt also in sehr verschiedenen historisch-sozialen Umweltbezügen, in denen sich alle Stufen sozialer Organisation vorfinden. Kirche und Urgemeinde haben eine unverwechselbare Eigenständigkeit, die sie als eigenes historisches Subjekt zu verstehen nötigen. Eine Reduktion auf die Umwelt würde entschiedene Züge ganz unverständlich machen.
In dieser eigenen Geschichtlichkeit der Urgemeinde und frühen Kirche steckt freilich ein sehr viel grundsätzlicheres Problem. Es ist das Verhältnis eines Neueinsatzes zur vorangehenden Geschichte. Dieses Verhältnis kann sich in einer zweifachen, gegensätzlichen Dialektik vollziehen. Entweder wird das Bisherige in eine neue Form aufgehoben, so daß der Ertrag der vorangegangenen Epoche in einem wesentlichen Überschritt transformiert und neu dargestellt wird. Es wird weder das Alte vernichtet noch wird die grundsätzliche Neuheit durch diese Aufnahme in Frage
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gestellt. Oder aber: es stehen sich Alt und Neu in radikaler Opposition gegenüber: das Alte erscheint als verderbt und überwunden; alles ist neu geworden. Es ist nun charakteristisch, daß beide Formen in der Geschichte der Kirche nebeneinander bestehen. Die Verheißung des Alten Bundes wird im Neuen erfüllt. Infolgedessen wird kein Tüttelchen vom Gesetz aufgehoben und doch tritt alles in einen neuen Zusammenhang und Horizont. Zugleich aber tritt etwas radikal Neues auf den Plan, das das Alte nicht mehr braucht. Es macht die großartige Weite des NT aus, ja es hat grundsätzliche Bedeutung, daß beide Linien unverrechnet nebeneinander bestehen, die Übernahme sogar der genealogischen Tradition des Volkes Gottes, der Wurzel Jesse, des davidischen Königtums, wie der radikale Neuansatz. Jeder Versuch, das Eine oder das Andere als den alleinigen Maßstab zu verstehen, würde das Ganze vernichten. Begreiflicherweise ist immer wieder der Versuch gemacht worden, das Eine oder Andere, die Fortsetzung der Tradition in einer neuen Ermächtigung oder die radikale Neuheit zum einzigen Mittel des Verständnisses und Aufbaus zu nehmen.
Wie grundlegend diese Frage ist, zeigt in der Gegenwart die Geschichte des Marxismus in den Ländern, die seiner Herrschaft unterworfen worden sind. In den institutionellen Herrschaftsformen des Marxismus, insbesondere der Verfassungsform des demokratischen Zentralismus sind die durch die französische Revolution erreichten bürgerliche Freiheitsrechte nicht in die Ordnung einer neuen geschichtlichen Stufe aufgehoben, sondern im Gegenteil völlig vernichtet worden, wobei im besten Fall ein äußerer formaler Typus aufrechterhalten bleibt (Äußerungsfreiheit mit Zensur, allgemeine Wahlen ohne Entscheidungsmöglichkeit, Parlamentsverhandlungen ohne politische Alternativen). Diesen Tatbestand zeigt mit voller Klarheit der jugoslawische Marxist Stojanovic in seiner Schrift „Kritik und Zukunft des Sozialismus”.60 Außerhalb seiner Erwägung liegt naturgemäß, daß diese Geschichtsproblematik längst vor Hegel und Marx im N.T. angelegt und zugleich als Frage beantwortet ist.
Die Kirche würde ihre eigene geschichtliche Grundlage verkennen und in Frage stellen, wenn sie dieses Miteinander von positiver Aufhebung und radikalem Neuanfang theologisch und morphologisch — verfassungsrechtlich auseinandertreiben ließe. Dies um so mehr, als hier nicht zunächst Geschichte philosophisch reflektiert, sondern bezeugt und tradiert wird.
Dieser Verbindung aber hat auch die Verfassungsgeschichte der Kirche in ihrer deutlichen Eigenbewegung entsprochen. Sie hat einerseits die Tradition des jüdischen Presbyterats und Rabbinats mit der Ordination, andererseits die eigenständigen Formen des Bischofs und Diakons ausgebildet. Beides ist dann verschmolzen worden.
Hier genügt festzustellen, daß die Kirche ihre eigene Verfassungsgeschichte begonnen hat, als selbständige historische Erscheinung mit eigenen,
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unverwechselbaren Antriebskräften und Gestaltungen, die sich — mit ausdrücklichem Vorbehalt gegenüber dem Begriff selbst sei es gesagt — als eigenes geschichtliches Subjekt ausweist. Der Bischof ist gewiß nicht die einzige dieser markanten originären Formen. Wären für seine patriarchalische Stellung noch allenfalls für sich allein betrachtet soziologische Analogien beizubringen, so gewiß nicht für die begriffsbestimmenden Zugehörigkeit zu einer universalen, unbegrenzt ausdehnbaren Gemeinschaft Gleichberechtigter.
Die Verfassungsgeschichte ist seither weitergegangen. Ein Einschuß außertheologischer Faktoren hat ihre Eigenart nicht aufzuheben, abzubrechen vermocht. Daß dies soweit verkannt worden ist, beruht auf dem Zusammenwirken mehrerer Einflüsse. Die liberale, im Atheismus und Marxismus radikalisierte Kirchenkritik beruht auf der petitio principii, der Kirche ihre Eigenständigkeit zu bestreiten und sie wesentlich als das unbewußte (etwa gar komplizenhaft korrumpierte) Objekt sozialgeschichtlicher Außenwirkungen und zufällig-subjektiver Interessen zu deuten. Von der grundsätzlichen Bestreitung der geschichtlich-konkreten Eigenständigkeit aus — hinter der nur eine stets unfassbare Spiritualität übrigbleiben könnte — wird die sachgemäße Interpretation der aktiven Individuation unmöglich. Dagegen haben in der wissenschaftlichen — die Kirche in unterschiedlichem Verstande bejahenden — Kirchengeschichte und Kirchenrechtsgeschichte positive Geschichte und Theorie niemals zueinander gefunden. Beide wurden behindert und beschränkt durch die normativen Ansprüche der jeweiligen konfessionellen Theologie; sie vermochten daher niemals den Gesamtgegenstand als ökumenische Einheit zu erfassen. Die theologischen Teilnehmer an dieser Arbeit entbehren regelmäßig die erforderlichen — durch Vulgärjurisprudenz nicht ersetzbaren — verfassungstheoretischen Schulung. Die Juristen umgekehrt hielten sich verpflichtet, der Autorität ihrer Theologen anstelle der Phänomenalität der Sache zu folgen. Der Widerspruch zwischen Normativität und Phänomenalität ist niemals klar formuliert, geschweige denn überwunden worden.
Der Prozeß der Individuation muß zur Vermeidung von immer neu sich bildenden Mißverständnissen in seinem grundsätzlichen Gehalt erörtert werden.
Die Urgemeinde hat im Übergang in ihre eigene Geschichte dreierlei getan:
a) Sie hat den Zustand der Unsicherheit, Ungewissheit und Vorläufigkeit beendet. Das Element der Naherwartung wäre mißverstanden, wenn daraus eine Art Bruch des Geschichtshorizonts abgeleitet würde. Unter dieser Voraussetzung stellt sich von vornherein das Problem der Struktur in der Geschichte. Eine auch in späteren Zeiten weiter fortlebende, insbesondere pietistische Haltung der Naherwartung ist etwas anderes. Sie widerspricht sich selbst, wenn sie zur Dauerhaltung wird. Sie fällt
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dann in den systematischen Folgerungen und Implikationen mit
einem grundsätzlichen Aktualismus zusammen.
Die Urgemeinde hat sich dann mit zunehmender Folgerichtigkeit für
bestimmte Lösungen entschieden, die sich ohne Plan und Leitung
herauskristallisieren. Eine Rückverweisung auf theologische
Weiterarbeit, auf den ständigen regressus ad infinitum war damals
noch nicht erfunden. In einer offenen Lage wurde unbefangen und
im Vertrauen auf den Beistand des Geistes gehandelt und
gestaltet.
Deutlich ist hier jedoch gerade in der Ursprungssituation die
Form des Missionsrechts, und zwar bereits in zwei
unterschiedlichen Formen. Die Jerusalemer Gemeinde als praktisch
einzige und grundsätzlich einzigartige wählte die zur Mission
Geeigneten aus, beauftragte, bevollmächtigte und entsandte sie in
den von der Apostelgeschichte bezeugten ordinationsähnlichen
Formen. Diese Missionare hatten die entsendende Gemeinde im
Rücken, aber noch keine Gemeinde gegenüber, die als mündige in
irgendeinem Sinne Bedeutung gehabt hätte.
In anderer Weise hat Paulus auf Grund seiner besonderen
persönlichen Berufung ohne die Mitwirkung der Gemeinden ein
apostolisches Missionsrecht ausgeübt, indem er mit ebenso viel
Autoritätsbewußtsein wie bescheidener Zurückhaltung und
geistlicher Vorsicht auf die von ihm gegründeten oder
vorgefundenen Gemeinden eingewirkt hat. An keiner Stelle ist
seine Autorität von dem Beispruch der Angesprochenen abhängig, an
deren freie Bereitschaft er gleichwohl immer appelliert. Der im
kanonischen Recht festgehaltene Unterschied zwischen Gebieten der
Mission und bestehenden voll ausgebauten Gemeinden ordentlichen
Rechts, ist in der Sache begründet. Er muß immer dort
wiederkehren, wo die Nachfolger in Mission und Apostolat selbst
schon solche sind, die von dem betreffenden Apostel oder
Missionar gewonnen, bekehrt und eingeführt worden sind.
b) Die Urgemeinde hat sich zwischen bestimmten Möglichkeiten der Gemeindeordnung entschieden. Selbst diese Aussage ist jedoch nur im formalen Sinne notwendig, inhaltlich dagegen fraglich. Die von der neueren Exegese herausgearbeiteten und betonten, gleichsam konfessionellen Unterschiede der theologischen Konzeption von Kirche und Gemeinde sind weitgehend solche vor dem Übergang in den geschichtlichen Prozeß der Tradition, gleichsam nur Vorerwägungen, prolegomena auf eine erst zu ergreifende Zukunft. Tatsächlich dagegen ist nicht erkennbar, daß im Fortgang der Geschichte wesentliche, real mögliche Alternativen der Gestaltung ausgeschieden und durch die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten beiseite gestellt worden sind. Denn die zwei Hauptlinien, die alttestamentlich-presbyterale und die neue einsetzende episkopale Linie unter Zuordnung des Diakons haben sich im historischen Fortgang zu einer Einheit verschmolzen. Keine der beiden ist rein verwirklicht und ausschließlich gültig geworden;
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keine der beiden wurde beiseite gestellt und sozusagen
stillgelegt. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, daß die
Verschmelzung dieser beiden Ansätze nicht bruchlos gelungen ist;
sie störten und stören sich deutlich, wenn auch in
unterschiedlichen Maße bis in die Gegenwart in den analysierbaren
Verfassungsformen der Kirche. Gerade Abe die Unvollkommenheit
dieses Verschmelzungsprozesses zeigt seinen geschichtlichen
Charakter. Nicht ideale Konzeptionen werden nach der Vorstellung
eines theologischen Denkers verwirklicht, sondern reale
Lebensformen mit einem bestimmten existentiellen Wahrheitsgehalt
werden in deutlicher Unvollkommenheit und nicht ohne Widersprüche
miteinander verbunden.
Infolgedessen kann für die reale Geschichte der Kirche von einer
offenen Pluralität der Traditionen in dem Sinne ursprünglicher
Konfessionsbildung differenter Theologien gerade nicht gesprochen
werden. Und hier ist mit Ernst Käsemann gegen seine
Konfessionstheorie festzustellen, daß die paulinischen Gemeinden
mangels einer spezifischen sozialen Form in der Geschichte nicht
fortpflanzungsfähig gewesen sind. Lebensformen, die nicht
vermittelt werden können, sind für eine missionarische Kirche
ungeeignet. Ein Vorbild, das nicht nachgebildet werden kann, ist
in Wirklichkeit gar keines. Vollends haben die Reformatoren,
welche sich gegen die Verderbnis der institutionellen Tradition
der Kirche auf die kanonischen Vorbilder der biblischen Gemeinden
beriefen, ernstlich gar nicht versucht, diese Vorbilder zu neuem
Leben zu erwecken. Es besteht allenfalls nur der Unterschied, ob
sie unter den gegebenen Umständen darauf bewußt verzichtet oder
ob sie, historisch naiv, gemeint haben, in ihren Neuschöpfungen
diesem Vorbild zu folgen, obwohl davon ernstlich und objektiv gar
keine Rede sein kann.
c) Die Urgemeinde hat sodann nicht nur der Naherwartung, sondern
auch irrealen, schwärmerischen Vorstellungen und Konzeptionen
abgesagt. Sie hat die Aufgabe von Ausbreitung und Mission unter
harten Bedingungen auf sich genommen und die Formen wählen
müssen, in denen allein die Übertragung auf die nachfolgende
Generation und auf andere als die jeweiligen örtlichen und
persönlichen Verhältnisse überhaupt denkbar waren.
Die Entscheidung zur Geschichte bedeutet also eine Absage an eine
bestimmte Form von spiritualistischen Pneumatologie. Hat die
Kirche vielmehr sowohl die Dualität von alttestamentarischer
Tradition und neutestamentlichem Neuanfang festgehalten und in
der spannungsvollen Verbindung zweier Verfassungskonzeptionen
unter Beiseitestellung möglicher anderer Lebensformen
verwirklicht und verweist sie hier auf ihre eigenen
Verfassungstradition, so wäre sie immer noch in gutem Recht, wenn
sie das Recht der historischen Kontingenz in Anspruch nähme.
Tatsächlich jedoch hat sie auch in den konkreten und insofern
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immer kontingenten Formen geschichtlicher Gestaltung ihre
erkennbare Grundausstattung einbezogen.
Ein Rückgang auf diese Situation ist in keinem Sinne möglich.
Sinnlos ist der Rückschritt auf eine Ekklesiologie, deren
Geschichtsuntauglichkeit erwiesen ist und auch von Exegeten
ausdrücklich eingeräumt wird.
Was in jedem Zeitpunkt möglich und notwendig ist, ist nicht eine
Reformation, die einen ursprünglich maßgeblichen oder womöglich
„idealen” Ansatz von Neuem zu verwirklichen sucht und die sich
dann zu diesem Ursprung verhält, wie die antikisierenden
Humanisten des 16., 18. und 19. Jahrhunderts zur wirklichen
Antike. Möglich und notwendig ist immer nur eine Transformation,
die den Ursprungssinn unter den Bedingungen der eigenen
Geschichte und in Wahrung der Identität neu zu verwirklichen
sucht. Es bleibt der Einsicht und Erfahrung der Theologen gern
überlassen nachzuweisen, wie sich die Urgemeinde im Übergang zu
ihrer eigenen Geschichte anders hätte verhalten sollen und
können, als sie es tatsächlich getan hat. Der
Verfassungshistoriker kann darauf verweisen, daß die
frühkirchliche Verfassung für die Aufgabe von Ausbreitung und
Mission — gerade vorkonstantinisch — sich in Staunen erregendem
Maße als tauglich erwiesen hat. Der in ihr vollzogene Ausgleich
zwischen der festgehaltenen Universalität der Kirche und der
Partikularität der je einzelnen eucharistischen Gemeinde ist ein
geradezu genialer Kunstgriff von innerer Folgerichtigkeit, ein
Bildungsgesetz, dem der Konstantinische Bund wie einer
Naturalobligation lediglich die Vollstreckbarkeit und ein Element
der Rationalisierung, jedoch kein Element des Aufbaus selbst
hinzugefügt hat.
Neben dieser Bewegung zur aktiven Individuation verläuft eine zweite Linie der passiven. Das heißt: geschichtliche Subjekte wirken nach den ihnen eigenen Bildungsgesetzen auf die Kirche ein, indem sie Teile der Kirche zu subjektähnlichen Individuen prägen.
Dies ist zum ersten Mal geschehen in dem vielberufenen Konstantinischen Bund.
Die Katholische Konföderation, wie man den vorkonstantinischen Rechtsstand bei allem Vorbehalt gegenüber der Harnackschen Interpretation kurz nennen kann, wurde durch die Verbindung mit dem römischen Imperium eine historische Einheit, die bemerkenswerterweise von ihrem eigenen Selbstverständnis her einer selbständigen Spitze entbehrte.
Daß ein nicht unbedeutender Teil der Christenheit außerhalb des Reichsverbandes stand, ist als Überschreitung des Begriffs mit dem Imperium gleichgesetzten oikoumene nicht reflektiert worden und als Randerscheinung (z.B. Armenien) nur von begrenzter Bedeutung gewesen.
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Die besondere Bedeutung des Konstantinischen Bundes für die Kirchenrechtsgeschichte liegt darin, daß durch die Verbindung mit einem übernationalen Reich, welches sich virtuell mit der zivilisierten Menschheit gleichsetzte, auch der Kirche ihre eigene Einheit sichtbar vor Augen geführt und institutionell für lange Zeit gesichert wurde. Es war dies eine Art geschichtlicher Anschauungsunterricht, der die Kirche seither gehindert hat, ihre Einheit aus dem Blick zu verlieren, wiewohl für unser Geschichtsbewußtsein klar ist, daß auch das Römische Reich zwar eine übernationale, aber keine universale Größe gewesen ist und sein konnte.
Die Bedeutung der Translatio und Imitatio Imperien, der gesamten Reichstradition des Mittelalters, liegt in einem wesentlichen Maß auch darin, daß damit die Gedanke der sichtbaren Einheit der Christenheit vor der Zerstörung bewahrt blieb.
Zugleich hat jedoch die Kirche ebenso von Anfang an wie im zweiten Jahrtausend im steigenden Maß zahllose weitere Individuationen erlitten. Fast jedes politische Gemeinwesen, in dem sie einen integrierenden Bestandteil des öffentlichen Lebens darstellte, prägte zugleich durch seine territoriale Abgrenzung, durch die Gemeinsamkeit der historisch-politischen Bedingungen die Kirche seines Bereichs. Der Vorgang der passiven Individuation kann unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben und beurteilt werden, nach seinem Sitz im Leben und nach seiner kirchenrechtlichen Legitimität.
a) Der Sitz im Leben
Das Christentum hat sich nicht zufällig in einer Zeit und in einem politischen Zustand ausgebreitet, in dem bereits eine weitreichende, sich als universal verstehende politische Ordnung bestand. Dies erleichterte die Wahrung des übernationalen Charakters der Kirche. In den römischen Provinzen waren überall die Traditionskerne der unterworfenen Völker, wenn auch in unterschiedlichem Maße erhalten. Ebenso aber war in unterschiedlichem Grade die übergreifende römische Rechtsordnung und die hellenistische Gesamtkultur wirksam. So schwierig der Überschritt der Kirche aus dem Traditionsbereich Israels in die Gesamtheit der Völker war, so sehr war er doch durch die historische Lage vorbereitet und angezeigt. Er wurde durch die bedeutende Zahl der jüdischen Proselyten erleichtert. Eingeführt in die Tradition des Gesetzes, vermittelten sie die theologische Problematik des alten Bundes in die religiöse Tradition der übrigen Völker. Trotz dieser schwierigen Schwelle war es vergleichsweise leicht, die unterschiedlichen Nationalitäten in einer einzigen großen Kirchengemeinschaft zu vereinen. Dies zeigt sich deutlich an dem Gegensatz zu Gebieten außerhalb des Römischen Reiches in Armenien und Äthiopien, wo frühzeitig geschlossene Nationalkirchen entstanden.
Die vielberufene Anpassung der Kirche an die Verwaltungsorganisation des Römischen Reiches hat einen doppelten realen Grund. Einmal
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ging die Mission von den städtischen Zentren aus und verbreitete sich von dort aus auf das flache Land. Dieses aber hing geistig, ökonomisch und verwaltungsmäßig von diesen Zentren ab. So war es auch missionarisch natürlich, daß man sich an diesen Aufbau anpaßte. Zweitens aber bedeuteten die Provinzialverbände politische Einheiten mit einer eigenen Öffentlichkeit, gemeinsamen Lebensinteressen; sie waren insofern auch mehr als Objekte einer fremden Administration. Im Großen gesehen war kein realer Grund vorhanden, Kirchenverbände entstehen zu lassen, die tendenziell quer zu diesen Lebenseinheiten geordnet waren. Die Spannung zwischen der übergreifenden Universalität der Kirche und der realen Bindung an die vorfindlichen Lebensverhältnisse der ihr anvertrauten Menschen durchzieht wellenförmig die ganze Kirchengeschichte. In dem Maße, in dem das Römische Reich zerfiel und geschlossene völkische Einheiten in seinen Raum eindrangen, bildeten sich von ganz allein, sei es als Arianer, sei es als Orthodoxe, nationale Kircheneinheiten. Diese Individualisierung ist dann von der Bildung des karolingischen Reiches bis zur Höhe des Mittelalters wiederum einer Tendenz der Vereinheitlichung gewichen. Im Schoße dieser Einheit aber bildeten sich neue Individualitäten, die wiederum auch die Kirchenstruktur beeinflußten.
b) Die kirchenrechtliche Legitimität
Als im Schisma Urbans VI. (1378-89) Ende des XIV. Jahrhunderts alle traditionelle Organe des Kirchenregiments, Papsttum, Kardinäle, Kurie und Bischöfe, versagten und die Einheit nur durch eine von Kaiser Sigismund ermöglichte Kirchenversammlung wiederhergestellt werden konnte, traten als Wahlkörper für die Papstwahl zum ersten Mal die großen Nationen auf, in die sich traditionell die abendländischen Universitäten gliederten. Dadurch wurde zugleich die Schwierigkeit überwunden, die durch die Preisgabe der ausschließlichen bischöflichen Zusammensetzung des Konzils aufgetreten war. Wurde das Konzil zur ständischen Repräsentation der Christenheit, so trat der übernationale Charakter des Gesamtepiskopats zurück.61 Eine Ordnung und Repräsentation dieser ganz inkommensurablen Kräfte war damals nur durch das Nationalprinzip möglich, das freilich weitergriff als der spätere Begriff der politischen Nation. Im Schoße der universalen Kirche bildeten sich neue Individualitäten, die großen und kleinen Nationen, die sich ihre Kirchenverbände, ohne formelle Aufhebung der Kircheneinheit zuordneten. Gallikanismus und Anglikanismus sind typische, aber auch treffende Bezeichnungen für diesen Vorgang. Der seit dem 15. Jahrhundert wirksame Gallikanismus hat formell die Kircheneinheit nicht in Frage gestellt, hätte sie aber, ohne Gegenwirkung durchgesetzt, in der Konsequenz nahezu vollständig aufgehoben. Ein Jahrhundert später hat sich der Anglikanismus als Kirchenwesen mit nationaler Beschränkung auf Grund seiner besonderen Bedingungen sogar formell verselbständigt. Auch wo so markante Bildungen
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und Programme nicht vorlagen, wirkte der aufsteigende Fürstenstaat und die Bildung moderner politischer Formen in den gleichen Richtung. Der tatsächliche Zustand der hochorthodoxen spanischen Kirche war lange Zeit nach dem Stande der königliche Rechte über die Kirche von einer Nationalkirche nicht mehr weit entfernt. Der Prozeß der Nationsbildung ist von der Bildung des modernen Staates nicht abtretbar, wie insbesondere die Interpretation des politischen Werks Richelieus durch Burckhardt jr. neuerdings stärker herausgearbeitet hat, als bisher erkannt worden ist. Die passive Individuation hat also ihren Sitz im Leben ganz allgemein in den realen Bedingungen sozialer Verbände überhaupt, speziell aber auch in der Individualität der verschiedenen Nationen, so gewiß in sehr unterschiedlichem Grade Bewußtsein und Abgrenzung dieser Völker ausgebildet war.
Die orientalische Kirche, die ihre pneumatische Einheit mit der größten dogmatischen Bestimmtheit aufrechterhalten hat, ist in noch höherem Grade als die lateinische Kirche in partikulare Nationalkirchen auseinandergetreten. Während sie sich grundsätzlich von der historischen Tradition der Pentarchie der fünf ökumenischen Patriarchate her versteht, ist sie im Laufe der Geschichte tatsächlich zu einem Bund selbständiger partikularer Kirchen geworden. Obwohl die orthodoxe Kirche mit vollem Recht eine theologische Rezeption eben jener passiven Individuation im Sinne eines nationalkirchlichen Prinzips immer abgelehnt hat, ist ihre Verfassungsstruktur dennoch in zunehmendem Maße von dieser Gliederung bestimmt. Sie ist heute nicht mehr imstande, von den Grundsätzen ihres anerkannten Rechtes her weitere partikulare Bildungen zu verhindern, sondern genötigt, diese nach einigen Schwankungen und nach dem Maß ihrer Konsolidierung anzuerkennen. Gleichwohl ist hier niemals das Bewußtsein verlorengegangen, daß faktische Nationalkirchen niemals Nationalkirchen im Rechtssinne sein können — das heißt, daß die Mitgliedschaft in diesen Kirchen in keinem Falle von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volksverbande abhängig sein kann. Partikulare Nationalkirchen müssen also grundsätzlich die im gleichen Bereiche lebenden Angehörigen anderer Völker in ihr Leben einbeziehen. Die Nationszugehörigkeit kann in keinem Falle ein rechtliches Merkmal einer partikularen Kirchenzugehörigkeit sein. Dies haben die orthodoxen Patriarchen auch folgerichtig 1848 durch eine dogmatische Verurteilung des sog. Ethnizismus, d.h. der Verbindung von Kirchen- und Volkszugehörigkeit ausgesprochen.
Andererseits aber hat auch die streng zentralistische ultramontane Papstkirche des 19. Jahrhunderts keinen Anstand genommen, bei der Umschreibung der Diözesen und der Abgrenzung der Kirchengebiete auf die politischen Realitäten Rücksicht zu nehmen. Sie hat nirgends versucht, aus übergreifenden kirchlichen Gesichtspunkten politisch getrennte kirchliche Bereiche organisatorisch zu verbinden. Dies hing keineswegs
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allein von staatskirchenrechtlichen Erwägungen ab; es war mindestens im gleichen Maße in pastoralen und sozialen Erwägungen begründet. Die Frage nach der rechtlichen Legitimität ist schon in dem erwähnten Grundsatz der orientalischen Kirche, der Verwerfung des Ethnizismus zum Ausdruck gekommen. Die kirchenrechtliche Qualität der passiven Individuation ist zuallererst darin bestimmt und begrenzt, daß die Vorgegebenheit der Kircheneinheit durch diese Partikularisierung nicht aufgehoben oder in Frage gestellt werden darf.
Gerade dieses Bewußtsein und dieser Rechtsgrundsatz ist in breitem Umfange im Bereich des Protestantismus verlorengegangen. Der Vorgang der nationalen Individuation begegnete hier nicht einem ebenso wirksamen Einheits- und Sonderungsbewußtsein der Kirche. Vielmehr wurde das äußere Kirchenwesen ohne deutliche Begrenzung den weltlichen Gewalten anheimgegeben. Auch hierzu bestand zunächst ein höchst realer Zwang. Solange im Heiligen Römischen Reich nur Christen eines anerkannten Bekenntnisses als Vollbürger existieren konnten, war das Leben der Gemeinden schlechthin davon abhängig, daß ein politischer Stand des Reiches sie vermöge der übertragenen bischöflichen Gewalt deckte. Das war die Grundlage des Augsburger Religionsfriedens von 1555. Dadurch splitterte sich die Einheit der Kirche in ebenso viele Partikularkirchen auf als Reichsstände vorhanden waren, ohne daß ein Ausweg aus dieser Zwangslage gegeben war. Dieser Zustand hat praktisch und rechtliche bis zur Reichsgründung von 1871 bestanden. Denn bis zum Ausgang des alten Reiches 1806 bestand die Rechtslage von 1555/1648 fort. Danach aber besaßen die Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes einen so hohen Grad der Selbständigkeit, daß eine kirchenrechtliche Existenz außerhalb und oberhalb der einzelnen Territorien ebenfalls unmöglich gemacht wurde. Erst mit der Sicherung eines allgemeinen Religionsrechts im Kaiserreich von 1871 wäre diese Zwang der Bindung an einen bestimmten Reichsstand, an eine bestimmte territoriale Obrigkeit, hinweggefallen. Zu dieser Zeit aber waren die verfaßten Kirchen bereits in so hohem Grade an die Einzelterritorien anbepaßt, daß die Frage nach der Legitimität dieses Zustandes nicht einmal mehr gestellt wurde. Für diese Territorien aber bestand keineswegs die sachliche Legitimität, die im großen Ganzen durch die Kirchengeschichte hindurch eine mehr oder minder große Parallelisierung von Kirche und Gemeinwesen gerechtfertigt hatte. Diese kleinen und großen Territorien, die zufällig gebliebenen Überreste aus dem politischen Chaos des alten Reiches, waren zwar rechtliche und administrative Größen. Sie waren aber, schon wie die an die Territorien angepassten Kirchengebiete nach der Reformation nicht zugleich im wesentlichen Sinne geistige Einheiten. Es ist etwas Anderes, ob in einer nationalen Sprachgemeinschaft und historisch-politischen Einheit, wie in Schweden oder England, eine selbständige Kirchengemeinschaft existiert oder ob in einer
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großen Nation historische Relikte provinzieller Partikularität selbständig bleiben. Die sinnlose Zufälligkeit dynastischer Erbgänge und lokaler Entwicklungen ist etwas Anderes. Mit anderen Worten: das sinnvolle Gegenüber weltlicher Lebenseinheiten und kirchlicher Partikularverbände bestand nicht mehr. Da man aber Innen und Außen, Kirche und Kirchenwesen, begrifflich und praktisch getrennt hatte, entfiel gerade der innere Sinn, der jener Parallelisierung zugrunde gelegen hatte. Die Absurdität dieses Vorgangs wird daran sichtbar, daß Partikularkirchen wie Spalierobst nach Abbruch der schützenden Mauern, in bizarrer Verformung sinnlos und unbeweglich bestehen bleiben. In diese Bildungen haben sich fragwürdige Lokaltraditionen geflüchtet, die vollends der Gemeinsamkeit der Gesamtkirche widersprechen.
Vor wie nach dem Zerfall des alten Reiches hat der Summepiskopat der Landesfürsten und ihre Bekenntnishoheit zu theologischen Entwicklungen geführt, die bei formeller Wahrung des Bekenntnisbegriffs eine sinnwidrige Verwirrung der Bekenntnislage herbeiführten. Diese Notbischöfe beschränkten sich nicht darauf, das „äußere” Kirchenwesen zu ordnen — damit unweigerlich an die sehr kontingente Gestalt ihrer Territorien anzupassen, und die übergreifende Gemeinsamkeiten zu minimalisieren. Sie trieben vielmehr vielfach eine in das innere Leben der Kirche eingreifende Bekenntnispolitik. An die Stelle des zwangsweisen Wechsels der Bekenntniszugehörigkeit der ganzen Territorialkirche, der sich im 17. Jahrhundert ablebte, traten die Einflüsse fürstlicher Amateurtheologen, welche Bekenntnis und Praxis dieser Kirchen variierten. Dahin gehört die früh einsetzende Konfessionspolitik in der Landgrafschaft Hessen-Kassel, ebenso in Brandenburg-Preußen, deren Opfer schon Paul Gerhardt wurde.
So entstanden Sonderbildungen, wie z.B. die mauritianische Lehrveränderung der sog. Verbesserungs(Verböserungs-)Punkte, Unionsbekenntnisse eigener Art wie in Baden, Kirchenformen, welche mit keiner der großen Bekenntnisgemeinschaften kommensurabel waren und sind. Dies widerspricht dem Bekenntnisbegriff insofern, als dieses auf Übereinstimmung mit dem Glauben der ganzen Christenheit und Gemeinsamkeit untereinander in höchstmöglichen Maße abzielen muß. Auch diese wohlgemeinten Eingriffe gehören zur passiven Individuation.
Das deutsche Landeskirchentum ist also nicht ein Beispiel, sondern eine Karikatur der aufgezeigten prinzipiell möglichen Lebensform. Diese Entwicklung hat sich dadurch noch potenziert, daß die ehedem in der evangelischen Kirche der altpreußischen Union vereinten großen Provinzialkirchen eine volle kirchliche Souveränität in Anspruch genommen haben, ohne diese qualitative Veränderung wahrzunehmen, als ob es eine westfälische und rheinische Kirche von jeher gegeben hätte und hätte geben können. Wie die Auseinandersetzungen um die Verfassungsreform der EKD gezeigt haben, ist es sogar möglich, die Provinzialität zum Prinzip, d.h. zum Höchstmaß sinnvoller kirchlicher Verbandsbildung zu erheben.
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Nicht die Parallelität zwischen Partikularkirche und politischen Verbänden als solche ist zu beanstanden, als vielmehr die Übernahme eines Subjektbegriffs, der eben aus jener politischen Individuation stammt. Daß es eine schwedische oder italienische Nation gibt, ist ein geschichtliches Ergebnis, dessen Recht oder Unrecht nicht diskutiert werden kann, das in sich schlechthin kontingent ist. Partikularkirchen dagegen können niemals eine dem vergleichbare historisch-kontingente Individualität für sich in Anspruch nehmen. Ihr Recht geht immer nur so weit, als es ihr Dienst unter den konkreten Lebensverhältnissen erfordert, sinnvoll macht und insofern auch rechtfertigt — aber keinen Schritt weiter. Versteht die Partikularkirche diese Selbständigkeit als ein originales Recht, das von niemand in Frage gestellt werden kann, so verletzt sie damit den von ihr selbst im Bekenntnis bezeugten Grundsatz der Allgemeinheit der Kirche. Denn diese ist für die Partikularkirchen nicht eine erst herzustellende, sondern eine immer schon vorgegebene. Der Partikularismus der Partikularkirchen verführt also ständig die ihnen vertrauenden Gläubigen, sich bekenntniswidrig zu verstehen und zu verhalten. Sie schwächt oder tötet das Bewußtsein dafür ab, daß es nur eine Kirche gibt und daß die Partikularkirche nur eine Form der Vermittlung, nur eine sekundäre Bildung, aber kein primäres Phänomen des Kirchenrechts ist. Es geht nicht um eine herzustellende Einheit der Kirche, die als zusätzliche Aufgabe den Christen auferlegt werden muß. Es geht vielmehr um den Glaubenssatz, daß die eigentliche Existenzgrundlage in einer vorgegebenen Einheit liegt.
Die römisch-katholische Kirche hat in ihren Aussagen über den Ökumenismus und über die Kirche im II. Vatikanischen Konzil und in dem entsprechenden Entwurf des Canon 2 der Lex Ecclesiae Fundamentalis ausgesprochen, daß die eine Kirche in und durch partikulare Kirchen existiere. Sie hat damit dem philosophischen Universalismus einer zentralistischen Einheitskirche selbst ein dogmatisches Ende gesetzt. Es steht jedoch eine Entwicklung aus, in welcher die reformatorischen Konfessionen dem nicht weniger philosophisch bedingten Partikularismus ausschließend vereinzelter, historisch zufällig erwachsener Partikularkirchen ebenso ein dogmatisches Ende bereiten. Die Kirchenrechtslehre muß jedoch den Partikularkirchen, ohne die die geschichtliche Kirche nicht existieren kann, Würde, Recht und Rang einer primären Bildung und daher auch der Souveränität in aller Form absprechen. Will die Kirche den Zentralismus vermeiden, von dem — wenigstens dogmatisch — die römische Kirche inzwischen Abschied genommen hat, so muß sie Formen verbindlichen Zusammenwirkens ausbilden, die den entsprechenden häretischen Irrtum des Partikularismus klar und sichtbar ausschließen. Bloße Postulate freundlichen Zusammenwirkens reichen dazu nicht aus. Es handelt sich hier um eine konstitutive Gemeinschaft, die darum auch in rechtlicher Verbindlichkeit ihren Ausdruck finden muß.
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Aktive und passive Individuation stehen also nebeneinander und zugleich in einer gewissen Wechselwirkung. Anglikanismus, Gallikanismus, skandinavisches wie schweizerisches Nationalkirchentum sind entsprechende westliche Bildungen. Aber schon die karolingische und Bottnische Reichskirche trägt solche Züge. Das Interesse auch der katholischen Reichsstände an der Reformation lag darin, daß zwischen der zerrütteten Diözesanverfassung der Kirche und den sich bildende Territorien kein sinnvolles Verhältnis mehr bestand.
Sicherlich kann von der Grundlage der passiven Individuation, von partikularen Nationalkirchen her die Einheit der Kirche nicht gewonnen und dargestellt werden.
Bedenklich ist die Tatsache, daß mindestens eine dieser aktiven Individuationen, nämlich die lutherische Form sich durch den Grundsatz des „satis est”,62 also durch eine dogmatische Negation des Problems, des Problems selbst entschlagen hat, das hierdurch gestellt ist.
Zwar hat die reformierte Kirche ebensowenig wie die lutherische eine sichtbare Einheit ihrer Bekenntnisgemeinschaft zu gestalten vermocht und versucht. Sie hat aber vermöge ihres schärferen Trennungsbewußtseins die Differenz zwischen passiver Individuation und Konfession deutlicher im Blick behalten.
Auf diesem Hintergrund ist auch die kirchenrechtliche Problematik der konfessionelle Weltbünde zu sehen.
Die aktive Individuation ist, wie das Beispiel der römischen Reichskirche zeigt, nicht gleichbedeutend mit der Ausbildung von institutionellen Formen, die in bestimmten Organen ihre ständigen und sichtbaren Stützen haben.
Obwohl die Patriarchen und Metropoliten ständig von ihrem Recht Gebracht machten, partikulare Synoden zu berufen, hing die Bildung einer Reichssynode traditionell von der Initiative des Kaisers ab. Das vom Papst beanspruchte Recht, die Beschlüsse solcher Synoden zu bestätigen, war in Wahrheit die Vervollständigung des synodalen Konsensus durch Beitritt und verdeckte die Tatsache, daß er weder der Einberufende noch der geborene Präsident war, wie dies erst nach dem großen Schisma und erst recht in der neueren Zeit zu seinen Prärogativen gehört.
Die aktive Individuation ist aber abhängig von der Bewahrung der Einsicht, daß für die Existenz der Kirche die institutionelle Differenz zwischen ihrer Eigenständigkeit und derjenigen der politischen Gemeinwesen konstituierend ist. Die Differenz zwischen beiden kann solange überbrückt werden, als die Träger der politischen Gewalt vikarierend die der Kirche fehlende Spitze ersetzen.
Umgekehrt ist zur Bewährung dieser notwendigen theologischen Einsicht die Bewährung einer eigenen personalen Spitze, etwa in Gestalt
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eines Primas, auch unter der Voraussetzung des Staatskirchentums wesentlich. Nur ein geschichtsloser Spiritualismus kann das verkennen, als gleichgültig vernachlässigen oder als fatales Streben nach Macht oder hierarchischen Denken mißdeuten. Die institutionelle Differenz zwischen Kirche und jeder Form des Staates ist eine Bedingung der Freiheit — nicht nur der Kirche, sondern gerade auch der Freiheit im Staate. Gerade diese — wenn auch partikulare — Subjektqualität der Kirche in den Kirchen hält die eschatologische Dimension sichtbar offen, die von der Souveränität und Alleinigkeit der politischen Gewalten ständig überdeckt wird.
Nach dem bisherigen Verlauf der aktiven Individuation, muß man annehmen, daß auch künftige, sich abzeichnende Neubildungen, neue Kirchenformen im Endergebnis doch nur zu einer neuen partikularen individuellen Gestalt, zu einer weiteren aktiven Individuation führen müßten. Eine gewisse Parallele hätte dieser Vorgang darin, daß innerhalb der allgemeinen Struktur der modernen Industriegesellschaft zwei verschiedene Systeme, das neukapitalistische und das sozialistische entstanden sind, die sich ebensowenig gegenseitig haben verdrängen können wie die streitenden Konfessionen. Das Bild der Konfessionsbildung ist zuweilen soziologisch auch auf diese Vorgänge angewendet worden.
Aber eben diese paradoxe Form des Nebeneinanders sukzessiver Formen kann nicht ohne weiteres als Grundsatz oder Axiom vorausgesetzt werden. Es wäre denkbar, daß gerade heute eine gemeinsame signifikante Entwicklung einsetzte, in welcher der Prozeß er Individuation sein Ende erreicht und in eine Gemeinschaft der Formen umschlägt.
Es wäre freilich auch denkbar, daß sich heute die Pluralität und Partikularität der Lebensformen in einer Weise durchsetzte, welche die Vermittlung ihrer Gemeinsamkeit nicht mehr durch übergreifende Gemeinsamkeiten im Stil der großen Konfessionskirchen ermöglicht. Dann wäre zwar als neuer Ertrag der Umbildung ein sehr umfassendes und lebendiges Bewußtsein der Universalität der Kirche zu verzeichnen, nicht mehr aber Formen, welche diese Universalität und die Partikularitäten der pluralistischen Christenheit wirksam vermitteln.
Zwischen der Universalität der Kirche, zu welcher ein sehr starker Trieb der engagierten Christenheit hindrängt, und den sehr begrenzten und womöglich formlosen Gemeinschaftsbildungen bestünde dann keine wirksame Vermittlung mehr. Es entstände eine Art universalistischer Independentismus. Das würde angesichts der Notwendigkeiten konkreter überörtlichen Organisation keineswegs zur Auflösung der Partikularkirchen im bisherigen Sinn, aber zu ihrer völligen Entleerung von jedem wesentlichen Bedeutsamkeitsanspruch führen. Sie würden als nur „äußerlich” abgewertet, relevante Entscheidungen würden unmöglich gemacht, durch unendliche Problematisierung jedes Lebensvorgangs blockiert, jede Sachkompetenz als autoritär verdächtigt, zugleich aber die Tragweite dieses Vorgangs aus dem Bewußtsein verdrängt. Die Bewußtheit dieser
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Vorgänge reicht immer genau so weit, wie das Interesse an dem erstrebten Ergebnis, und die Idealisierung verdrängt die Selbstkritik.
Die Christenheit würde nicht mehr gekennzeichnet durch materiale Spaltungen, in denen die Einzelbildung sich sub specie veritatis virtuell als das Ganze versteht, sondern sie übernähme das weltliche Gesetz der Schizothymie zwischen universaler Planung und Zielrichtung mit eschatologischem Anspruch und einer nicht integrierbaren Mündigkeit des je Einzelnen und der einzelnen Gruppe.
Chiliasmus und Subjektivismus wären die polaren Formen des Spiritualismus und bildeten auch eine Verfassungsstruktur. Da der Spiritualismus jede reale Vermittlung zerstört, könnte er auch nicht durch die communio jenes in der Moderne wirkende Gesetz der Spaltung aufgeben und positiv konvertieren, sondern fiele selbst unter das Gesetz der Welt. Indem dieser Spiritualismus das im Sinne der Darlegung von Kap. I schwächste Glied nicht respektiert, sondern zerstört, folgt er der angeblichen Machtentäußerung dem Gesetz der Macht.
Wie gezeigt wurde, besteht zwischen den Elementen der Kirchenverfassung ein doppeltes Verhältnis: Sie sind kategorial, d.h. sie können als vorgegebene nicht einfach ausgeschaltet werden, sondern müssen an irgendeiner Stelle ihren Platz erhalten. Damit sind sie zugleich interdependent: der Wert, den man einem von ihnen zuweist, bestimmt zugleich den Wert, den die Anderen erhalten müssen und können — und zwar unabhängig von Bewußtsein und Willen der Handelnden.
Die Ausbildung des Jurisdiktionsprimats und Universalepiskopats hat zur notwendigen Folge die Entwertung der Gemeinde, die Aufhebung ihres eigenständigen Rechts. Die kirchenrechtliche Form ist die Spiritualisierung. Als ideeller Größe wird der communitas die Teilnahme an allen Ämtern (munera) der Kirche zugesprochen. Aber sie besitzt diese Rechte nur der Substanz nach, nicht deren Ausübung im Sinne einer mitwirkenden Entscheidung.
Das umgekehrte Verhältnis tritt vermöge jener Interdependenz in der Reformation ein. Nimmt man als Zentrum die Gemeinde als den Ort der versammelnden Selbstausrichtung des Wortes Gottes, so wird die universale Kirche, die catholica, zu einer rein spiritualen, der konkret-geschichtlichen und rechtlichen Darstellung unfähigen und auch unbedürftigen Größe. Unbeschadet des Irrtums, der in dem Gebrauch des Begriffes „Gemeindeprinzip” liegt, drück sich in seiner Verwendung dieser freilich unreflektierte Tatbestand aus. Dabei ist notwendig zu bemerken, daß trotz aller Anleihen beim alten Kirchenrecht in den Bekenntnisschriften auch föderale Formen der übergreifenden Kirchengemeinschaft, denen das Odium der Papstkirche und des Zentralismus nicht abhängt, nicht einmal
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zur Erwägung standen. Sie lagen gänzlich außerhalb des Horizonts. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, war allein die Synode von Dordrecht 1618/19, die einen ökumenischen Horizont besaß.
Tatsächlich erschöpften sich die Gestaltungen der Reformation in einer Summe rechtlich unverbundener Partikularkirchen. Deren Abgrenzung folgte im Wesentlichen dem politischen Zustand der Entstehungszeit und bildete sich mit diesem um. Soweit die damaligen Staatenbildungen sich schon einigermaßen mit den späteren Nationalstaaten vergleichen lassen, bildeten sich Nationalkirchen: in England, Schottland, Skandinavien usf. Im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches dagegen wurde zwangsläufig durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 die Territorialgrenze zur Kirchengrenze. Daraus folgte eine verfassungsgeschichtlich bedeutsamer Unterschied. In den Nationalkirchen als größeren, politisch einheitlich geordneten Gebieten blieb regelmäßig die Diözesanverfassung als Gliederung in einer Anzahl traditioneller kirchlicher Teilgebiete erhalten, damit ein Rest der kirchlichen Provinzialverfassung; die Nationalkirche wurde selbst unter einem Erzbischof als Primas eine Art autonome Kirchenprovinz — nur ohne jeden überregionalen verpflichtenden Zusammenhang. Im deutschen Bereich dagegen wurde die Diözesanverfassung völlig zerstört, auch wenn die Größe der mittleren Territorien eine solche Gliederung der Kirche durchaus sinnvoll gemacht hätte. So wurden auch die drei zunächst erhalten gebliebenen bischöflichen Diözesen im Herzogtum Preußen durch die sich durchsetzende einheitliche herzogliche Konsistorialverwaltung ersetzt. Auch die großen lutherischen Territorien, die sich über mehrere frühere Diözesangebiete erstreckten, dachten nicht an eine Bildung selbständiger Sprengel. Eine typische Mittelbildung zwischen Deutschland und Skandinavien stellt Schleswig-Holstein dar, wo bis in die Gegenwart die Tradition zweier Sprengel, Schleswig und Holstein (gleichviel unter welchem Titel des leitenden geistlichen Amtes — Generalsuperindendent oder Bischof), erhalten geblieben ist. Dies hat sich so sehr eingeschliffen, daß dem skandinavischen Luthertum die Diözesangliederung ebenso selbstverständlich ist wie dem deutschen Luthertum die Einheitlichkeit des landeskirchlichen Gebiets. Die vorhandenen Landessuperintendenten in Hannover etwa haben sich immer dagegen gewehrt, durch eine Neugliederung Sprengelbischöfte zu werden. Die Bereitschaft der nordelbischen Kirchen zur Neugliederung und die Weigerung der ebenso lutherischen niedersächsischen Kirchen und die Ersetzung der Neugliederung durch eine den Bestand nicht verändernde Konföderation ist für diese psychologische Lage kennzeichnend. Die in das Unbewusste abgesunkene Tradition begrenzt wirksam den Horizont.
Dagegen ist in den deutschen Kirchenterritorien der tatsächliche Zusammenhalt in Gestalt von Personalaustausch und Gemeinsamkeit der akademischen Theologie im Gegensatz zum Mangel an kirchenrechtlicher Verbindlichkeit beachtlich groß.
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In einer anderen Lage befinden sich die Minderheitskirchen in Ländern, in denen sich die Reformation nicht bis zur landeskirchlichen Stellung durchsetzen konnte, wie etwa in Ungarn und Polen. Eine Sonderstellung nimmt die national geschlossene lutherische Kirche von Siebenbürgen ein. Neuere Forschungen haben ergeben, daß in ihre gewisse Reste und Substrukturen älteren kanonischen Rechts durchgehalten haben.
Eine besondere Form einer Minderheitskirche stellt die reformierte Kirche von Frankreich mit ihren Nationalsynoden dar. Diese Kirche hat am stärksten die Fähigkeit der Selbstorganisation unter Beweis gestellt. Dieser singuläre Fall macht als Kontrast deutlich, wie sehr mit der Verbindung von Kirche und Territorium das Organisationsrecht der Kirche vom Staat absorbiert worden ist. Dies hat sich noch bis in die Gegenwart etwa in der schwedischen Kirche in der Behinderung zeitgemäßer Neuabgrenzungen und Neubildungen von Pfarrgemeinden ausgewirkt. Im Gegensatz dazu hat die Kirche von England im Zuge der Bevölkerungsumschichtung in der Moderne eine beträchtliche Anzahl von neuen Diözesen in Industriegebieten zu bilden vermocht. Aber in der ausgebreiteten grundsätzlichen Kirchenrechtsdebatte hat das Recht der Selbstorganisation trotz seiner praktisch zentralen Bedeutung bisher keine Rolle gespielt.
Parallel zu dieser Entwicklung im Bereich der reformatorischen Kirchen steht auch die tatsächliche Fortentwicklung der orthodoxen Kirchenverfassung. Hier haben sich in der Neuzeit nationale autokephale Kirchen gebildet, die nach und nach die Anerkennung ihrer Selbständigkeit erlangt haben. Auf diese Weise ist zwar das System der historischen Patriarchate unangetastet geblieben, aber in einen föderalen Bund autokephaler Kirchen umgebildet worden.
Der Gesamtertrag der reformatorischen Kirchenbildung in den großen, verfaßten Konfessionskirchen, insbesondere im Luthertum, aber auch im landeskirchlichen Calvinismus und Zwinglianismus läßt sich demnach in zwei Linien zusammenfassen:
a) Diese Kirchen sind kommunalisiert worden, ähneln typologisch Kommunalverbänden. Unter Kommunalverband ist eine territoriale Verwaltungseinheit zu verstehen, deren gesamtes Gebiet in Gemeinden oder gemeindeähnliche Verwaltungsbezirke aufgegliedert ist, der aber keinen Zusammenschluß dieser Gemeinden als solcher darstellt. Ein Kommunalverband hat selbständige Rechtspersönlichkeit, eigenes Vermögen, Steuerrecht und eine mehr oder minder begrenzte Verfassungsautonomie. Dagegen ist er kein Verfassungssubjekt. Weder der Verband als ganzer noch die in ihm zusammengeschlossenen Kommunen nehmen als solche am Verfassungsleben und der Willensbildung des politischen Gemeinwesens teil, dem sie angehören. Dies ist nicht immer so gewesen. In älteren ständigen Verfassungen besitzen etwa die Städte oder auch, wie in England, die Grafschaften als solche eine
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Repräsentation in parlamentsähnlichen Körperschaften. Für England
haben erst die Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts mit der
Beseitigung der sogenannten rotten boroughs aus der
Repräsentation selbständiger Verbände quantitative Wahlkreise
gemacht.
Die kirchenrechtliche Bedeutung dieser Kommunalisierung liegt vor
allem darin, daß diese, von den Territorien gebildeten
Partikularkirchen nicht Teile und Teilhaber einer kirchlichen
Gesamtverfassung sind. Der Platz der ökumenischen Konzilien
bleibt verfassungsrechtliche unbesetzt; ebensowenig bildeten sich
übernationale Zusammenschlüsse. Dies bedeutet aber für diese
Partikularkirche mutatis mutandis eine Entpolitisierung. Mit der
Teilhabe an der übergreifenden Kirchenverfassung reduziert sich
auch die freie Gegenüberstellung zum Staate. Dem entspricht die
Festschreibung des Bekenntnisstandes, der als endgültig
formulierte Basis der Weiterbildung entzogen ist, und die
Beschränkung der Entscheidung auf funktionale Probleme. Die
Spaltung in invariable und variable Verfassungsbestandteile
entspricht der Struktur eines sekundären Systems, in dem sogar
die Subjektqualität des Verbandes als historische Größe
suspendiert ist.
b) Infolgedessen geht diese Subjektqualität auf die territorialen und nationalen Träger einer vikariierenden Fürsorge für die Kirche über. Die zweite Linie der Entwicklung ist also die Nationalisierung. Die ständige Verbindung mit einer historisch konstanten, politisch-nationalen Individualität und die transitorische Verbindung mit einer christlich gesinnten Obrigkeit sind zusammen das Ergänzungsstück, welches an die Stelle der eigenen verfassungsrechtlichen Subjektqualität der Kirche in einer kirchlichen Gesamtordnung getreten ist und treten mußte. Was hier also zunächst als Notordnung verstanden und gerechtfertigt wurde, resultiert in Wahrheit aus dem prinzipiellen Verzicht auf jede Form gesamtkirchlicher Ordnung, innerhalb welcher die Partikularkirche ein verfassungsrechtliches Subjekt hätte sein können. Es sind nicht bedauerlicherweise und nicht voraussehbar die Mittel für diese Notlösung in Gestalt des landesherrlichen Kirchenregiments hinweggefallen. Vielmehr liegt die theologische Basis für dieses Ergebnis bereits in der grundsätzlichen theologischen Ablehnung einer übergreifenden und Gesamtkirchenverfassung, in der Partikularisierung des Kirchenbegriffs. Die Kommunalisierung als theologisch selbst gewählte Konsequenz ist demnach die (negative) Form der aktiven Individuation, die Nationalisierung die um so stärkere Folge der passiven Individuation. Der negative Charakter des ersteren bedingt aber ein konstitutives Ungleichgewicht im System. Auch dieses Mißverhältnis zwischen der (wesentlich restriktiven) Eigengestaltung und der Fremdeinwirkung ist jedoch bisher nicht ins Bewußtsein getreten, sondern eher auch diesem verdrängt worden. Die Absolutheit des konfessionellen Selbstverständnisses verbunden mit seinem kritischen Charakter stehen einer Sichtung
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der tatsächlichen Wirkungen durchhaltend entgegen. Die habituelle Kritik an Anderen verhindert die Selbstkritik.
Erst die ökumenische Bewegung hat die reformatorischen Kirchen überhaupt wieder vor diese Frage gestellt. Der Ökumenische Rat der Kirchen und die konfessionellen Weltbünde sind nach ihrem Selbstverständnis selbst nicht Kirchen. Sie haben sich gleichwohl der jurisdiktionellen Entscheidung nicht entschlagen können, ob die aufzunehmenden Mitglieder der jeweiligen Bekenntnisbasis entsprachen. Die Bekenntnisformel des Ökumenischen Rats und die historischen Bekenntnistexte der Reformationskirchen haben in diesem Zusammenhang durchaus analoge Bedeutung. Trotz dieser unausweichlichen, wenn auch begrenzten Qualität und Funktion als Kirche haben sich die Gliedkirchen dieser Verbände bisher der Frage einer Verfassung der universalen Kirche nicht gestellt, auch dort nicht, wo, wie in den Weltbünden, eine weitergreifende gemeinsame Bekenntnisgrundlage und gemeinsame Verfassungsgrundsätze vorhanden sind.
Trotz des Gegenbeispiels der Orthodoxie spielt hier das Trauma des päpstlichen Zentralismus in der Ablehnung einer „Superkirche” eine starke Rolle und diese Ablehnung wird zugleich durch den schon früher berührten Mangel an adäquaten Lebensformen, also einen selbsterzeugten Tatbestand in zirkulärer Wirkung verstärkt. Erst nach 50jähriger ökumenischer Erfahrung hat sich mit dem Begriff der Konziliarität die Erkenntnis angemeldet, daß die Kirchen konstitutiv auf eine ständige Begegnung und Zusammenarbeit verwiesen und angelegt sind. Dies ist vorerst eine Programmformel in den obersten Bewusstseinsschichten. Von der Einsicht, daß man veranlasst wäre, sein ekklesiologisches Selbstverständnis und seine kirchenrechtliche Gestaltung in dieser Weise zu revidieren, ist man noch weit entfernt. Die souveränen Partikularkirchen werden wie verwöhnte, falsch sensibilisierte Kinder mühsam resozialisiert. Hier wäre der Ausgang aus einer selbstverschuldeten Abhängigkeit am Platze.
Die Einheit ist übrigens nicht nur eine Qualitäts-, sondern auch eine Quantitätsfrage. Selbst die römische Kirche mit ihrem intakten Verfassungsaufbau sieht sich heute im effektiven Weltmaßstab vermöge der starken Vermehrung der Diözesen und durch die Gleichstellung der Weihbischöfe vor der Schwierigkeit, eine Repräsentation aller praktisch durchzuhalten oder an deren Stelle legitime Auswahlgrundsätze für begrenztere Beschlußgremien zu finden, die dann auch wirklich repräsentativ wären und deren Votum Anerkennung zu finden Aussicht hätte.