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Der zweite große Einschnitt in der Kirchengeschichte und kirchlichen Rechtsgeschichte, die Reformation, wird durch eine ganz ähnliche Erfahrung ausgelöst wie diejenige, die sich im ersten Schisma als wirksam gezeigt hat. Wie um die Jahrtausendwende brach eine Legitimitätskrise auf. Im Verhältnis dazu war die Reformbewegung des 15. Jahrhunderts nur ein Vorspiel, in dem das Grundsätzliche noch nicht zur Entscheidung kam.
Seit dem Schisma Urbans VI. 137880 war die Kirche nicht mehr zur Ruhe gekommen. Nach der äußeren Wiederherstellung der Einheit auf dem Konstanzer Konzil blieben ein Jahrhundert hindurch die mit großem Einsatz unternommenen Reformversuche ohne Ergebnis. Die Kirche vermochte nicht, sich selbst wirksam zu reformieren. Ihre offenkundige äußere Schwäche war das Symptom einer inneren Krise. Korrupt waren freilich Klerus und Gemeinden gleichermaßen. Die Korruption des Klerus von der Spitze an in seiner machtpolitischen Verweltlichung lag auf der Hand und ist von Hadrian VI. mit schonungsloser Offenheit zugegeben worden. Niemand aber konnte annehmen, daß die Gemeinden ihrerseits Kräfte der Reform hervorzubringen imstande seien. Auch sie verfolgten in vieler Hinsicht säkulare und politische Interessen; vor allem waren sie wie der Gang der Reformation gezeigt hat, wehrlos gegen die überall wirksamen Tendenzen der Schwärmerei.
Luther hat dies von Wittenberg über Zwickau bis Münster nur zu deutlich erfahren. Die Versuchlichkeit des Kirchenvolks für das Schwärmertum war nur zu verständlich. Niemals war im geschichtlichen Bewußtsein die Erinnerung an die Gemeinderechte der alten Kirche völlig geschwunden. Diese suchte man neu zu erlangen. Dasselbe Kirchenvolk, das sich in zahlreichen geistlichen Genossenschaften organisierte, sah sich in der ordentlichen Kirchenverfassung von allen Rechten ausgeschlossen. Auber Luther hat diesen Weg bewußt gemieden; es wäre der Weg in das innere Licht, in die nur subjektive Evidenz des Glaubens gewesen. Die Krise der Kirche als Problem der Subjektivität zu begreifen, lag außerhalb des Horizonts dieser Bewegung. Die zentrale Erfahrung Luthers war nicht diejenige der Korruption, die ihn zunächst sogar relativ unberührt gelassen hat. Es war die geistliche Erfahrung des Versagens des Systems in seiner Stärke, in seinem eigenen Sinn, in seinem Zentrum. Da das umfassende System jurisdiktioneller Beichtentscheidung aus den dargelegten Gründen
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sich in eine unendliche Fülle rationaler Einzelentscheidungen kasuistisch auflösen mußte, verlor es gerade damit seine Stringenz, seine Überzeugungskraft für ein angefochtenes Gewissen. Diese rational klugen, systematisierten Entscheidungen konnten nicht mehr zu der Unbedingtheit verdichtet werden, die der Glaube zu seiner Gewißheit braucht.
Wie stark die Grundkonzeption Luthers aus der zentralen Erfahrung der Buße und der Rechtfertigung in der Tradition der mittelalterlichen Kirche stand, zeigt schon die erste der 95 Thesen von 1517. Dort heißt es: „Dominos et magister noster Jesus Christus dicendo ‘penitentiam agite’ etc. Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.” — „Jesus Christus lehrt, daß das ganze Leben des Christen eine tägliche Reue und Buße zu sein habe.” Freilich besaß dieser provozierende Spitzensatz eine andere Blickrichtung als das gemeinte Schriftwort (Matth. 4, 17). Denn Johannes der Täufer, Jesus selbst, Paulus, haben die Umkehr gefordert, damit der Mensch in das jetzt angebotene und gegenwärtig gewordene Heilsverhältnis eintrete und in ihm bleibe.
Die ganze Erfahrung der zweiten Buße, des Abfalls der Gemeinde und Kirche, ist in dem Horizont der Genannten im NT nicht erhalten und bildet ein neues, in der Geschichte entstandenes Problem. Mit der Erfahrung, die dieses Problem konstituierte, stand Luther in der Tradition der großen Reform um die Jahrtausendwende. Sie erneuerte sich für ihn unter veränderten Bedingungen und nach der Erschöpfung einer Möglichkeit, in welcher ehedem die Reform die Lösung dieser Frage gesucht hatte.
Ausweg aus dieser Lage war nicht der Versuch, die Kirche in irgendeiner Weise auf ihre immanenten geistlichen Kräfte zurückzuverweisen, weder auf eine Reform des Amtes noch auf die inneren Kräfte der Gemeinde. Im Gegenteil mußte nunmehr, abgelöst von allem menschlichen Vermögen, die transzendentale Frage noch einmal radikalisiert werden. Die Lösung dafür war, nach der Abweisung der falschen Subjektivität des inneren Wortes und des inneren Lichtes der Gedanke und das Prinzip des verbum externum mit seiner Evidenz und perspicuitas, das Wort, das sich selbst ausrichtet. Nicht nur die Ekklesiologie, sondern vor allem die Kirchenrechtskonzeption der lutherische Reformation ist nur von diesem Punkte her darzustellen und zu verstehen. Das will sagen: in der Kirche muß allein sichergestellt werden, daß im Sinne von CA V gepredigt und die Sakramente verwaltet werden. Dazu ist als eine sichtbare Institution das ministerium ecclesiasticum bestimmt.
Weder bei seinen Trägern noch bei der Gemeinde kann darauf abgehoben werden, daß sie schon Christen sind. Sie können es immer erst werden durch die Ausrichtung des Wortes, und dieses Wort richtet sich selbst aus, indem sich der Prediger — und die Hörer — getreulich unter es stellen. Daher kommt es auch entscheidend darauf an, daß die äußere Möglichkeit der Ausrichtung des Wortes sichergestellt wird. Jede institutionelle Form, die das gewährleistet, ist gut genug.
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Da aber gerade die Kirche als solche nicht institutionell gewährleisten kann, daß die Träger ihres Amtes als Träger des Geistes legitime Subjekte des kirchlichen Handelns sind, wie sie das bisher gemeint und versucht hat, so müssen diese Institutionen mit ihrem falschen Anspruch entmächtigt und die einzige Institution göttlicher Stiftung, das geistliche Amt, von allen konkret-historischen Merkmalen entkleidet, auf ihr reines „Daß” beschränkt werden. Es ist nicht mehr ein Amt eines historische geprägten und gefüllten Typus, kein Presbyter, auch nicht im biblischen Sinne — es ist ein ministerium sine nomine. Das drück sich zugleich in der ungleichen Parallele des deutschen Textes aus, wo — sachlich ganz unvollständig — vom Predigtamt die Rede ist. Aus den gleichen Gründen kann zwischen seinen Trägern kein irgendwie theologisch relevanter Unterschied bestehen.
Gerade weil die bisherigen kirchlichen Institutionen, Bischofsamt, Konzil, geschweige denn Hierarchie und Papst, mit einem unbewährten Geistanspruch behaftet sind, kann (und muß dann folgeweise, ohne daß daran an und für sich ein aktives Interesse besteht) die institutionelle Struktur der Kirche auf andere Institutionen verlagert werden, auf die weltliche Obrigkeit, die als Treuhänder der Kirche zu dienen bereit ist, und die theologischen Fakultäten, nachdem schon in der Reformbewegung nach der Zerstörung der bischöflichen Synode die Struktur der mittelalterlichen Universität mit ihrer Nationengliederung als Aushilfsmittel hatte dienen müssen. Denn die Geschichte duldet kein Vakuum. Wo eine historische Gemeinschaft nicht die ihr eigenen institutionellen Formen auszubilden und als legitime, als Ausdruck ihrer Identität festzuhalten vermag, muß sie unweigerlich, will sie nicht zugrunde gehen, fremde Formen als Ersatzinstitution und geborgte Legitimität übernehmen.81
Die beschriebene Konzeption drückt sich in den kirchenrechtlich relevanten Artikeln des Augsburgischen Bekenntnisses aus. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem zentralen Art. IV de iustificatione steht der Art. V de ministerio ecclesiastico. Die äußere Ausrichtung des Wortes Gottes durch das dazu berufene Amt erscheint als die schlechthinnige, einzige Bedingung der Möglichkeit von Glaube und Kirche. Das Wort muß als eine Potenz verstanden werden, die vermöge der ihr selbst innewohnenden schöpferischen Lebendigkeit, als viva vox evangelii richtend und begnadigend und damit allein konstituierend wirksam wird. Gerade diese Wirkung aber in ihrer sich selbst tragenden Kraft war von der äußeren Ausrichtung und dem gehorsamen Hören dieser Verkündigung abhängig —fides ex auditu.
Man kann — ohne daß diese Redeweise eine direkte Stütze in den maßgeblichen Texten besitzt — namhafte lutherische Theologen von der „Sakramentalität” des Wortes sprechen hören, in einer bemerklichen Verschiebung der Terminologie, während eine — bei Paulus selbst unmögliche — Antithese wie „worthafte” und „sakramentale” Existenz82 zwar nicht
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Gemeingut ist, aber auch keinen Protest hervorruft. Vor jeder denkbaren Bestimmung der Elemente der Kirchenverfassung, etwa in Amt und Gemeinde, steht vorweg diese grundlegende Notwendigkeit, von der alles abhängt. Daß heißt aber: die gleiche transzendentale Bedeutsamkeit, welche die päpstliche Letztentscheidung für Bestand und Legitimität alles kirchlichen Lebens und Handelns beansprucht hatte, ging nunmehr auf das quasi-personale Wort selbst über. Der dogmatische Satz, daß die Kirche eine creatura verbi sei, der bis heute immer wieder vorgetragen wird, wenn man auf die letzten Gründe dieser Auffassung zurückgeht, ist die sinngemäße Parallele zu dem Satze, daß die Kardinäle creaturae papae sind. Diese Kardinäle besitzen darum Fähigkeit und Kompetenz, das oberste und alles bedingende Amt der Kirche ohne jede Basis in der immanenten pneumatischen Vorfindlichkeit der Kirche aus sich hervorzubringen und zu regenerieren (Exkurs I S. 206 ff.).
Diese Transzendentalität des verbum externum — nicht des Wortes in seiner allgemeinen vollzugslosen Abstraktion — zieht nun nicht dem Inhalte, wohl aber der Struktur nach die vergleichbaren, analogen Folgen nach sich, die schon aus der Transzendentalität der päpstlichen Vollgewalt entstanden.
Dies ist auch der Grund, aus dem das Phänomen und Problem der Personaltradition, des personalen Moments der Tradition gänzlich unverständlich geworden ist. Daß die Auslegung von Matth. 16/18 auf das Evangelium den historisch-soziologischen Horizont verkennt, daß hier Person und Inhalt unscheinbar ineinanderhängen, habe ich schon in Band I, Kap. XII dargelegt. Der Bukarester orthodoxe Kirchenrechtslehrer Liviu Stan hat mir gesagt, daß er sich mit dieser Auffassung eher verständigen könne als mit der von Edmund Schlink vertretenen, die sich mit behutsamen Vorbehalt der mittleren anglikanischen annähert. Aber der sachliche Grund für den Ausfall des Verständnisses wird erst durch den transzendentalen Grund der Gesamtkonzeption einsichtig, der mit dem instrumentalen Charakter des Amtes das Personalitätsmoment beiseitestellt, ohne es ganz ausscheiden zu können.
Es ist charakteristisch, daß Rechtfertigung und Amt, Predigtwort und Amt, in einem primären Range und zugleich zirkulären Verhältnis stehen. Dieses zirkuläre Verhältnis des Aussages in CA V und VII ist eine Meisterleistung Melanchthons, der hier bewußt Wort und Amt, Wort und Kirche, ministerium und congregatio im Gleichgewicht hielt. Jede Verschiebung in diesem Verhältnis müßte und mußte die größten Folgerungen nach sich ziehen. Diese denkerische Leistung ist nicht genügend gewürdigt und beachtet worden — sie ist auch begreiflicherweise durch ihre eigene Subtilität gefährdet.
Eine Verschiebung nach der Seite von Amt und Kirche hätte zwar nicht in die Papstkirche, aber auf die Position des Anglikanismus und Altkatholizismus — oder weit schlimmer — in schlechte Karikaturen einer
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solchen großen Tradition —, eine Verschiebung nach der Wortseite in einen Verbalismus, institutionell in ein doktrinäres und zugleich unverantwortliches Professorenregiment geführt. Es war gedanklich die einzig folgerichtige Vermittlung (unter der Prämisse der Worttheologie); der darin zugleich enthaltene latente Widerstreit — schon im Wesen Melanchthons selbst — ist das Kennzeichnen der Lutherischen Kirche geblieben.
Die Mitte der Konfessionen ist eher ein verzweifelter, schwieriger Balance-Akt. Man kann weder ein solches Haus bauen noch so tun, als sei man ein Nomade. Diese Position — einer Momentaufnahme vergleichbar — hat zugleich einen transitorischen Charakter.
Demgegenüber fehlen jedoch in den kirchenrechtlichen Aussagen der Bekenntnisschriften alle übrigen, für das Leben der Kirche sonst etwa wesentlichen Institutionen und Ordnungen. Das Kirchenregiment wird freilich vorausgesetzt: es wird betont, daß die Bischöfe keine Vorschriften und Ordnungen zu machen befugt seien, die nicht in der Schrift ihren Grund hätten. Gleichwohl wird aber die potestas ecclesiastica der Bischöfe in Art. XXVIII nicht als Leitungsgewalt, als Aufsicht oder episcopé geschildert, wozu der traditionelle Titel des Bischofs Möglichkeit geboten hätte.83
Von der Verfassung oder Mitwirkung der Gemeinde ist keine Rede. Ebensowenig kommt das Wort Synode vor. Man könnte diese Reihe fortsetzen.
Nun kann man sagen, daß es sich hier um eine bewusste Selbstbeschränkung auf das im Augenblick Streitige und Notwendige handele. Zugleich eröffne die Zurückstellung so wichtiger Fragen gegenüber der Absolutheit des positiven kanonischen Rechts die Freiheit der Gestaltung, wenn auch vielleicht die Tragweite und Dringlichkeit dieser Fragen unterschätzt werde. Eine Strecke weit mag das richtig sein.
Daß es aber nicht ausreicht, wird an handgreiflichen Widersprüchen deutlich. Es bleibt die Frage unbeantwortet, wie sich das pure docere und das recte administrier konkret bestimmt und klärt. Es bleibt ebenso offen, wer in das so zentral verstandene Amt voziert, nicht weniger die Frage, wie sich der zur Einigkeit der Kirche genügende, aber doch zugleich notwendige Konsens herstellt.
Die Verfasser der CA und der Bekenntnisschriften überhaupt bis zur Formula Concordiae hätten so nicht verfahren können, wenn sie nicht der Überzeugung gewesen wären, eben auf diese Fragen eine zureichende Antwort bereits gegeben zu haben, die im Wesentlichen nicht zu überbieten, nicht ergänzungsbedürftig sei. Diese Antwort ist in der Tat — was man auch immer davon halten mag — in der Verbindung von Wort und Amt als Instrument des verbum externum gegeben. Das Wort ist das (Quasi-)Subjekt der Kirche, welches alle hier relevanten Dingen schafft, welches beruft und sich durchsetzt, wann und wo es ihm gefällt.
Diese Grundposition Luthers ist von K.G. Steck in einer Abhandlung
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über den Locus de Synodis in der lutherischen Dogmatik in Gestalt eines Zitats aus einem älteren konfessionskundlichen Werk ins Bewußtsein gehoben worden. Der von ihm zitierte Geschichtsschreiber der Rheinischen Kirche, Max Giebel,84 schreibt in einem Versuch komparativer Ekklesiologie:
„Luther betrachtet die christliche Gemeinde immer als eine erst werdende, nicht wie die Apostel durchgängig und ihnen nach die Reformierten, als eine faktisch schon gewordene schon gereinigte und geheiligte, die nun nur im Einzelnen zu immer vollkommenerer Aneignung des Heils, aber auch zu vollkommenerer Haltung des göttlichen Gesetzes anzuhalten wäre.”84a
Deshalb sagt Hauck85 ganz richtig über die Stellung der lutherischen Kirche zum Synodalwesen:
„Von diesen Vorstellungen (Luthers und Melanchthons) aus lag der Gedanke, die notwendige Organisation der evangelischen Territorialkirchen mit Hilfe des neugeordneten Synodalwesens zu vollziehen, ebenso ferne, wie von der ausschließenden Betonung des Grundsatzes aus, daß es für die Kirche genüge, wenn für Predigt und Sakramentsverwaltung gesorgt werde. Auch für das weitere Leben der lutherischen Territorialkirchen blieben die Synoden, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, außer Betracht: daß man dem geistlichen Stand vielerorts eine synodale Zusammenfassung gab, ist kein Widerspruch, denn Geistlichkeitssynoden sind nicht als Synoden im evangelischen Sinne anzuerkennen.”
Dieses Grundverständnis erklärt zahlreiche, sonst gänzlich unverständliche Erscheinungen des lutherischen Kirchenrechts, die viel zu prägnant sind, um sie als nur zufällige oder unvollendete Bildungen zu verstehen.
a) Das auffällige und bis in moderne, repräsentative Arbeiten wie
die von Münter durchhaltende Desinteresse an den aktiven Rechten
der Gemeinde, der Kirchenvorsteher und der Synoden. Dies zeigt
sich in der Abstoßung der liturgischen Reste der
Gemeindebeteiligung in den
Ordinationsformularen86,86a. Die Formel vom
allgemeinen Priestertum bedeutet kirchenrechtlich im wesentlichen
die Verneinung eines gesonderten Klerus. Die reformatorischen
Kirchen haben in keiner Weise versucht, die Vielfalt
charismatischer Gaben nach dem vielberufenen Vorbild der
paulinischen Gemeinden anzusprechen und in Dienst zu stellen. Im
Gegenteil haben sich die Gemeinden als hörende Gemeinden
vereinheitlicht, in welchen die Gaben des Einzelnen aktiv
entweder überhaupt nicht oder nur in sehr sekundärem Sinne ins
Spiel kommen.
Das den Gemeinden zugesprochene Recht, Lehre zu urteilen, kommt,
wenn überhaupt, immer nur als Notrecht in Betracht, während die
Prüfung der Amtsfähigkeit eine Sache der Fakultäten und der
Kirchenleitung wird (oder bleibt).
b) auf der Seite des Amtes ist auch nur so und nicht nur im Rückschlag
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gegen die absolute Ordination die einseitige Betonung des
Vokationsgedankens und die mehr oder minder folgerichtige
Weigerung zu verstehen, Auftrag und Vollmacht miteinander zu
verbinden — gegen den klaren Text der Schrift und die Sachlogik,
wie auch — horribile dictu — gegen die gesunde Tradition der
ganzen Kirche.
In tragischer Zwangsläufigkeit ergab sich, daß das verbleibende
unauflösbar institutionelle Element der Kirche, das aus allen
historischen Konkretionen abstrahierte, auf Gleichheit gestellte
ministerium ecclesiasticum notwendig überlastet werden mußte. Es
konnte nacht diesem Verständnis gar nicht in verschiedene
Verrichtungen aufgegliedert werden. Mit dem einen Amt
war mehr oder minder zwangsläufig auch das Ein-Mann-System
verbunden und die steigende Unfähigkeit der Gemeinden, sich ohne
dieses Amt geistlich selbst zu versorgen. Die Übersteigerung des
lutherischen Amtsbegriffs, der sich dann mit ständischen
Vorstellungen vergehender Epochen angereichert und zugleich
belastet hat, liegt zutage. Aber welche seltsame Vorstellung, daß
man durch eine bewusste, von jeder historische Form rein
gehaltene Abstraktion des Amtsbegriffs der historischen
Kontingenz und damit der Geschichtlichkeit der Gestaltung
entgehen könne! Dies ist ein verzweifelter Denkfehler.
c) Im Jahre 1529 hat Landgraf Philipp von Hessen den Versuch
gemacht, eine von Lambert von Avignon87 entworfene,
zweifellos aus einer reformierten Grundhaltung stammende
Kirchenverfassung zu verwirklichen. Dies sah eine Aufgabe des
volkskirchlichen Prinzips vor; zur Kirche sollen nur diejenigen
gehören, die sich für sie entschieden, so daß erstmalig im
Reichsverband Vollbürger erschienen wären, die nicht Angehörige
eines reichsrechtliche anerkannten Bekenntnisses waren. Die so
entstandenen Gemeinden sollten eine Ämterordnung erhalten, die
den reformierten Vorstellungen weitgehend entsprach und in von
unten aufgebauten synodalen Verbänden zusammengefaßt werden, an
deren Spitze ein leitender Bischof stehen sollte, der von der
Synode zu wählen war.
Dieser — aus anderen Gründen — nie verwirklichte Entwurf hat
Luther vorgelegen und seine deutliche Mißbilligung erfahren. Man
hat oft gerätselt, aus welchen unausgesprochenen grundsätzlichen
Erwägungen sich Luther einer so folgerichtigen
Verfassungskonzeption widersetzte. Wir haben jetzt in dem oben
Gesagten die Erklärung vor uns. Luther weigerte sich, an
irgendeiner Stelle eines denkbaren Kirchenaufbaus den Christen
schon als einen existenten, schon vorhandenen konstitutiv
einzusetzen. Denn wenn die Christen durch das anzunehmende Wort
in die Existenz-Dialektik des simul iustus et peccator gestellt
werden, so müssen sie durch das von oben ausgerichtete
und sich ausrichtende verbum externum mit dem Evangelium
konfrontiert werden. Darum hat es keinen Sinn, die damit gegebene
offene Allgemeinheit der
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Verkündigung durch subjektive Vorwegentscheidungen
einzuschränken. Aus diesem Grunde hat das Luthertum mit solcher
Entschlossenheit den umfassenden Bestand der Volkskirche
übernommen und dem Gedanken der Bildung von Minderheitsgemeinden
und Heiligungsgemeinden bewußter und entschiedener Christen immer
widerstanden.
Wenn man mit solcher skeptischer Entschlossenheit die Kirche auf
das verbum externum stellt, muß sich die Frage nach der inneren
und eigentlichen Gemeinschaft der Kirche von ganz allein
aufdrängen. Es ist klar, daß diese Gemeinschaft durch die
sichtbare Ordnung nur eingeschlossen und verdeckt wird. Gerade
das oft zitierte Wort Luthers, er habe noch andere
Gottesdienstordnungen im Auge für diejenigen, die mit Ernst
Christen sein wollten, ist ein Beleg für diese Lage. Luther hat
diese Leute, wie er selbst wiederholt gesagt hat, nicht gehabt
und würde sie nie gehabt haben.
Es ist eine zugleich sehr kritische Skepsis, die sich in der
unerbittlichen Abweisung der auch von der protestantischen Linken
bis heute immer wieder gestellten Frage nach dem Geist
widerspiegelt, obgleich es die legitime Frage nach dem Ort des
Heiligen Geistes in der Kirche wie die Anmaßung des Geistbesitz
ebenso gibt.
d) Aus alledem wird schließlich jene Bereitschaft verständlich,
wie die Notwendigkeit ersichtlich, Ersatzinstitutionen des
Staates und der Universitäten konstitutiv in das kirchliche
Gefüge einzubeziehen. Dabei besteht weit eher eine kritische
Distanz gegenüber der obrigkeitlichen Gewalt als gegenüber den
Fakultäten, die durch den falschen Schein institutioneller
Interesselosigkeit und dazu durch ihre „Wissenschaftlichkeit” für
den Dienst als Ersatzinstitution brauchbar scheinen und zugleich
durch den historischen Nimbus der Reformation gedeckt sind, zumal
Luther und Melanchthon selbst Professoren waren.
Neben dem historisch-objektiven allgemeinen Zug zur Verstärkung
der Autorität vom 16. bis 18. Jahrhundert, was er gewiß nicht
primär eine falsche Bereitschaft, Autoritäten zu folgen, sondern
die selbstgeschaffene Unfähigkeit, das Handeln der Kirche mit
adäquaten institutionellen Mitteln zu verantworten und zu
gestalten. Daher auch die politisch-psychologische Schwierigkeit
des Luthertums, über den Sturz der Monarchie hinwegzukommen und
sich im Kirchenkampf klar gegenüber einer nicht mehr zum Schutz
der Kirche bereiten, geschickt ihren Obrigkeitscharakter
herausstellenden Staatsgewalt abzusetzen. Der immer wiederholte
Vorwurf, das Luthertum sei aus einer Mischung einseitiger
theologischer Motive und fataler Neigungen zur Mesalliance mit
den politisch-sozialen Mächten des 16. bis 20. Jahrhunderts
autoritätsfromm geworden, ist in dieser Form gewiß unberechtigt.
Es heißt die lutherische Reformation doch sehr unterschätzen,
wenn man meint, sie sei in ihren entscheidenden Gestaltungen
durch Anderes bestimmt worden als durch ihre primären
theologischen Anliegen. Diese aber fanden ihre
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gemäße Gestalt in der — von Hauck a.a.O. beiläufig als
„ausschließlich” bezeichneten — Hinwendung an das verbum
externum, aus der alles Andere folgt.
Was immer an jenen Vorwürfen historisch berechtigt ist: es
betrifft regelmäßig nur die Folgen, nicht die Motive und
Grundsätze. Das heutige politische Verdikt aus einer völlig
anderen historischen Situation ist viel zu oberflächlich und
billig, um die wirklichen theologischen Gründe angemessen
darzustellen und zu erfassen. Solche Tatbestände könne weder von
dem Standpunkt eines konfessionellen Apriorismus aufgedeckt
werden, noch von einer liberalen oder marxistischen
Kirchenkritik, welche theologische Motive von vornherein nicht
ernstnimmt. Diejenigen, für die das Phänomen der Autorität schon
als solches anstößig ist, werden vollends kaum das Recht haben,
diese Kritik zu vertreten. Und keine Mündigkeit und
Rechtssubjektivität hebt die Notwendigkeit auf, der Gemeinde und
Synode vom Evangelium her gerade das Anstößige zu sagen, was sie
sich vor ihrer Mündigkeit und Subjektivität her nun gerade am
allerwenigsten gern sagen läßt.
Das Selbstverständnis der lutherischen Kirchenrechtslehre
schwankt seither zwischen der These, daß in ihr die
kirchenrechtlich notwendigen Bestandteile bewußt auf ein Minimum,
nämlich das ministerium ecclesiasticum beschränkt bleiben, und
der weitergehenden, sich an kirchliche Vorbilder anlehnenden
Auffassung, daß die Zuordnung von Amt und Gemeinde der alleinige
charakteristische und notwendige Grundriß lutherischer
Kirchenordnung sei. Dies nimmt die Tatsache auf, daß neben dem
ausdrücklich als divinitus institutum angesprochenen Ministerium
als Frucht und Ort der Verkündigung die congregatio genannt wird.
Mit dieser Dualität ist eine Weiterentwicklung ermöglicht, welche
sich an liturgische Grundgedanken Luthers anschließt und eine
völlige Gestaltlosigkeit der Kirche zu vermeiden trachtet. Daß in
dem verbindlichen Text allein vom Amt, nicht aber von einem
aktiven Subjekt Gemeinde die Rede ist, daß dieses Amt rein
abstrakt ohne irgendeine Anlehnung an einen
spezifisch-historischen Typus als Bischof oder Presbyter oder
auch Pastor gekennzeichnet wird und daß nur in einer nicht ganz
klaren Abwandlung im deutschen Text das Amt von seiner Funktion
her als Predigtamt bezeichnet wird, wodurch die
Sakramentsverwaltung nicht eindeutig eingeordnet ist — dies alles
ist aus dem Gefälle der transzendentalen Struktur nur zu
verständlich.
Diese Vergleichgültigung und Entwertung aller für das regelmäßige
Leben der Kirche als Kirche charakteristischen und notwendigen
Bildungen hat nun zu den seltsamsten Folgerungen geführt. Loyale
und kundige Kulturhistoriker haben mit kopfschüttelnder
Verwunderung darauf verwiesen, daß die großen Reformatoren die
offenkundigen Folgen ihres eigenen Verhaltens in einer fast
unglaubhaften Weise außer Betracht gelassen haben. Ein
handgreiflicher Fehlschluss liegt dem —
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abgesehen von der Folgerichtigkeit ihrer theologischen Erwägungen
— freilich zugrunde. Die Beschränkung der institutionellen
Merkmale der Kirche auf ministerium und congregatio vermindert
nicht die institutionelle Last, sondern konzentriert sie nur.
Wenn man einen Tisch statt auf vier Beine auf ein einziges in der
Mitte stellt, so bleibt die Last die gleiche. Seither haben aber
ihre Nachfolger in der Verantwortung für die lutherische Kirche
es schwer gehabt, auch die elementarsten Forderungen für einen
strukturellen Aufbau der Kirche zu vertreten und durchzusetzen.
Wieviel theologischen Schaftsinns hat es bedurft, um auch nur die
Notwendigkeit einer Kirchenleitung zu begründen, um die sich etwa
Friedrich Karl Schumann bemüht hat.88
Worauf beruft sich ein lutherischer Theologe, wenn er gegenüber
der machtpolitische Einwirkung des Staates das Recht der
Eigenständigkeit der Kirche zu vertreten veranlaßt ist — sofern
es sich nicht um die der Kirche unbestrittene Befugnis der
Predigt handelt? Welche Schwierigkeiten besaß und besitzt die
Entwicklung des Synodal- und Gemeindeverfassungsrechts?
Noch heute kann im Bereich des skandinavischen Luthertums,
insbesondere in Dänemark, — auch von am Kirchenrecht
interessierten Theologen — die Meinung vertreten werden, daß
beliebige Subjekte je nach Situation Träger der vocatio für das
Amt der Kirche sein können. Es handelt sich hier kaum mehr um
eine Ableitung aus der traditionellen Autorität des monarchischen
Summepiskopats. Die administrative Zuständigkeit
parlamentarischer Kirchenminister verdrängt ganz
selbstverständlich Gedanken und Grundsatz einer notwendigen
Eigenverantwortung der Kirche aus den in ihr lebenden
Kräften.89
Mit jener Vergleichgültigung geht nun gerade hier auch jene
Übertragung des Subjekt-Objekt-Schemas Hand in Hand, die schon
als unvermeidliche Konsequenz im Neukatholizismus nachzuweisen
war. Denn alle jene Dinge, die, so notwendig sie auch waren,
außerhalb des Interesses der Bekenntnisschriften gestanden haben,
waren nach diesem Selbstverständnis der völligen Freiheit der
Gestaltung überlassen. Damit aber wurden sie zu Objekten, welche
für die Existenz des mit ihnen Befaßten grundsätzlich keine
Bedeutung mehr besitzen konnten. Waren sie aber theologisch in
diesem Maße entwertet, so konnten sie auch nicht das Interesse
beanspruchen und entbinden, welches zu ihrer sinngemäßen
Gestaltung und ihrem pfleglichen Ausbau erforderlich war. So wird
die Kirche, deren Glieder sich als freie Herren auch dieser Dinge
zu verstehen haben, immobil, weil diese Freiheit keinen
notwendigen, sinnvollen Inhalt, kein lohnendes, anspornendes Ziel
hat.
Die Church of England dagegen, die ja von den scholastischen
Abstraktionen und der schroffen Härte des römischen Kirchenrechts
frei ist, bildet behutsam und sorgfältig ihr canon law von Zeit
zu Zeit weiter, ohne es jeweils von Grund auf in Frage zu
stellen.
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Die Voraussetzung ständiger Verfügbarkeit und immer erneuter
Überprüfbarkeit aller Gestaltungen aber führt dazu, daß der kluge
Ausweg der Penelope, in der Nacht das am Tage Gewebte wieder
aufzulösen, nunmehr zum Prinzip der innerkirchlichen Ökonomie des
Handelns erhoben wird.90 Umgekehrt aber zieht das auf
diese Weise entstandene Vakuum der Bedeutungslosigkeit Kräfte an,
die sich zum Herren machen und den freien Herrn aller Dinge auch
in der Kirche zum untertänigen Knecht solcher Wirkungen werden
lassen, die er selbst provoziert hat. Mit dem unhistorisch
gewordenen, namenlosen Amt verbinden sich ständische Kräfte,
Vorstellungen und Interessen, die in gefährlicher Weise sein Bild
verdunkeln, auch wenn sie lange Strecken hindurch als nicht
unerwünschte Substruktur dienen konnten.
Auf diese Weise kann die Kirche mit dem Bedeutsamkeitsanspruch
und dem sozialen Prestige der Fakultäten Niet fertig werden, die
sie doch als Lehre und Erzieher und Prediger nicht missen kann.
In ähnlicher Weise ist sie auf lange Strecken wehrlos gegen eine
gut gemeinte und zugleich doch eigene Interessen verfolgende
Einwirkung des Staates, die sie vielleicht eines Tages los wird,
ohne recht zu wissen, was sie an ihre Stelle setzen wird, weil
ihr die Entschiedenheit des Glaubens die geschichtliche
Entschlossenheit genommen hat, die Kirche als Kirche gegenüber
der Welt zu vertreten.
Aus den gleichen Gründen führt die gleiche gedankliche Basis zu
der Spaltung des Kirchenbegriffs in die ecclesia universalis
permixta und die ecclesia proprie dicta vere
credentium91 in Parallele zu der Unterscheidung
zwischen der jurisdiktionellen Kirche und dem corpus mysticum im
Sinne Pius XII.
Das Gesamtbild zeigt also, daß der Schematismus des
transzendentalen Kirchenrechts dem des Neukatholizismus
entspricht, nur daß die inhaltlichen Axiome mit weitergreifenden
Wirkungen vertauscht sind.
Was sich in beiden ebenso übereinstimmend zeigen läßt, ist jene
Kopflastigkeit, in der die zentralen Entscheidungen, sei es der
Beichtjurisdiktion, sei es der Rechtfertigungsdialektik, so zum
alleinigen Gegenstand des Interesses werden,92 daß
ihnen gegenüber alles Andere zurücktreten kann. Wie stark die
lutherische Theologie von der forensischen Problematik der
Sündenvergebung, also von dem unveränderten Gegenstand der
abgeworfenen scholastischen Beichtjurisdiktion, bestimmt ist,
zeigt in langen Passagen fast der gesamte Inhalt der Apologie zur
Confessio Augustana. Die Lösungen des Problems sind wesentliche
verschieden, Thematik und Interesse aber aufs engste verwandt,
wenn nicht identisch. Genau wie das Interesse an der
unterschiedlich ausgedrückten Realpräsenz, so ist dasjenige an
der geschehende Sündenvergebung dasselbe, während sich im Bereich
Zwinglis und Calvins folgerichtig der Schwerpunkt auf die
Heiligung verschiebt.
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Wie die römische Kirche aber lebt auch die lutherische von den
noch durchhaltenden unermeßlichen Beständen der älteren
Kirchenverfassung, ihrer territorialen und parochialen Ordnung,
wenn diese auch längst nach dem grimmigen Wort eines lutherischen
Bischofs zur Parochial- und Territorial-Häresie geworden
sind.
Es ist und bleibt allerdings ein Skandalen, daß eine mit der
kritischen Frage der Schriftgemäßheit operierende, gegen allen
denkerischen Universalismus allergische Kirche und Theologie
(latet dolus in generalibus!) weder vermocht noch auch nur
versucht hat, den ihr eingestifteten, korrespondierenden
Partikularismus zur Prüfung zu stellen, geschweige ihn als eine
innergeschichtliche Abhängigkeit zu überwinden.
Auf die lutherische Konzeption der Selbstmächtigkeit und Selbstausrichtung des Wortes Gottes folgt mit dem Abstand einer halben Generation wie eine Art Phasenverschiebung eine weitere, die des Calvinismus. Man muß sich vor Augen halten, daß die reformatorische Gesamtbewegung auf einer tiefgreifenden Krise des personalen und des historisch-kontingenten Elements der Kirche beruhte. Diese Krise kann nicht radikal genug verstanden werden. Dem rationalen Scharfsinn Calvins aber wurde eine denkerische Schwäche der lutherischen Position deutlich. Wenn das Heilshandeln Gottes eine so umfassende Bemühung für die Rettung der Menschheit bedeutete, dann konnte ihr Gelingen nicht von der innergeschichtlichen Zufälligkeit abhängen, ob hier und dort die Verkündung des Wortes Gottes auch tatsächlich erfolgte, zumal wenn gerade die geschichtliche Kirche als solche als Trägerin des Pneumas dieses Geschehen weder repräsentierte noch gewährleistete, und man mit großer Folgerichtigkeit jede institutionelle Sicherung hintansetzte.
Es mußte daher eine sehr viel umfassendere Grundlage gefunden werden, unter deren Voraussetzung erst die Ausrichtung des Wortes Gottes ihre Bedeutung haben konnte. So erfolgte die Rückverweisung auf die Prädestination. Die Vorschaltung dieses Gedankens stellte alles, was die calvinistische Reformation sichtbar mit der lutherischen gemeinsam hat, in ein anderes Licht, unter ein anderes Vorzeichen, gab ihm eine andere Bedeutung. Es schloß zugleich aber viele Übereinstimmungen und Berührungen aus, welche die lutherische Reformation mehr oder minder unreflektiert oder auch in bewußter Traditionsfreundlichkeit mit der Tradition der Kirche verband, obwohl auch bei Calvin der Rückgriff auf die gute Tradition der älteren Kirche in sämtlichen Schriften einen breiten Raum einnimmt.
Der lutherischen Kirche, welche sich als „Mitte der Konfessionen” versteht, ist schon frühzeitig, erst recht in der Moderne der Vorwurf des Kompromisses mit dem Katholizismus, der Halbheit und Inkonsequenz
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gemacht worden. Tatsächlich sind es zwei Antithesen: zwischen Neukatholizismus und Reformation in Gestalt des Personalitätsproblems, und zwischen beiden reformatorischen Konfessionen. Das Wesen dieser Gegensätze zu klären, ist eine wesentliche Aufgabe dieser Schrift.
Für Calvin und den Calvinismus gelten daher und jedenfalls transzendentaler Voraussetzungen eigener Art. „Die Gnade Gottes ist frei, und deshalb … gültig und unwiderruflich. Sie geht als freie Wahl der im Wort geschehenen vocatio wie erst recht dem Glauben vorauf und trägt beide.”93
Zum Verständnis ist ein Abschnitt in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik in einem der klassischen (kleingedruckten) theologiegeschichtlichen Exkurse von großer Bedeutung. Hier heißt es:94
„… überblickt man Calvins Lehre De modo percipiendae gratiae im dritten Buch der Institutio als Ganzes, so scheint es das Naheliegendste, das sie beherrschende und organisierende Problem in jenem Zweiten, in der Frage nach der Entfaltung und Gestaltung des christlichen Lebens und also nach der Heiligung zu erkennen … Zur Beantwortung dieser Frage hätte dann die Rechtfertigungslehre bei Calvin die nötige Begründung und kritische Sicherung gewissermaßen nachgeliefert: auch das übrigens nicht, ohne daß die durch die an noch späterer Stelle (c. 21-24) auftauchende und sachlich nach rückwärts noch weiter ausholende Prädestinationslehre überboten und einigermaßen in den Schatten gestellt wird.”
Man beachte den Verweis auf die umgreifende, vorausliegende Bedeutung und Wirkung der Prädestinationslehre. Die nach dieser Lehre schon geschehene Vorentscheidung über das geistliche Schicksal jedes Einzelnen schließt grundsätzlich aus, daß in den innerweltlichen Vollzügen der Kirche und damit durch ihr Amt noch irgendetwas geschieht, was für diesen Menschen konstituierend wäre, im geistlichen Sinne schöpferischen Charakter trüge.
Was hier more dogmatico vel historico nicht herauskommt und auch nicht herauskommen kann, ist die Frage nach der Vermittelbarkeit, den Bedingungen, Formen und Konsequenzen dieser Vermittlung, ihrer notwendigen Institutionalisierung. Der Eingang in Lehre, Gottesdienst, Leben und Kirchenverfassung ist das Nadelöhr, durch das eine solche Konzeption hindurch muß; dies bedeutet eine Prüfung auf Vollzugsfähigkeit, aber auch eine Formung des eingebrachten Gehalts. Die Bedeutung dieser Korrelation, dieses Rückkoppelungsprozesses wird gemeinhin übersehen.
Der in die Augen fallende und in der Tat wesentliche Unterschied zwischen beiden reformatorischen Kirchen liegt darin, daß das Luthertum nur ein Amt, die reformierte Kirche jedoch grundsätzlich mehrere Ämter, eine ganze Ämterordnung besitzt. Was liegt nun dieser Ämtertypologie zugrunde? Für beide reformatorische Kirchen ist allein das Predigtamt divini iuris, stiftungsgemäß mit dem Wesen der Kirche verbunden. Die
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übrigen Ämter der reformierten Kirche sind solche guter biblischer Tradition, aber damit anderen und geringeren theologischen Gewichts.
Die reformierte Kirche, nach ihrer Selbstbezeichnung die „nach Gottes Wort reformierte”, hat mit einer erstaunlichen Direktheit gemeint, die sehr konkreten Amtsformen ihres Vierersystems unmittelbar aus der Vielfalt des früheren Gemeindelebens übernehmen zu können. Seit langem würde kein Exeget mehr diese Folgerungen übernehmen. Neben und mit der Pluralität der Ämter hat sich auch die Kollegialität der Ämter als Grundsatz und Tradition ausgebildet. Auch dies unterscheidet sich vom Luthertum. Beides, Pluralität und Kollegialität, ist nach den geschilderten transzendentalen Voraussetzungen auch sinnvoll und notwendig. Liegt die Prädestination allem Geschehenen in der Kirche voraus, so liegt die Verkündigung des Evangeliums und des Gesetzes einschließlich der Rechtfertigung mit der Gemeindezucht und der Bewährung in der Diakonie auf einer Ebene. Rechtfertigung und Heiligung sind eng miteinander verbunden. Daher sind auch die Ämter miteinander verzahnt, gleich wesentlich, so gewiß dem Amte der Verkündigung die ihm eigene Prävalenz und Unabhängigkeit vorbehalten wird. Es gibt im Presbyterium Lehrkonflikte, aber es kann nie ein imperatives Mandat über die Predigt geben.
Calvin hat bekanntlich immer wieder Erwägungen über die beste und rechte Kirchenverfassung angestellt. Ich führe hier eine charakteristische Stelle an95:
„Atque hoc inter tyrannidem et confusam licentiam medium est, ut nihil agatur nisi ex consensu et approbatione plebis: pastores tamen moderentur, ut eorum auctoritas instar freni sit ad cohibendos plebis impetus, ne ultra modum exsultent”
Er knüpft damit an die Tradition der griechischen Staatsphilosophen an. Diese entnahm der politischen Erfahrung die drei großen Formen der Verfassung Monarchie, Aristokratie und Demokratie und stellte jeder von ihnen typische Formen der Entartung gegenüber als die sichtbaren Gefahren, welche jede von ihnen in sich birgt. An dieses Gedankenschema knüpft Calvin an. Aber er schildert von vornherein die Aristokratie des pluralen Amtes als heilsame Mitte und Vermittlung, während er Monarchie und Demokratie ebenso allein in ihrer verderblichen Gestalt als Tyrannei oder Zügellosheit vorführt. Er läßt sich auf eine wirkliche Gegenüberstellung und Abwägung gar nicht erst ein. Seine Meinung ist vorentschieden und wird nur noch durch das Mißverhältnis zwischen der Positivität von Aristokratie und der Negativität der beiden anderen Formen illustriert. Er setzt sich nicht der Möglichkeit aus, zwischen virtuell gleichen Möglichkeiten zu entscheiden, noch dem Zwang, eine Begründung seiner Entscheidung zwischen gleichrangigen Möglichkeiten zu geben.
Er spricht als Theologe, nicht als Philosoph. Warum aber war in Gestalt dieser antikisierenden Illustration für ihn die Sache so zwingend
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vorentschieden? Dies ist nach dem eingangs Gesagten ohne weiteres zu erhellen. Unter den zentralen Voraussetzungen der Erwählung mußte jede Form des Kirchenregiments ausscheiden, deren Ämter im Geschehen der Kirche noch irgendwelche konstitutiven, schöpferischen Verrichtungen zu vollziehen hätten. Das paternale Bild des sakramentalen Bischofs war als personale Amtsform für ihn ausgeschlossen. Gegen nichts ist seither die calvinische Tradition so allergisch wie gegen jede Form der Amtsbefugnis einzelner Personen, von deren Handeln irdendetwas abhängen soll. Diese bis zu heftigen, tiefeingeschliffenen Affekten gesteigerte Abneigung wird einerseits verstärkt durch die Hereinnahme jüdischer und römisch-republikanischer Traditionen, denen sie umgekehrt ohne Rücksicht auf ihre außerchristlichen Herkunft zu einem christlich-theologischen Nimbus verholfen hat.
Aber ebensowenig kann sich der Calvinismus demokratisch verstehen. Er würde mit dem Erwählungsgedanken in Konflikt geraten, wenn der Satz angetastet würde, „nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt”. Jede Form der Selbstmächtigkeit, der Selbstverwirklichung würde allen Voraussetzungen des Gnadenwahlgedankens so hart widersprechen, daß dafür kein Raum ist. Freilich ist die Ablehnung der Demokratie um einen Grad schwächer als diejenige der Monarchie. Denn die Erwählung kann dann doch nachträglich in eine legitimierte Subjektivität eigenen Rechts umgedeutet werden, die von demokratischen Selbstverständnis nur schwer geschieden werden kann.
Calvins Begründung deckt nicht das unverzichtbare dogmatische Interesse auf, von dem er ausgeht. Denn mit der Bevorzugung der Aristokratie ist das Wesentliche für die zwingenden verfassungsrechtlichen Folgerungen noch nicht ausgesagt. Wenn es für eine Kirche der Erwählung nötig ist, die daraus folgenden Verpflichtungen der Heiligung in Zucht und Bewährung immer erneut einzuschärfen und dafür Lehrmeister, Vorsteher, Prediger und andere Amtsträger zu finden, so ist deren Verhältnis zur Gemeinde nicht einfach analog dem politischen Verhältnis von Aristokratie und Volk. Denn im Begriff der Aristokratie ist nicht enthalten, was für die Kirche vorauszusetzen und hier auch nicht gesagt ist, daß für beide Teile, Amtsträger und Gemeinde, unerbittlich die gleichen Grundsätze und Anforderungen gelten. Die weltliche Aristokratie setzt sich gerade selbst Maßstäbe, von denen das Volk nicht betroffen ist, die freilich als Richtpunkt und Anschauungsbild für die Gesamtheit nicht ohne Bedeutung sind. Aristokraten stammen aus dem gleichen Volk und werden als solche auch verstanden, aber sie fraternisieren nicht. Dieses dialektische Verhältnis fehlt in der Zuordnung der reformierten Ämter zur Gemeinde.
Das heutige verfassungsrechtliche Selbstverständnis des Calvinismus, welches sich in populären Schriften ausdrückt, bezeichnet die reformierte Kirchenverfassung als eine solche der christokratischen „Bruderschaft”.
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Daran ist soviel richtig, daß für alle die gleichen Maßstäbe gelten und daß Rangunterschiede streng ausgeschlossen sind, ebenso streng wie jede denkbare Form eines monarchischen Amtes. Was aber im Bruderschaftsgedanken nicht zum Ausdruck kommt, ist die notwendige Dualität von mahnenden und leitenden Ältesten und der Gesamtheit der Gemeinde. Dieses Verhältnis hat sich deutlich umgekehrt. Calvin hat es entschieden von oben nach unten im Blick und erwähnte als charakteristische Form seiner Verfassung nur den aristokratischen Typus, das Volk als Gemeinde oder die Gemeinde als Volk voraussetzend. Heute scheinen die auf das einheitliche Niveau des Presbyters projizierten, nicht mehr im früheren Sinne streng differenzierten Ämter eher von unten her als die aktiven Repräsentanten, die gewiß das Notwendige tun, aber doch nicht mehr in der ursprünglichen strengen Dualität gesehen werden.
In dieser Linie liegt auch die presbyterial-synodale Verfassung. Diese ist keineswegs einfach eine kirchliche Analogie zu demokratischen oder Selbstverwaltungskörperschaften. Vielmehr ist die Doppelung, die Verbindung von Presbyterat und Synode wesentlich. Die Synoden sind grundsätzlich Presbyterversammlungen. Sie repräsentieren nicht so sehr die Gemeinden, als daß sie sie kollegial leiten. Dem entspricht umgekehrt der Ausschluß einer selbständigen Kirchenleitung. Die Synode wird selbst als das oberste und zugleich kirchenleitende Organ verstanden. Die Kirchenleitung wird eine Art ständiger Synodalausschuß. Daraus ergibt sich auch der Satz und Grundsatz, daß bei versammelter Synode die Kirchenleitung dahinfalle. Dies ist in aller seiner gedanklichen Folgerichtigkeit einer der absurdesten Sätze, welche die Geschichte des Kirchenrechts hervorgebracht hat. Gerade in dem Augenblick, wo die Kirchenleitung vertritt, was sie getan hat, und vorschlägt, was zu tun sei, wird sie als nicht-existent behandelt, fingiert. Diese negative Rechtsfiktion, die in handgreiflichem Widerspruch zur soziologischen Wirklichkeit steht, verdeckt mit dem Problem der Kirchenleitung das Machtproblem, statt es zu lösen.
Nirgends ist die Macht Einzelner größer als in brüderlich-kollegialen Räten, die nach ihrem Selbstverständnis eine solche Macht gerade ausschließen. Nur ist es eine willkürliche, zufällige, unkontrollierte Macht, die sich als solche nicht zu ihren Befugnissen und Verantwortlichkeiten zu bekennen genötigt ist.
Die ganz anders gearteten transzendentalen Voraussetzungen des Luthertums führen folgerichtig zu dem einen Amt, demgegenüber weitere Ämter — sowohl solche der allgemeinen Leitung wie auch solche der gemeindlichen Mitarbeit — keine wesentliche Bedeutung besitzen.
Beiden reformatorischen Kirchen ist wiederum der personale Charakter der von ihnen geschaffenen Ämter gemeinsam. Diese Ämter wurden bestimmten Personen auf Dauer und unter Prüfung ihrer persönlichen Eignung übertragen. Gemeinhin war der Gemeindepfarrer bis zu seinem
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Lebensende auf seiner Stelle tätig. Die Presbyter und Diakone der reformierten Kirche waren mindestens langfristig tätig, wenn sie auch altershalber ausscheiden konnten. Weder zeitlich begrenzte Amtsperioden noch die Vorstellung spielten eine Rolle, daß durch planmäßigen Wechsel der Dienst besser verrichtet werden würde. Noch weniger kam die Vorstellung in Betracht, daß die Amtsverrichtungen von der Person getrennt, ständig ausgetauscht und damit funktionalisiert werden könnten. Dies sind moderne Probleme und Vorstellungen, die im Horizont der Reformation nicht vorhanden waren und nicht vorhanden sein konnten.
Was aber ist nun eigentlich der entscheidende Unterschied jenseits der äußeren Bezeichnung und Typologie? Wie gezeigt, muß sich das lutherische Amt angesichts der Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes als instrumental verstehen. Dies schließt jenen geschilderten personalen Charakters des Amtes nicht aus, weist ihm aber zugleich keinen deutlichen theologischen Platz an. Es bleibt ein immanenter Widerspruch zwischen Instrumentalität und Personalität bestehen, wobei die Instrumentalität in diesem Entwurf das theoretische, die Personalität das praktische Recht für sich hat. Das Problem wird hier dann verfehlt, wenn dabei die Frage des Synergismus aufgeworfen wird, verfehlt im proprium der Kirche, verfehlt auch deshalb, weil unbestritten im Bereich des III. Artikels von einer cooperatio hominis gesprochen werden darf und muß.
Da im reformierten Bereich die These von der Selbstausrichtung des Wortes Gottes jedenfalls keine zentrale Bedeutung hat, und angesichts der engen Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung kann man die Stellung der reformierten Ämter nicht als instrumental, sondern als konsekutiv bezeichnen: sie exekutieren das Mandat Gottes, indem sie das Evangelium und das Gesetz — die Form des Evangeliums — verkünden, zugleich aber die Gläubigen geistlich disziplinieren und an ihre Dankespflicht erinnern.
Es wäre falsch, dieses konsekutive Handeln wesentlich oder allein kognitiv zu verstehen. Wie im lutherischen Bereich eine Spannung zwischen Personalität und Instrumentalität besteht, so hier eine solche zwischen der Realität pneumatischer Präsenz und der kognitiven Subjektivität. In dieser Spannung liegt eine Weite, aber auch eine Mehrdeutigkeit, bei deren Auflösung die Position selbst aufgehoben wird.
In die Richtung dieser kognitiven Seite weist ein Element rigoroser Leibfeindlichkeit, welche den Schöpfungsbezug des sakramentalen Geschehens zugunsten des noëtischen zurückdrängt und tendenziell verdächtigt. In Karl Barths Tauflehre ist jene Spannung schon zugunsten einer einseitig kognitiven Interpretation aufgelöst, im Widerspruch zu sehr viel konkreteren Formen der reformierten Sakramentslehre bei Calvin selbst und in der altreformierten Orthodoxie wie zugleich in einer Neubesinnung der Gegenwart, die wesentlich durch ökumenische Anstöße und Begegnungen ausgelöst worden ist.
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Beide Positionen, die instrumentale, wie die konsekutive unterscheiden sich aber nicht verbal und titelmäßig, sondern in der Sache von dem, was ursprünglich im Bischofamt hervortritt. Angesichts des unbefangenen Biblizismus in der Ämterlehre ist bemerkenswert, daß eines der am besten bezeugten biblischen Ämter, nämlich dasjenige des Bischofs ausgeschlossen worden ist. Offenbar ist das Bischofsamt als durch die Hierarchie verderbt erschienen. Die Frage, inwieweit ein biblisch begründetes Amt durch den Mißbrauch der Geschichte hätte korrumpiert werden können, wird erst gar nicht gestellt. Im Gegensatz zum Calvinismus haben ja andere reformatorische Gruppen von nicht geringerer Radikalität der Haltung wie die böhmischen Brüder ein in ihrem Sinne biblisches Bischofsamt für sich erneuert und eine nicht formalisierte Verbindung zur bischöflichen Sukzession als Personaltradition bejaht.
Zunächst hier eine kurze Bestandsaufnahme über die Haltung der reformatorischen Kirchen zum Bischofsamt.
Der Begriff des Bischofs kehrt in den reformatorischen Bekenntnisschriften bis hin zur Institutio Calvins in großer Häufigkeit, vor allem in apologetischen Zusammenhängen wieder, jedoch in mehrfacher Beziehung und Bedeutung.
Bei der Frage der Gestaltung und Führung des geistlichen Amtes konnte man an gewisse biblische Aussagen, wie diejenigen des 1. Timotheus-Briefes, an Bischofsspiegel und ähnlichen Stellen, anknüpfen.
Im Zusammenhang der Kirchenordnungsfragen jedoch schließen sich die Reformatoren an ein anderes Vorbild an. Sie lebten in einer Flächenkirche mit zahllosen Einzelgemeinden. Diese Gemeinden traten in großer Zahl entweder als geschlossene Territorien zur Reformation über oder bildeten sich, wie in Frankreich, neu. Für sie alle stellte sich die Frage der Leitung. Hier knüpften die Reformatoren an den frühkatholischen monarchischen Gemeindebischof an, an das Vorbild einer Zeit, in der auch die kleinste Gemeinde einen Bischof hatte. Dieser Bischof aber war nicht mehr der biblische Bischof, der noch simultan mit dem Presbyter zu verstehen ist und bei dem das Verhältnis zwischen Einzelperson und Kollegium ebenfalls noch in der Schwebe war. Der frühkatholische Bischof der beginnenden Flächenkirche diente den Reformatoren als Gegenbild zum Diözesanbischof als Träger von Kirchenleitung, dem konkreten Gegner und Hindernis der Reformation. Diesem wurde vorgeworfen, daß er sein geistliches Amt zugunsten weltlicher Herrschaft und persönlichen Lebensgenusses beiseitegestellt habe. Gleichzeitig aber wurde damit der historische Nimbus in Anspruch genommen, der nun einmal dieses Amt besaß und zugleich die Erinnerung an eine Zeit beschworen, in der der Bischof unmittelbar und konstitutiv mit der Gemeinde verbunden war.
Nachdem aber diese apologetische und polemische Aufgabe geleistet war, verschwand Begriff und Titel des Bischofs praktisch völlig. Ich behandle diese Frage hier nicht deswegen, weil das Bischofsamt das Um
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und Auf der Kirche sei, an dem sich alles entscheide, sondern gerade umgekehrt, weil sich hier Probleme zeigen, die in der herkömmlichen Auseinandersetzung über die Ämterfrage und die bischöfliche Sukzession nicht hervortreten.
Die reformierte Kirche hat sich geschmeidig der Situation anzupassen verstanden. Ein Akt der Anpassung war es, wenn sie als Minderheitskirche in Polen und Ungarn selbst das Bischofsamt einführte. Das gleiche gilt für die Einführung eines episkopalen Amtes des Superintendenten in der Emden-Londoner Kirchenordnung, da offenbar die Londoner Gemeinde in der anglikanischen Situation anders nicht existieren konnte. Aber wo sie von solchen Notwendigkeiten frei war, hat sie das Bischofsamt regelmäßig ausgeschlossen.
Die lutherische Reformation hat nicht zweckmäßig aus Anpassung, sondern traditionsfreundlich mit einer gewissen Toleranz gegen das Vorfindliche gehandelt. Nur an einer Stelle tritt mit einer Betonung das Bischofsamt ausdrücklich hervor; es ist der schon wiederholt erwähnte Art. 28 CA, wo den Bischöfen als solchen — zweifellos im obigen Sinne des frühkatholischen monarchischen Gemeindeleiters — die Schlüsselgewalt zugesprochen wird. Dies bleibt aber das Einzige. In den großen Flächenkirchen Skandinaviens hat die lutherische Reformation die Stiftsverfassung der Diözesen mit dem Bischofsamt beibehalten, aber nur in der schwedischen Kirche— im Gegensatz zu Dänemark und Norwegen — ein Element und Bewußtsein der Sukzessionsproblematik bewahrt. Dort, wo im deutschen Bereich katholische Bischöfe zur Reformation übertraten, oder wo vereinzelt ein reformatorischer Bischof eingesetzt wurde, wie Amsdorf in Naumburg unter Luthers Billigung und Mitwirkung, ist dieses Traditionselement alsbald untergegangen und keine Hand hat sich gerührt, um es aus theologischen Gründen festzuhalten und fortzubilden.
Auffällig bleibt bei alledem, daß das zunächst beschworene Bischofsamt nirgens eigenständig gebildet und durchgeformt worden ist. Man schuf für episkopale Aufgaben Ämter mit neuen Bezeichnungen wie die Superintendenten, die auch direkt mit dem bisherigen Bischöfen in Vergleich gesetzt wurden, ohne daß der wesentliche Sinn der Bischofsgemeinschaft noch im Blick war. Man schaute den Leuten aufs Maul und beschenkte sie mit dem akademisch-barocken Wortungetüm „Generalsuperintendent”. Erst in der Moderne haben dann lutherische Kirchen wieder das Bischofsamt eingeführt und säkulare Bezeichnungen, wie Kirchenpräsident, für das Amt der Kirchenleitung abgestoßen. Diese Bezeichnungen zeigen deutlich den Übergang zwischen einer staatlich-konsistorialen Leitung und der Eigenständigkeit der Kirche. Trotzdem wird auch dieses Bischofsamt nicht im strengen Sinne als ein eigenes Amt verstanden, sondern allein als pastor pastorum, als ein ministerium ecclesiasticum mit besonderen Aufgaben und ohne spezifisch theologischen Stellenwert.96 Die erwähnte Spannung zwischen Personalität und Instrumentalität zeichnet
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sich hier immer wieder ab. Aber das hier verfolgte Interesse gilt nicht primär der Kirchenverfassung, sondern den Basisfragen, die mit dem transzendentalen Charakter des lateinischen Kirchenrechts zusammenhängen — den Fragen nach der Konstituierung des Christen und der Kirche coram deo. Wesentlich für den von den Reformatoren zitierten und wieder beiseitegelassenen Bischof ist der Gedanke der Repräsentation. Von da aus ist es auch verständlich, daß der ursprüngliche Gemeindebischof sich zum Diözesanbischof entwickeln kann, weil der Träger einer Repräsentation die Vollmacht dieser Repräsentation an nachgeordnete Repräsentanten weitergeben kann. Dies ist bei den beiden Formen des reformatorischen Amtsverständnisses nicht möglich. Hieraus erklären sich auch die eigentümlichen Unterschiede, die in Exkurs V zu Kapitel II zwischen katholischem und reformatorischem Gemeindeverständnis gezeigt werden konnten.
Jene frühkrichliche Repräsentation ist keine allgemeine Amtsbefugnis, sondern wesentlich repraesentatio im Vorsitz der Eucharistie. Ohne die zentrale Bedeutung der Eucharistie ist diese Bildung nicht verständlich. Die Einheit der alten Kirche war nicht nur lehrhaft im Sinne der Orthodoxie, sondern vor allem auch leibhaft. Folgen wir der Schlinkschen Deutung der älteren Bekenntnisbildung — Campenhausen hat sie neuerdings in Frage gestellt oder mindestens eingeschränkt —, so ist diese Bekenntnis und damit Lehrübereinstimmung und Orthodoxie wesentlich personal zu verstehen im Sinne des Bekenntnisses zu dem Gott, der im Bekenntnis als geschichtlich wirkender identifiziert und angesprochen wird. Es besteht also zwischen der Orthodoxie als Lehraussage und dem personalen Charakter der eucharistischen Gemeinschaft kein struktureller Unterschied. Nach Schlink tritt ja die Versachlichung zu dogmatischen Sätzen erst in einem späteren Zeitpunkt, etwa mit der Bildung des Symbolum „Quicumque” ein. In der vorausliegenden Zeit jedoch, die für die Bildung dieses Amtstypus entscheidend ist, hat beides, Lehre und sakramentales Leben personalen Charakter.97 Diese leibhafte Gemeinschaft aber bedingt auch die elementare und konstitutive Notwendigkeit der Verbindung mit jeder anderen Gemeinde und der gesamten Christenheit. Es genügt nicht, die Orthodoxie und Schriftgemäßheit des Lehrens und Handelns der je einzelnen Gemeinden für sich, sondern diese Gemeinsamkeit ist selbst ein wesentliches Moment der Sache. Der personale Charakter des Amtes wird von dem koinonia-Charakter sowohl der eigenen Gemeinde wie der gesamten Christenheit überhaupt bestimmt. Darin besteht eine in der Auseinandersetzung über die möglichen Formen des Amtes nicht berücksichtigte, sondern verschwundene Dimension. Werner Elert hat in seinem Buch „Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens” diese Zusammenhänge mit großem Gewicht dargestellt. Daß aus diesem Geschichtsbild für das Selbstverständnis der reformatorischen Kirchen nichts gefolgt ist, ist für mich zur Zeit des Erscheinens
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dieses Buches ein schweres Ärgernis gewesen und ist es heute noch. Denn diese Einsicht widerstreitet der Isolierung des Amtsbegriffs, der Isolierung der partikularen Gemeinden, Kirchengebiete und Bekenntnisse.
Diese Repräsentation ist jedoch, wie schon in Band I dargelegt, eine relationale und inklusive. Nur in diesem Sinne gilt der Satz ecclesiam esse in episcopo. Sie vollzieht sich permanent in einem pneumatischen Geschehen zwischen Bischof und Gemeinde wie innerhalb der Bischofsgemeinschaft. Eine Rückerinnerung an dieses Verhältnis bricht immer wieder in der lutherischen Theologie mit der Formel „Amt und Gemeinde”, „synodaler Bischof” usw. auf. Es gibt keine exklusive Amtspotestas.
Erst mit einer solchen Exklusivität des Amtes der Kirche in der Jurisdiktionshierarchie bildet sich die Voraussetzung für den kontradiktorischen Gegensatz der Amtslehre, den die Reformation ausdrücken will. Die Voraussetzung für das Amtsverständnis der reformatorischen Kirchen liegt in einer Bildung, die in den von den Reformatoren angezogenen Beispielen, auch im Diözesanbischof, noch nicht erhalten ist. Nicht die eucharistische Repräsentation, sondern der Jurisdiktionsanspruch bildet den entscheidenden Gegensatz, als eine unter den Voraussetzungen des transzendentalen Kirchenrechts mit der Person exklusiv verbundene Entscheidungsgewalt. Diese theologisch begründete exklusive Rechtssubjektivität wäre in der alten Kirche nicht denkbar gewesen. Was hier positiv überhöht wird, schlägt dann in der Reformation in dem tendenziellen Ausschluß des Amtsträgers von jeder eigenen Amtspotestas um. Dies ist freilich, wie gezeigt, in zwei wesentlich verschiedenen Formen versucht worden. Im lutherischen Bereich bleibt die personale Form in instrumentalem Verständnis erhalten, wird folgerichtig aber ganz und gar an Ort, Zeit und Modus des Wortes gebunden. Nach wie vor geschieht hic et nunc wie in der sakramentale Kirche alles Entscheidende — nur unter Zurückdrängung des personalen Trägers in jene instrumentale Stellung. Genau umgekehrt im reformierten Bereich — hier geschieht nichts, aber über alles zum Heil Notwendige wird, mit Barths Tauflehre geredet, „authentisch Bescheid gesagt”. Eben darum wird mit Leidenschaft auf jede Weise insbesondere durch das Prinzip der Kollegialität ausgeschlossen, daß irgendein geistlich relevantes Geschehen mit der Person eines bevollmächtigten Menschen zusammenhänge.
Demnach beruhen vier verschiedene Lösungen des Problems — alte
Kirche und die drie Konfessionen — auf drei Antithesen:
a) inklusive und exklusive Repräsentation
b) Position und Negation der Beteiligung des Amtsträgers in der
Ausrichtung des Evangeliums
c) positiv-instrumentale Stellung des je Einzelnen und
negativ-konsekutive Stellung in der Kollegialität.
So klar dieser Aufriß ist, so undurchsichtig muß die einzelne
Bildung je für sich in ihrem Stellenwert sein.
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Die lutherische und die calvinische Reformation zeigen also unter verschiedener materialer Ausfüllung in entsprechenden Konsequenzen gleichermaßen die Merkmale der Transzendentalität. Was ihnen formal darüber hinaus gemeinsam ist, ist ein Rückbezug auf die strukturellen Elemente soziologischer Qualität, welche in der vorreformatorischen Kirche zusammengebunden waren. Diese Kirche schied sich im Gegensatz zur alten Kirche in zwei eindeutig getrennte Stände, die Inhaber der Beichtjurisdiktion als die ordentlichen Richter und die Laien als diejenigen, die sich diesen ordentlichen Richtern zu stellen hatten. Daß auch die Richter sich diesem Prozeß zu unterziehen haben, hebt die Stämmigkeit und den grundlegenden Charakter dieser Trennung und Entgegensetzung nicht auf. Diese beide Gruppen sind zudem durch die ihnen jeweils zugeordneten Sakramente des Ordo und der Ehe mit sichtbarer Deutlichkeit getrennt. Die Jurisdiktion ist die unendlich schmal, ja zur Einbahnstraße gewordene Brücke, welche beide Teile der Kirche gerade noch verbindet, während ehedem Klerus und Volk, sowohl in der Bischofswahl wie in weiten liturgischen Zusammenhängen zu gemeinsamen aktiven Rechten legitimiert waren. Soziologisch gesehen stehen sich hier uralte Elemente gegenüber — die militia und die civitas der Kirche. Die militia ist das streng disziplinierte Heer des Klerus und der Orden, welches sich bis in die Gegenwart als „acies Ordinate”,98 als formierte Schlachtreihe unbedingter Solidarität und strikten Gehorsams verstehen konnte. Ihr steht gegenüber die breite Masse des Volkes, dessen Bürgerrecht geistlicher Versorgung und Betreuung unangetastet ist und sorgsam bewahrt wird, während ihm doch zugleich die harten und gefahrvollen Strapazen des geistlichen Kriegs nicht abverlangt werden. Diese beiden großen Formen brechen in der Reformation so auseinander, wie ein Schiff auseinanderbricht, wenn es aufläuft und das Riff die gefährlichste Stelle, nämlich mittschiffs die Verbindung trifft und aufreißt. Dann fallen Heck und Bug auseinander, die möglicherweise je für sich noch schwimmfähig, wenn auch nicht beide steuerbar sind.
Deutlich vereinigt die lutherische Kirche den ganzen Bereich der civitas, der Kirchenbürgerschaft, in der es keinerlei Trennung des Standes, insbesondere keinen Klerus gibt; jeder ist ein Laie. Dieses Kirchenvolk trägt die ganze Summe schöpfungsmäßiger und geschichtlich-nationaler Kräfte und Bindungen mit sich und an sich, in denen es breit und ohne rigorose Gesetzlichkeit leben kann, während es deutlich außerstande ist, ein Sonderungsbewußtsein durchzuhalten, welches es von dieser innerweltlichen Mitgift subjektiv und objektiv trennte.
Umgekehrt ist es im Calvinismus. Er ist von Anfang an eine disziplinierte Minderheitsgruppe, rational durchgebildet, willensmäßig angespannt, zu Gehorsam und Leistung bereit, aber ebenso unfähig, auch nur zu begreifen und mitzuvollziehen, was die civitas an Traditionen, Lebensmöglichkeiten und naturalen Perspektiven in sich schließt. Von Anfang
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an hat daher, schon deutlich in dem Kirchenordnungsversuch Lamberts von Avignon 152699 in Hessen der Calvinismus immer versucht, die Kirche als Minderheitsgruppe besonderer Verpflichtungen auszubilden. War sie schon Volkskirche, so suchte sie innerhalb dieses Gefüges immer noch eine Gruppe besonderer Aktivität auszusondern.
Auch der Calvinismus kennt die Unterscheidung unsichtbarer, wahrer, und sichtbarer, mit Heuchlern vermischter Kirche. Aber die Verbindung beider wird enger gehalten als im Luthertum: die Unterscheidung wirkt nicht im Sinne der Abwertung der sichtbaren Kirche: das würde dem Appell zu Zucht und Bewährung widersprechen. Das Gefälle ist nicht negativ, sondern positiv.
Die Scheidung von militia und civitas in Gestalt der beiden reformatorischen Konfessionen schlägt soziologisch in Ansatz und Stil der unterschiedlichen Theologen in viel höherem Grade durch, als wir gewohnt sind anzunehmen. Es zeigt sich hierbei, daß die als eine Art Faustregel brauchbare Unterscheidungen zwischen außertheologischen und innertheologischen Faktoren der Kirchengeschichte nicht ausreicht. Denn innerhalb der sogenannten theologischen Faktoren gibt es ein soziologisches Gefälle oder auch soziologisch relevante Strukturen des Denkens, welche weder eindeutig als theologisch noch als säkular zu qualifizieren sind.
Auf der lutherischen Seite ist von jeher die Rechtfertigung (CA IV) als diejenige des je Einzelnen begriffen worden. Gewiß lauten Interpretationen, Forderungen, Postulate ganz anders und suchen den Gemeinschaftscharakter dieses Geschehens festzuhalten. Aber tatsächlich ist die Gemeinschaftsdimension hier nicht unmittelbar angesprochen, sondern wird zur Folgeerscheinung, zum Postulat, zum ethischen Appell. Theologisch ist hierfür kein überzeugender Grund zu finden: dem entspricht der immer erneute Versuch, eben diesen Horizont mit einzubeziehen, der doch ersichtlich immer wieder scheitert. Diese merkwürdige Einengung wird aber in der soziologischen Perspektive verständlich, wenn man diese Tendenz in der Fortsetzung der individualisierenden Beichtjurisdiktion versteht. Daraus erklärt sich auch, daß der gewiß von der lutherischen Theologie nicht abgewiesene Bundesgedanke ebenfalls in ihr keine tragende Bedeutung gewonnen hat.
Eine umgekehrte Tendenz zeigt sich auf der reformierten Seite. Nächst dem Ausgangspunkt der Erwählungslehre finden wir als große tragende Konzeption den Bundesgedanken, auch wenn die Bundestheologie im speziellen Sinne nur eine der bedeutenderen Ausformungen der Theologie-Geschichte darstellt. Die militia oder der Klerus verstehen sich notwendig von vornherein als ausgesonderte Gemeinschaft. So eröffnet sich hier von vornherein eine soziologische Ebene für diese Gedanken. Die Spaltung in der mittelalterlichen Kirche zwischen Klerus und Laien wird also in der Reformation nicht gelöst oder überwunden. Vielmehr kommen der
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Einzelne und der Bund als zentrale Ansätze gegeneinander zu stehen. Auch hier wäre kein Grund, beides nicht von vornherein zusammenzuhalten und zusammenzusehen.
Ein Beleg für diese durchschlagende soziologische Tendenz in der Ansätzen der Ekklesiologie bildet nun umgekehrt das Verhalten der beiden Konfessionen im Bereich der weltlichen Ethik. Dogmatik als Lehre vom Heil und Ethik stehen regelmäßig aus Gründen der Ökonomie der Denkformen in einem dialektischen Korrespondenzverhältnis. Sie sind nicht gleichläufig, sondern gegenläufig, wie insbesondere das Verhältnis der Konfessionen zur Naturrechtslehre deutlich macht. Auf diese Weise wird auch verständlich, daß eine zentral auf den Einzelnen bezogen verstandene Rechtfertigung zu einer verstärkenden Rückverweisung an die vorgegebenen Gemeinschaftsbedingungen im Bereich des ersten Artikels — um nicht zu sagen Ordnungen — führt, während der calvinische Bundesgedanke im ethischen Bereich entschieden die Kräfte des Individualismus freisetzt. Aus dieser strukturellen Antithese erklären sich zahllose Spannungen, Konflikte und das Maß des elementaren Mißverstehens, welches im Kirchenkampf in Deutschland die beiden Konfessionen und ihre markanten Vertreter gegeneinander getrieben hat. Es liegt auf der Hand, daß so bedeutsame und prägnante Lebensformen sich nicht einfach auf der mittleren Linie einer vordergründigen Relativierung treffen können, wenngleich eine Abschwächung des Gegensatzes manche unnötigen Konflikte ausgeschlossen hat.
In den gegenwärtigen theologischen Gespräche zwischen den beiden Konfessionen ist immer nur über eine moderne Neuformulierung und ein Neuverständnis der Unterscheidungslehren verhandelt worden; ein Verständnis für die dialektische Bezogenheit beider geschichtlichen Formen ist dabei nicht zutage getreten. Ohne diesen Zusammenhang aber müssen diese Bemühungen unvermeidlich im Verbalen steckenbleiben. Weder das konfessionelle Selbstverständnis der getrennten Kirchen noch ihre wechselseitige Kritik ist irgendwo bis zu dem Punkt vorgestoßen, wo die hier beschriebenen treibenden Kräfte gelegen haben. Man besaß und besitzt weder genug Abstand von sich selbst, noch Einsicht in die Motive des Anderen, um hier nicht ständig sekundäre Erscheinungen für primäre Gründe zu nehmen.
Diese beiden kontradiktorischen Typologien haben aber für den Fortgang der Kirchengeschichte deshalb so große Bedeutung gewonnen, weil gerade ihre Vereinseitigung das Vehikel war, um aus der Relativität unterschiedlicher Verhaltensweisen im Katholizismus wieder zu der Unbedingtheit eines einzigen, schlechthin und unbedingt geforderten Haltungs- und Lebenstypus zu kommen. Die Existentialisierung der unterschiedlichen Lebensformen war das Mittel, aus dem die Reformation die historische Triebkraft für die Neubildung gezogen hat. Wie wirksam das gewesen ist, zeigt das Ausmaß an geistlicher Prägung, welche Luthertum und
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Calvinismus je für sich deutlich sichtbar hervorgebracht haben — in der Tiefe und Fülle eines aus elementarer Ruhe handelnden und lebenden, aber immer ein wenig passiven Luthertums, wie auch in der geistvollen, wachen Spannung, die der Calvinismus bis in die Gegenwart vorgelebt hat.
Die einzelnen konfessionellen Formen, in denen die transzendentale Struktur des abendländischen Christentums sich dargestellt haben, sind also nicht einfach nur eine Entwicklungsfolge, sondern stehen auch unter dem Gesetz der eingangs erörterten Individuation.100 Die Reformationskirchen stellen zusammen die Antithese zum lateinischen Neukatholizismus dar und nur unter seiner Voraussetzung sind sie schlüssig. Die streitenden Teile verhalten sich wie Position und Negation, bezogen auf die Frage der Rechtssubjektivität des Amtes.
Die reformatorischen Kirchen selbst stellen antithetische Lösungen des gleichen Problems unter gemeinsamen Voraussetzungen dar. Zugleich aber wird an vielen Stellen deutlich, daß wiederum das Luthertum eine Übergangsform zwischen Katholizismus und Calvinismus mit deutlichen Regreßbezügen zur alten Kirche darstellt.
Die paradoxe Folge der antithetischen Beziehung zum Neukatholizismus aber ist es, daß ein zentrales Programm und Postulat der reformatorischen Kirchen nicht verwirklicht worden ist und auch nicht verwirklicht werden konnte — das Priestertum aller Gläubigen.
Es besteht bei allen Autoren, die dieses Thema behandelt haben, Ernst Wolf ✝, Erik Wolf, Jean-Jacques von Almen, Gerhard Gloege, so unterschiedlich ihre theologische Herkunft ist, Einigkeit darüber, daß beide reformatorischen Kirchen dieses Programm nicht verwirklicht haben. Die Begründungen für diesen Ausfall sind komplex, widersprüchlich und entbehren der Überzeugungskraft. Historische Zufälligkeiten, Zwänge und Schwächen verbinden sich mit höchst vagen, kaum faßbar verständlichen Vorstellungen von dem Gemeinten. Die möglicherweise wirksamen Umstände werden gehäuft angeführt, aber nicht kritisch gesichert. Auf alle Fälle ergibt sich, daß die bedeutende Schöpfung der Laienämter des Presbyters und Diakons in der reformierten Kirche mit ihrer weitreichenden geschichtlichen Wirksamkeit von diesen repräsentativen Autoren ebensowenig als eine Erfüllung dieses Programms angesehen wird, wie die umfassende Beteiligung der Laien in allen Entscheidungsgremien der Kirche, ihre Mitgliedschaft und Mehrheit in den Synoden, ihre gleichberechtigte Mitwirkung auch in den Kirchenleitungen der Moderne. Nicht einmal als eine wesentliche Annäherung an dieses Programm, als Angeld auf diese Zielsetzung werden diese Bildungen verstanden. Dies Programm kann andererseits nach dem Verständnis der Reformatoren nicht darin
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erblickt werden, daß die Kirchen unter Beseitigung des gestifteten Amtes umfassend laisiert werden. Das würde eine entscheidende Veränderung des Verständnisses bedeuten, die mit dem ursprünglichen Programm nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann. Die Zielsetzung also der Reformatoren selbst muß in einer Form gelegen haben, die das eingestiftete Amt als Merkmal der Kirche mit einschließt und keineswegs tendenziell verkürzt.
Nach der bisherigen Erfahrung ist dies Programm der geschichtlichen Verwirklichung nicht fähig. Denn wäre es dieses, so würden die reformatorischen Kirchen in irgendeiner Form versucht haben, ihm adäquaten Ausdruck zu verleihen — kein äußeres Hindernis, keine Ungunst der Zeiten, keine Vormundschaft des Summepiskopats hätte sie daran hindern können. Auch die von solchen Hemmnissen freien Kirchen haben dieses weder vermocht noch versucht. Wir würden aber auch in einem solchen Versuch einen verlässlichen Anhalt dafür haben, worin das Wesentliche des Gemeinten liegt. Dies führt aber zu dem Schluß, daß These und Programm des Priestertums aller Gläubigen seinem Wesen nach auf einer ganz anderen Ebene liegt. Der päpstliche Primat stellt eine so singuläre Größe dar und ist mit den übrigen Strukturen der Kicke so wenig auszugleichen, daß dem nur eine umfassende, grundsätzliche Gegenbildung gegenübergestellt werden konnte. Diese Gegenbildung war einerseits der mehr oder minder folgerichtige Ausschluss der personalen Vollmacht des Amtes auf den einen, die imaginäre Bildung des allgemeinen Priestertums jenseits der konkreten innergeschichtlichen Möglichkeiten auf der anderen Seite — wenn man will, eine Spiritualisierung der Rechtssubjektivität des Christen schlechthin. Dieser Gegenbildung wohnt ein Element der Denknotwendigkeit inne, ohne welche die bloße Veränderung der Amtslehre in der beschriebenen Form unvollständig und unzulänglich erschienen wäre. Die radikale Positivität erzeugt die Negation in doppelter Weise. Indem die Rechtssubjektivität auf ein Subjekt von singulärer Stellung und Bedeutung zugespitzt worden war, mußte dem eine analoge Bildung in der Rechtssubjektivität des je einzelnen Christen entsprechen, ohne daß dieses Gegenbild in die Verfassungswirklichkeit der Kirche überführt werden konnte.101
Der Begriff des Priestertums aller Gläubigen tritt, wenn ich recht sehe, überall und nur dort auf, wo sich eine Exklusivität des Amtes bemerkbar macht, gelegentlich auch in der alten Kirche in den montanistischen Streitigkeiten. Im Allgemeinen ist er in der alten und orientalischen Kirche atypisch, weil sie den koinonia-Charakter der Kirche einschließt. Daß nun das Priestertum aller Gläubigen in den Konfessionen der lateinischen Kirche ineffizient ist, ergibt sich aus einsichtigen, wenn auch unterschiedlichen konfessionspezifischen Gründen. In der neukatholischen Kirche sind alle konstitutiven Verrichtungen mit Ausnahme der Taufe der Hierarchie vorbehalten. Das der Gesamtheit der Gläubigen ausdrücklich im Entwurfstext
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der Lex Ecclesiae Fundamentalis zugesprochene Priestertum aller Gläubigen bedeutet daher die virtuelle Teilnahme Aller am Handeln der Kirche, nicht aber die Möglichkeit und Befugnis zu einem Handeln, welches sich konkret von demjenigen der Hierarchie unterschiede, ihm widerspräche oder es ergänzte. Das Priestertum aller Gläubigen wird also nicht bestritten, auch nicht vom Ambtsbegriff her, aber ihm ist mit steigender Konsequenz eine rein spirituale, außerrechtliche Stellung zugewiesen. Gerade die Rechtskirche mit ihrer exakten Begrifflichkeit ist insoweit gespalten.
In der lutherischen Kirche ist das Priestertum aller Gläubigen ganz darauf angelegt, daß das allein bedeutsame Geschehen der Ausrichtung des Wortes Gottes ins Werk gesetzt werde. Daher die Befugnis, Lehre zu urteilen, das gestörte Amt wieder aufzurichten, daher im altlutherischen Synodalwesen das fast ausschließliche Interesse an denjenigen, die außerhalb des Amtes zur rechten Ausrichtung des Wortes Gottes beizutragen imstande sind. Im Ganzen aber besitzt es keine Merkmale oder Konturen.
Im Calvinismus ist das Priestertum aller Gläubigen als Forderung eigentlich gegenstandslos; es ist nicht ersichtlich, was es anders bedeuten könnte, als was der Gemeinde ohnehin, recht verstanden, aufgetragen und aufgegeben ist.102
Das Priestertum aller Gläubigen ist also überall irreal, weil es entweder propter clerum oder propter drum selbst nicht zu tun vermag — entweder handelt der exklusive Klerus oder Gott allein.
Blickt man aber genauer auf den darin enthaltenen Priesterbegriff, so tritt ein weiterer Grund hervor: Priester ist der, wer etwas für Andere und anstelle Anderer tut. Die universitas fidelium kann nur dann ein Priestertum sein, wenn und worin sie für Andere, nämlich die Nichtchristen etwas ist und tut. Dies bezeichnet dann nicht ein innerkirchliches Verhältnis, sondern das Verhältnis von Kirche und Menschheit in seiner eschatologischen und kosmologischen Bedeutung. Wird das Priestertum „aller” nicht als heilsgeschichtliche Einheit, sondern als die Summe der Möglichkeiten und Befugnisse Einzelner (als Einzelsubjekt oder Gemeinde) partikular verstanden, so ist dies entweder — absolut verstanden — das fatale Widerbild entgegengesetzter Absolutheitsansprüche, oder ein relatives Recht, welches sich in relatione und ad relationem begründen und verstehen muß — nicht anders, als die Ämterwahl ex communione ad communionem zu verstehen ist.103 Auch das Priestertum aller Gläubigen steht also unter der Versuchung, den stellvertretenden Dienst für Andere als Eigenmacht mißzuverstehen und zu mißbrauchen.
Diejenigen aber, welche den Begriff des Priestertums aller Gläubigen als kritischen erneuert haben, haben ihn weder zu bestimmen noch seine Verführbarkeit zu zeigen, noch in einer Selbstkritik aufzudecken vermocht, warum er ein mißverständlicher und geschichtlich-irrealer
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Programmpunkt geblieben ist. So bleibt vom Priestertum aller Gläubigen als wesentlicher Gehalt der Vorbehalt der Offenheit des Systems, allerdings genau das, was mit der epikletischen Konzeption verlorengegangen war.
Das Priestertum aller Gläubigen ist, anders ausgedrückt, ein Horizont, aber kein naher oder ferner Gegenstand, als Horizont wesentlich, als Gegenstand, als Gestalt oder Lebensform nicht faßbar.
Das Priestertum aller Gläubigen war ein Regreß auf eine nicht definierte Basis. Damit geriet die Lehre vom Amt in den reformatorischen Kirchen in konkrete Schwierigkeiten. Das Amt wurde von gegenläufigen Tendenzen hin- und hergerissen — die eine zog zur Personalisierung und Inanspruchnahme einer Amtsvollmacht — die andere zur Funktionalisierung und gänzlicher Ablösung von der Person. Dieser Widerstreit konnte nie ausgeglichen werden. Zugleich ergab sich der Widerstreit zwischen der Partikularisierung der Gemeindeämter, die jetzt allein als solche von theologischer Dignität erschienen, und der inneren Notwendigkeit übergreifender, insbesondere universalkirchlicher Gemeinsamkeit. Die ökumenische Bewegung ist ein Ausdruck für die Unzulänglichkeit und Unvollständigkeit einer auf Gemeinden und Zweckverbände von Partikularkirchen beschränkter Christenheit. Erst in neuester Zeit ist im Begriff der Konziliarität zum ersten Mal eine Formel aufgetreten, die wenigstens annäherungsweise über bloße Zweckerwägungen notwendiger Kirchenleitung hinaus die wechselseitige Angewiesenheit der Kirchen aufeinander und damit die konkrete theologische Notwendigkeit von Kirchengemeinschaft wieder ins Bewußtsein bringt. Diesem Phänomen entspricht auf der anderen Seite ein Element der Krise in der Interpretation und der Wirklichkeit des päpstlichen Primats, der in jener extremen Ablösung im Stil des Ersten Vatikanischen Konzils offenbar nicht mehr bestehen kann. Insofern befindet sich die Kirche, wie es scheint, am Ende eines gewaltigen Abenteuers, in welchem sie das Problem der Rechtssubjektivität der Kirche und eines einzelnen Christen als Träger eines zentralen Amtes, wie des einzelnen Christen schlechthin bis an die Grenze seiner realen und denkerisch-utopischen Möglichkeiten sozusagen durchgespielt hat.
So tragisch jene großen Gegensätze sich nachträglich darstellen — noch sind wir ja nicht aus ihrem Schatten herausgetreten —, so beweisen sie doch, mit welcher existentiellen und denkerischen Radikalität die Kirche die in ihr angelegten Antithesen und Möglichkeiten als Institution oder Programm bis zu Ende geführt hat — und zwar auf jedes Risiko.
Der kritische Transzendentalismus hat demnach, um das Ergebnis zusammenzufassen, eine vielfältige, im Aufriß voll erkennbare veränderte
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und eigenartige Struktur von theologischer Anthropologie, Ekklesiologie und Kirchenrecht zur Folge. An dieser Stelle wird sichtbar, wie eng alle drei ineinanderhängen. Das leicht zu eng ausgelegte Axiom Barths über den liturgischen und bekennenden Charakter des Kirchenrechts wird hier voll bestätigt. Denn es meint nicht, daß ein gleichsam spezialistisches Handeln in der Liturgie der Ursprung und Ort des Kirchenrechts sei. Vielmehr ist umgekehrt nur, was im Handeln der Kirche als existenzbegründend schlechthin notwendig erscheint und darum auch als allgemein verbindlicher Vollzug in das Leben der gesamten Kirche aufgenommen wird, in diesem Zusammenhang bedeutsam. Nicht theologische Lehrmeinungen oder eine Begriffsbildung, die sich mit dem Wesen der Kirche befaßt, ist entscheidend, sondern was als konkreter Vollzug in das Leben übergehen kann.
Die mit dem kritischen Transzendentalismus verbundenen Spaltungen und Spiritualisierenden führen zu einer verwirrenden Vielfalt, welche der praktischen und theoretischen Orientierung die größten Hindernisse bereiten. Gleichwohl sind diese Bildungen folgerichtig und einsichtig, wenn man einmal den gemeinsamen Quellpunkt ins Auge gefaßt hat. Dies ist freilich weder in der Ekklesiologie noch in der Kirchenrechtslehre der Konfessionskirchen bisher geschehen. Sie nehmen immer und überall die Folgen dieses Ansatzes für die grundsätzlichen Positionen und Inhalte. Eine Rückverweisung auf die Sinneinheit dieser Erscheinungen und ihre Aufhellung kann so nicht gelingen. Die Abstraktion dieser Einsicht ändert nichts daran, daß so weitreichende Klarheit geschaffen werden kann. Um diese Zusammenhänge bloßzulegen und weiterzuverfolgen, bedarf es nicht so sehr der Abstraktion der Begriffe, als der Anschauung in Formen, so wie ein Kunsthistoriker in Stil und Aufbau von Werken verstehend eindringt.