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Exkurs V zu Kapitel II

Zur Stellung der Gemeinde im lateinischen Katholizismus

Im CIC kommt der Begriff der Gemeinde überhaupt nicht vor. An seine Stelle tritt derjenige der Pfarrei. Diese definiert Mörsdorf:125

„Die Pfarrei ist ein durch oberhirtliche Errichtung geschaffener Teilverband der Diözese, der einem eigenen Hirten anvertraut ist und in einer eigenen Kirche den Mittelpunkt seines geistlichen Lebens hat.”

Diese Trias entspricht einer positivistischen Beschreibung des Staates aus den Elementen von Herrschaft, Gebiet und Volk.

Freilicht ist diese Definition, die sich an can. 216 anschließt, historisch vielschichtig. Der Kanon bringt noch viel schärfer als die Definition selbst den Teilcharakter zum Ausdruck. Aber gerade wenn die Pfarrei ein Teil der Diözese ist, so ist sie Ausgliederung aus einem Gemeindeverband, der seinerseits mit jener Definition nicht zu erfassen ist. Die ursprüngliche Bischofsgemeinde, die dann Kathedralgemeinde wird, ist ja gerade nicht Teilverband, sondern eine wirkliche Gemeindegründung. Sodann hat der parochus an der Hirtengewalt teil, wenn auch im Sinne des secundum munus. Auch die Betonung des parochus ordinarius ist über das bloße Ordnungsmoment des strengen Pfarrzwangs hinaus eine Verstärkung der Bedeutung der Parochie als solcher, vom Ämterrecht her. Es wäre daher eine unzulässige Vereinfachung zu sagen, die römische Kirche sei grundsätzlich gemeindelos. Aber der Ekklesiacharakter der Ortsgemeinde schimmert doch nur noch sehr schwach durch; er ist nicht direkt anvisiert und aufbewahrt. Der Entwurf einer Lex Ecclesiae Fundamentalis vermeidet ebenfalls jede Aussage über die Gemeinde. Presbyter und Diakon werden als Gehilfen des Bischofs definiert, die damit einer bestimmten Diözese zugeschrieben werden, ohne daß der Personalverband genannt wird, in dem sie zu dienen berufen sind.

Das Verhältnis von universaler und örtlicher ekklesia ist in besonderem Maße Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen römischer und orientalischer Kirche. Diese Auseinandersetzung und ihre Auswertung für die Kirchenrechtslehre wird durch die relative Unschärfe der Aussagen der Vertreter der Orthodoxie erheblich erschwert. Es ist in dieser bisher nicht gelungen, ihre Gedanken in eine Form zu bringen, welche ohne besondere Übersetzung und Durchleuchtung einen Anschluß an die abendländische Diskussion erlaubte. Das ist um der großen Werte der östlichen Tradition willen besonders bedauerlich.

Eine Abhandlung von Emmanuel Lanne OSB ist hier sehr hilfreich.126 Es ist fast das erste Mal, daß die Ostkirche als Institution direkt, und nicht nur passim zum Gegenstand der Darstellung gemacht worden ist.

Das stärkste Motiv ist hier die der Lokalkirche zugeschriebene Bedeutung. „Diese lokale Gemeinschaft ist Kirche Gottes im Vollsinn des Wortes durch das sakramentale Leben und im besonderen durch die Feier der

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Eucharistie, die deren höchster Ausdruck ist und in deren Zentrum der Bischof steht … In der Kirche gibt es keine dem Bischof überlegene Gewalt. Diese Gewalt liegt zwar in der Kirche, aber nicht über der Kirche.” (S. 920).

Daß auch im Osten der Bischof längst und seit mehr als anderthalb Jahrtausenden Diözesanbischof, nicht einfach Ortsbischof ist, spielt in dieser Erwägung keine Rolle und ist hier auch zunächst nicht von Bedeutung.

Gleichwohl sieht sich diese Lehre von der lokalen Voll-ekklesia vor der Frage nach deren ökumenischen Zusammenhang. Eine solche „Lokalkirche kann sich nicht … ohne beständige Beziehung zu den anderen Lokalkirchen begreifen.” (921). Aber diese — sagen wir auch hier „Interdependenz” (ein Begriff dafür fehlt bezeichnenderweise) — sei durch eine „universale” Ekklesiologie zerstört, die seit Cyprian in die Kirche eingedrungen sei (908). Die konsequenteste Form derselben, die römische, sei zwar immer abgelehnt worden; die Orthodoxie Kirche sei jedoch dieser Versuchung nicht völlig entgangen. Die Folge wird merkwürdigerweise in den modernen Versuch gesehen, in der Autokephalie das wesentliche Gesetz der Orthodoxie zu sehen. Die Abtrennung der Jurisdiktion aus dem geistlichen Bereich, die Spaltung von Jurisdictio und sakramentalen Ordo wird beklagt. Aber die Autokephalie ist ja gerade das Gegenteil eines universalistischen Zentralismus. Ein innerer Zusammenhang besteht insofern, als auch durch sie der Gemeinschaftscharakter aufgelöst oder gesprengt wird. Die Zusammengehörigkeit beider Erscheinungen wurde bereits in Kap. XIII/1 im Zerfall des Missionsrechts unter dem Stichwort „Tradition” aufgewiesen. Will die Ostkirche nun weder im römischen Sinne universalistisch noch durch die Verbindung mit Nationalkirchentümern partikularistisch sein, so muß sie ihre eigene gesamtkirchliche Verbundenheit in einer spezifischen Weise darstellen. Hier greift nun ein sehr starker innerer Vorbehalt gegen den juristischen Charakter der römischen Konzeption ein, dessen Ausdrucksformen der protestantischen Kirchenrechtsverneinung sehr ähneln. Auch für die Ostkirche gibt es bei grundsätzlicher Gleichheit der Bischöfe eine Über- und Unterordnung — der entscheidende Gegensatz zu Rom wird jedoch darin gesehen, daß die Vorordnung bestimmter Stühle eine solche der Autorität, nicht der Herrschaft sei. Der Jurisdiktionsprimat wird verworfen, wiewohl die orthodoxen Bischöfe ganz selbstverständlich ihre Jurisdiktion als Teil ihrer Kirchengewalt ausüben, und gerade ihre vielfältigen Spaltungen solche der Jurisdiktion sind, um deren Kompetenzbereich die Patriarchate ringen.

Ähnlich wie die Anglikaner würden also die Orthodoxen dem Papst lediglich einen Ehren- oder Leitungsprimat im Sinne des primus inter pares zubilligen — nicht einen Primat der Entscheidung. Darin liegt insofern ein gewisser immanenter Widerspruch, als in jeder eigenen Kompetenz das Element der Jurisdictio begrifflich mitenthalten ist. Die Orthodoxie

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müßte also den Kompetenzbereich eines von ihr bejahten Primats klar, wenn auch sehr begrenzt, umschreiben — freilich die plenitudo potestatis bestreiten. In diesem Bereich könnte dem Primat Jurisdictio aber nicht bestritten werden, so wie ja auch im Rahmen der ostkirchlichen Konzeption einem Metropolitan eine begrenzte, aber doch eigene Jurisdiktion eingeräumt wird, etwa zu Bestätigung von Bischofswahlen. Was sich in dieser Unklarheit ausdrückt, ist eine nicht reflektierte Spaltung zwischen der pneumatischen Gemeinschaft und ihrem Recht. Diese Spaltung ist zwar nie eine völlige gewesen, da die Ostkirche die  Tradition des älteren kanonischen Rechts immer bewahrt hat. Aber sie macht sich überall dort bemerkbar, wo die Tradition nicht ausreicht und die Dinge strittig werden. Bei alledem ist deutlich, daß die Ostkirche große Mühe hat, zwischen der Scylla der modern-autonomen Autokephalie und der Charybdis des römischen Jurisdiktionsprimats hindurch eine wirksame Einheit darzustellen.

Eine Klärung ist jedoch nicht durch die weitere Präzisierung von bestimmten Ordnungsgedanken zu erwarten. Die Triebkraft der gegensätzlichen Bildungen und Anschauungen liegt im Bereich des liturgischen Handelns. Auch der ekklesia-Begriff erhält seine konkrete und historische Füllung von dem gebotenen Handeln her, das sich in ihr vollzieht. Während die römische und griechische Theologie sich bemühen, ihre unterschiedliche institutionellen Grundsätze gegeneinander abzuklären, hat die protestantische Kirchengeschichtsschreibung die inneren Gründe aufgewiesen, aus denen die gegensätzlichen Positionen in Wahrheit stammen, wie sie etwa Andresen entwickelt hat.127

Der deutsche und französische Katholizismus sind nun durch die ständige direkte und indirekte Auseinandersetzung mit den reformatorischen Kirchen veranlasst worden, die eigene ekklesiologische Position tiefer zu begründen als bisher. Sie haben mehr und mehr die Konzeption einer bipolaren Kirche entwickelt, in welcher Papsttum und Bischofsgemeinschaft einander korrespondieren. Es wird damit wenigstens zum Teil das alte Anliegen des Episkopalismus unter Vermeidung konziliarer Theorien und des Nationalkirchentums aufgenommen. Inhalt und Tragweite dieser Entwicklung sind damit jedoch nicht vollständig bezeichnet. Es verbleibt nicht bei der Gegenüberstellung der beiden Ämter, des universalen und des partikularen. Mit ihnen treten unvermeidlich die Amtsbereiche hervor, auf welche sie bezogen sind. Ist es beim Papst unzweideutig die universale Kirche (womit zugleich die Aushöhlung und Überspielung des Bischofsamtes abgewehrt wird), so ist es beim Bischof die Diözese, also die Partikularkirche im obigen Sinne. Da aber diese eine historische Bildung mit nur abgeleiteter, nicht ursprünglicher Dignität ist (dieser Sachverhalt macht sich bei näherer Betrachtung geltend), so dringt hier auch die katholische Theologie fast zum ersten Mal zum Gemeindeproblem selbst vor. Dabei ist ihr das Verhältnis Diözese-Gemeinde nicht allzu

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problematisch, weil auch der absolut geweihte lateinische Bischof immer Bischof seiner Kathedralgemeinde geblieben ist und die Diözese von der Geschichte her noch unschwer als erweiterte und überhöhte Zentralgemeinde verstanden werden kann. In diesem Horizont besteht eine relative Identität beider, und man fühlt sich an den auch von K.L. Schmidt (S. 504) zitierten Satz erinnert: „Primo tempore ecclesia universalis et particularis coinciderunt (Zorelli).”

Mit der Reflexion auf eine ursprüngliche Dualität der Ämter ergibt sich also zwangsläufig auch eine solche auf diejenigen ekklesia-Formen, denen sie zugeordnet sind. Und gerade wenn man den Papst als universalen Bischof versteht, müßte man auch den Bischof als Gemeindebischof (wenn auch qua Diözese) verstehen. Nur die Singularität des Amtes entstrukturiert die Kirche, gleichgültig ob das alleinige Amt das Papsttum oder das lutherische Predigtamt ist: der genuine Dualismus des ekklesia-Begriffs kann nicht mehr ausgedrückt werden und wird irrelevant.

Andererseits ist die Verwendung des einen oder des anderen Begriffs — Kirche wie Gemeinde als solche ohne Bedeutung. Man muß, wie K.L. Schmidt richtig erkennt, immer von der Kirche und den Kirche, wie von der Gemeinde und den Gemeinden sprechen.128

Mit der Dualität des ekklesia-Begriffs und dem Identitätssats ist jedoch das Verhältnis beider Erscheinungen noch nicht erschöpfend bezeichnet, wenn auch beide Sätze die unverzichtbare Grundlage alles Verständnisses bilden.

Von einem Buch über die Pfarrei ausgehend hat Karl Rahner das Problem und die Erscheinung der partikularen ekklesia in Verbindung gebracht mit der Dualität der Ämter, mit der Bipolarität der Kirche. In der Schrift „Episkopat und Primat”129 verhandelt er die Frage unter der Überschrift „Das Verhältnis Primat — Episkopat als Fall des Verhältnisses Gesamtkirche — Ortskirche”. Es kommt hier zu erstaunlichen Formulierungen:

„Immerhin wird man nicht bestreiten können, daß dort, wo die Kirche handelt, d.h. lehrt, bekennt, betet, das Opfer Christi feiert usw., sie eine höhere Aktualitätsstufe erreicht, als dies durch ihr bloßes dauerndes Dasein der Fall ist.” …
„Sie muß immer wieder aufs neue „Ereignis” werden. Nicht als ob diese „Ereignisse” in ihrer gestreuten Einzelheit in Raum und Zeit das einfache Dasein der Kirche als solches neu begründeten. Ein solcher Aktualismus, der im Grund die gesellschaftliche Verfaßtheit der Kirche, Tradition, apostolische Sukzession und eigentliches Kirchenrecht juris divini verneinte, ist der katholischen Kirchentheologie fremd.”
„Natürlich ist sie auch da, wenn ein einzelner als Träger einer Vollmacht Christi und eines Amtes der Kirche in der Kirche und auf die Kirche hin handelt. Aber man wird nicht bestreiten können, daß dort, wo die Kirche in Erscheinung tritt, gerade insofern sie eine Gemeinschaft,

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also eine durch ein sichtbares Geschehen und durch die Gnade verbundene Mehrheit von Menschen ist, die Kirche als solche einen höheren Grad von Ereignishaftigkeit erreicht als dort, wo der einzelne Träger des Amtes allein in einer Handlung die Kirche aktualisiert, in die die übrigen Glieder der Kirche als tätig Mithandelnde nicht einbezogen sind.”130

Hier wird einmal das Recht der Ortskirche in der Sache eindeutig als liturgisches Recht begründet. Methodisch müßte Barth das bejahen. Inhaltlich und in der Struktur ist die Aussage derjenigen von CA VII ungemein verwandt — offenbar ein zwingendes Ergebnis, wenn man sich einmal dem Phänomen der Ortskirche theologisch wirklich stellt. Nicht aber wird diese Aussage als alleinige und ausschließende gemacht: es bleibt ja gerade die Dualität beider Formen der ekklesia bestehen. Gerade diese weitgehende sachliche und strukturelle Übernahme des Anliegens von CA VII läßt umgekehrt die Frage aufwerfen, ob CA VII zu Recht als singuläre und damit zugleich ausschließende Formulierung der signa ecclesiae gelten darf.

Rahner geht aber noch weiter. Er läßt es nicht bei einem formalen Dualismus bewenden. Er macht qualitative Aussagen über das Verhältnis beider, wenn er von einer „höheren Aktualitätsstufe” der Ortskirche vermöge des gottesdienstlichen Vollzugs und der konkreten Versammlung spricht. Mit dem naiven Universalismus, der immer die Gesamtkirche voranstellt, ist hier gebrochen. Der Begriff „höhere Aktualitätsstufe” ist keine absolute, sondern eine nur relative Höherwertung, d.h. eine solche in bestimmten Beziehungen. Diese Wertung erlaubt es, die Gesamtkirche in anderen Beziehungen nach wie vor höher zu werten als die Ortskirche. Mit dieser Verschränkung ist aber die absolute Höherwertung der Gesamtkirche aufgehoben, ohne daß ihr ihr spezifisches Recht damit verkürzt oder bestritten wird. Im Einzelnen klingen die Formulierungen Rahners an diejenigen von Leuba über „Institution und Ereignis” an.

Solche Gedanken sind in der katholischen Ekklesiologie neu. Man ist aber in Verlegenheit, die gleiche Freiheit gegenüber der theologischen Tradition auf der evangelischen Seite nachzuweisen. Eine Theologie der ecclesia universalis ist hier ebensowenig zu finden wie vor Rahner eine katholische Theologie der Ortskirche. Die Notwendigkeit übergemeindlicher Leitung wird zwar nirgends bestritten, wenn auch in der Durchführung gern verkürzt, wie schon bei Wehrhahn ganz unbefangen hervortritt. Aber es ist überwiegend und zunächst eine pragmatische Notwendigkeit, die ihrer immanenten Gefährlichkeit durch Beschwörung des Dienstgedankens entkleidet werden soll.

Mit der nun pragmatisch anerkannten Notwendigkeit übergemeindlicher Leitung wird aber nur ein Teilaspekt der gesamtkirchlichen Dimension erfaßt. Diese Dimension wird keineswegs überhaupt geleugnet. Jedoch wird ihr eine theologische Dignität nur in spiritualer und eschatologischer

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Unfaßlichkeit zugebilligt. Einen unbestrittenen und klar bestimmbaren locus hat sie in der Lehre von der Kirche gleichwohl nicht.

Zunächst ergibt sich aus dem Identitätssatz der Grundsatz der notwendigen Interdependenz aller Ekklesien. Jede von ihnen würde die Liebe verleugnen, mit der sie geliebt ist, wenn sie sich nicht mit jeder anderen ekklesia, sofern diese eine ist — als solche „in dem Herrn” erkennte und anerkennte und insofern in Gemeinschaft bliebe. Dies ist keine Verbandsbildung von unten, sondern eine Querverbindung von der Seite her — genau wie im recht verstandenen Sukzessionsvorgang eine Ergänzung sich nicht von  oben, sondern von der Seite vollzieht. Diese Interdependenz wird von einer independentistischen und kongregationalistischen Lösung verleugnet, in der jede einzelne Gemeinde autonom und souverän über sich verfügt, und die mit diesem Verhältnis verbundene Ingerenz der Partner abwehrt. Die Interdependenz als signum ecclesiae ist, soweit ich sehe, erstmalig in dem Arbeitsbericht der Faith and Order Commission on Institutionalism von 1961 im Konsens der Vertreter sehr verschiedener, auch freikirchlicher Denominationen formuliert worden. Aber der Grundsatz der Interdependenz als solcher bringt noch nicht das Ganze der ecclesia universalis zum Ausdruck. Sie beruht ja darauf, daß die Identität und Einheit aller ekklesien in der einen ekklesia eine immer schon vorgegebene Tatsache ist. Sie beruht nicht nur darauf, daß jeder Versammlung, auch der kleinsten, dem Minimum mit zweien oder dreien die Präsenzverheißung gegeben, daß die stiftungsmäßigen Verrichtungen auf ständige Aktualisierung und Erneuerung angelegt sind. Sie geht auch darauf zurück, daß die ecclesia universalis jedem dieser Ereignisse immer schon vorausgeht und vorausliegt, und daß ihrer Verrichtungen regelmäßig von solchen Menschen vollzogen werden, die aus der bereits geschehen Vergemeinschaftung herkommen. In diesem, mit den Kategorien des philosophischen Realismus nicht ausdrückbaren Sinne geht die ecclesia universalis der ecclesia particularis voran. Diese unabweisbare Tatsache hat gerade zu dem idealistisch-realistischen Mißverständnis geführt, zur Übernahme inadäquater Vorstellungen zum Ausdruck dieses Sachverhalts, der doch als solcher nie völlig aus dem Blick gekommen ist und auch einer falschen Begrifflichkeit immer noch Substanz verliehen hat. Ist jene Interdependenz im Sinne früherer Unterscheidungen,131 die katholische Seite der Sache, so jenes Vorausliegen der ecclesia universalis die apostolische Seite. In der reinen Aktualität ist weder das Eine noch das Andere mehr festgehalten.

Die Frage des Vorausliegens wurde andererseits schon in dem Verhältnis von  Taufe und Abendmahl erörtert. Daß nicht nur in der scholastisch philosophierenden römischen, sondern auch in der orientalischen Kirche das Element der Gesamtkirche so viel deutlicher ausgeprägt ist, ergibt sich daraus, daß in ihnen das Abendmahl eine zentrale, ja Ausgangsbedeutung hat. Über die doppelte Richtung des Heilsweges wurde bereits

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gesprochen. Umgekehrt wurde deutlich, daß die im weiteren Sinne „Täuferkirchen” eben diese Vorgegebenheit der communio nicht zur Darstellung bringen können.

Rahner bestätigt in eindrucksvoller Weise Inhalt und Anliegen von CA VII und bringt der wohl schwerwiegendste Anerkennung einer bisher von der römischen Theologie nie gewürdigten reformatorischen These. So entschieden auf diesem Anliegen bestanden werden muß, so entschieden muß die Zulänglichkeit und Exklusivität von CA VII bestritten werden. Was in dem Artikel de ecclesia fehlt, ist die Vorgegebenheit der einen und die Zusammengehörigkeit der vielen Ekklesien. Die unitas ecclesiae kann nicht nur gegen Unifizierung negativ abgegrenzt, sie muß auch positiv bezeugt, praktiziert und verwirklicht werden.

Es ist ein grundsätzliches, aber doch nur selten erkanntes Mißverständnis, daß die einschlägigen Artikel der CA exklusive Definitionen enthielten. Nur wenige Autoren wie Kinder und Asmussen haben mit der notwendigen Deutlichkeit darauf hingewiesen. Trotz der Richtigkeit dieses Satzes sind jedoch die Plätze gleichsam nicht ausgespart worden, an denen noch andere Dingen zu stehen kommen könnten, und die Aussagen über die unitas ecclesias (satis est…) sind doch so negativ, daß nicht leicht jemand in der lutherischen Kirche auf die übergemeindliche, universale Dimension der Kirche in concreto angesprochen werden kann.

Es ist hier auf alle Fälle die Einlinigkeit einer papalen oder gemeindlichen Ekklesiologie — mit allen kirchenrechtlichen Folgen — als unmöglich erwiesen und widerlegt. Die hier mit eingeschlossene Dialektik von Institution und Ereignis bietet eine tragfähige Anschauung für diesen Sachverhalt. Beide verbinden sich nicht nur in allem Geschehen der Kirche als verschiedene Aspekte des Gleichen, sondern sie treten in einem bestimmten Sinne auch als ecclesia universalis und ecclesiae particulares sichtbar institutionell auseinander.

Nach Ernst Wolf is der Begriff „Gemeindeprinzip” verfehlt, weil sich die Kirche nach reformatorischer Auffassung allein auf dem verkündeten Wort Gottes aufbaue, nicht auf einer biblisch geforderten und begründeten Verbandsgestalt. Das ist m.E. historisch richtig und in sich folgerichtig. Freilich verbleibt damit die Schwierigkeit, daß in den Art. V und VII des Augsburgischen Bekenntnisses Verkündigung und Kirche bewußt ineinander verklammert sind „est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua usw.” (VII). Die Wolfsche Auffassung bringt diese Verklammerung nicht zur Darstellung, schließt sie aber nicht aus, wie umgekehrt auch nicht der Gemeingebrauch des Gemeindebegriffs. Die Vorstellung des Gemeindeprinzips legt sich nahe und wird als Mißverständnis in etwa entschuldigt, weil nun in der Tat nichts Anderes als die durch und um Predigt und Sakramente versammelte Gemeinde anschaulich gemacht und als Beleg bezeichnet werden kann. Denn außer der congregatio und dem ministerium bieten die Bekenntnisschriften keinen konkreten Grundbegriff,

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insbesondere keinen Anhalt für die ecclesia in einem übergreifenden und allgemeinen Sinn. Die Äquivokation zwischen der realen örtlichen Gemeinde und der Ubiquität der Gemeindebildung zu aller Zeit und an allen Orten und damit der Kirche vermag der Einzelne weder im Verständnis zu durchschauen noch im Sprachgebrauch zu scheiden.

Die Schwierigkeiten, die sich hier in Mißverständnissen bemerkbar machen, liegen bei Ernst Wolf in einer normativen Betrachtung des Problems. Ganz gewiß fordert das NT keine Verbandsbildung in einer bestimmten Form, also auch nicht als Gemeinde, etwa als Basisform der späteren Parochie. Aber die Gemeinde ist grundsätzliche eine Lebensform, in der und durch die sich das für das Leben des einzelnen Christen Entscheidende vollzieht. Hätte der reformatorische Gemeindebegriff nicht diesen existentiellen Charakter, so würde er als Postulat ohne Wirkung bleiben müssen. Ganz sicher hat Ernst Wolf die Differenz zwischen Gemeinde und Parochie nicht verkannt. Trotzdem ist es ihm unterlaufen, hier vom parochialen Gemeindebegriff her zu argumentieren. Dadurch wird seine Antithese unschlüssig.

Wie sehr sich die getrennten Kirchen am Problem der Gemeinde auseinandergelebt haben und aneinander vorbeireden, zeigen die repräsentativen Beiträge im „Lexikon für Theologie und Kirche” (2. Auflage). Der abgewogene Beitrag von Ratzinger zum Stichwort „Kirche” gibt zum Begriff ekklesia und zur biblischen Gemeinde auch den Forschungsstand der evangelischen Theologie voll wieder. In diesem Gesamtzusammenhang jedoch erscheint die Ortsgemeinde sonst nicht als ein wesentliches konstitutives Element der Kirche, sondern wird in die allgemeinen Aussagen zu Wesen und Begriff der Kirche hineingenommen. Im übrigen kommt sie in einem gesonderten Abschnitt „Pfarrei” pastoral-theologisch vor. Hier wird wie wesentlich in der historischen Entstehung aus der Bischofsgemeinde abgeleitet. Unter dieser Voraussetzung wird sie dann im Ganzen positivistisch kirchenrechtlich erläutert. Der Gemeindebegriff selbst schließlich wird in einem besonderen Abschnitt behandelt, in dem allein die reformatorischen Positionen im Luthertum und Calvinismus erläutert werden. Dieser Artikel stammt von einem bewährten Ökumeniker, Otto Karrer. Aus diese Form der Darstellung wird ersichtlich, daß hier eine Defizienz im Gemeindebegriff, eine Verengung der geistlichen und kirchenrechtlichen Bedeutung der Gemeinde nicht empfunden wird. Die theologischen Aspekte, die in den zitierten Äußerungen von Rahner und Lanne hervortreten, und die Anliegen der Reformation mit großem Gewicht in sachlicher Übereinstimmung aufnehmen, kommen in diesen Darstellungen nicht vor. Wenn so unbefangen die Pfarrei im Traditionszusammenhang der Bischofsgemeinde und Diözese gesehen wird, wird zugleich deutlich, was auf beiden Seiten an Zusammenhängen verlorengegangen ist. Der reformatorische Gemeindebegriff beruht auf der Jederzeitigkeit des Wortes Gottes und hat den historischen Ursprung aus der

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Mission damit abgeschnitten. Daß die konkreten Kirchen und Gemeinden durch die missionarische und exemplarische Wirksamkeit konkreter Personen und Gruppen, wie etwa der iroschottischen Mission hervorgegangen sind, spielt für diese Anschauung keine wesentliche Rolle. Die Tradition sowohl im ausgezeichneten und grundsätzlichen wie im historischen Sinne, ist irrelevant geworden. Sie wird dadurch entweder archivalisch versteinert oder romantisch subjektiviert.

Es hat also in der katholischen Tradition die Gemeinde ihre theologische Dignität, auf der reformatorischen Seite ihre geschichtliche Dimension verloren, ohne daß dieser wechselseitige und bezügliche Ausfall in Bewußtsein tritt — und selbst die ständige Kontroverse über solche zentralen Fragen hat dies nicht ins Bewußtsein treten lassen. Freilich ist hier das Recht nicht auf einer Seite und die Fronten gehen nicht glatt auf. Denn einerseits ist die Geschichte der Kirche, wie unsere Darlegungen belegen, nicht so kontinuierlich, wie sie dargestellt wird. Andererseits erweist es sich, daß man existentiell auf das Traditionsmoment nicht verzichten kann, ohne in der psychologischen Substruktur mehr oder minder deutliche Schädigungen und Ausfälle zu erleiden.

Die Verwirrung der Begriffe und das konfessionelle Pathos wird in einem einschlägigen Text der Rheinischen Kirche sichtbar.132 Hier heißt es:

„5. Bei unserer Erörterung des Begriffs der Kirchenleitung haben wir grundsätzlich nicht unterschieden zwischen Kirche und Gemeinde … Es hat auch (!) sein theologisches Gewicht, an der theologischen Identifikation von Gemeinde und Kirche — gemäß dem NT — festzuhalten und also nicht die Gemeinde als Teil oder Untergliederung der Kirche zu verstehen. Gemeinde ist theologisch Kirche, nichts anderes, und Kirche ist in keinem Sinne eine Ordnung über der Gemeinde. Aber während wir hier theologisch nicht unterscheiden dürfen, müssen wir es im Bereich der kirchlichen Ordnung und Leitung. Denn die Kirche ist zugleich eine weltumspannende Größe, wie auch an jedem Ort, wo Christen zusammenleben (diese) zusammenkommen und im Dienst stehen. Aber um dieses „zugleich” willen sind alle Gemeinden einander zugehörig …”

Im Zwischentext wird der mit der gebührendem Abscheu zugleich auch als „grandios” bezeichneten Struktur der römischen Kirche gegenübergestellt: „die Leitung der Kirche durch Christus und die Freiheit des Glaubens der Kirche im Dienst am Auftrag Christi.”

Die Aussage über den NTlichen Befund ist unvereinbar mit dem von K.L. Schmidt erhobenen Tatbestand. In dem „Zugleich” schimmert etwas von der Sache durch, affektiv belastet durch den Gegensatz zum römischen Zentralismus. Die Frage, wie sich die Leitung durch Christus vollzieht, wird nicht weiter erörtert, und alle Probleme sind durch Formel von der Freiheit des Glaubens ihrer Schwierigkeit entkleidet.

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Der Fehler liegt zugleich in der Verallgemeinerung und damit Überlastung des Gemeindebegriffs. In den Grundsätzen für die Verfassung der Nordelbischen Lutherischen Kirche von 1969 findet sich133 der Satz:

„Die Ortgemeinde ist die wesentliche, aber nicht die einzige Möglichkeit zur Sammlung evangelischer Christen.”

Im Verfassungsentwurf wird dieser Gedanke durch folgende Vorschrift einbezogen:

„Wo sich Kirchenglieder unabhängig von Ortsgemeinden zu kirchlicher Gemeinschaft sammeln, kann ihnen, sofern es nicht um die Bildung von Arbeitszweigen handelt, den Status von Kirchengemeinden mit entsprechenden Rechten und Pflichten zuerkannt werden.”

Solchen Sammlungen kann eine gemeindeähnliche Stellung eingeräumt werden. Werden solche Bildungen hier auch der Gemeinde analog behandelt, so sprengt ihre Anerkennung doch bereits das Gedankenschema Gemeinde — Kirche. Die Möglichkeit, Kirche als administrativen Oberbau abzuwerten, beruht auf der Überhöhung und Einzigartigkeit des Gemeindebegriffs. Nicht dieser als solcher, sondern seine Einlinigkeit und Ausschließlichkeit hat diese Folgen. Stehen neben der Gemeinde Bildungen anderer Art, so tritt die theologische Bedeutung und Dignität von Kirche hervor.134

Dieser beachtliche Versuch, nichtgemeindlichen Lebensformen der Kirche eine verfassungsmäßige Stellung zu verleihen, wurde vor einigen Jahren zunächst im französischen Protestantismus gemacht, dort aber vom Staat unterdrückt, der an einer ausschließlich territorialen Organisation interessiert war. Damit wird zugleich erstmalig der Gemeinschaftsbegriff von der primären Bindung an die territoriale Gliederung gelöst. Es wird die Möglichkeit eröffnet, neben dem Regelfall der Ortsgemeinde, den bekannten Sonderbildungen von Anstalts- oder Personalgemeinden auch andere Gemeindebildungen kirchenrechtlich anzuerkennen. Damit ist unter dem Dach der Gemeindebegriffs für kommunitäre Lebensformen Platz geschaffen, auch wenn das nicht ausdrücklich gesagt ist.