An dieser Stelle muß auch die von Campenhausen entwickelte Typologie der Ämter erörtert werden. Er meint aus dem Clemensbrief, den Ignatianen und den Pastoralbriefen drei charakteristische unterschiedliche Amtsformen der nachpaulinischen Frühzeit erheben zu können. Es heißt dort:
„Man möchte sie fast als Vorformen des römisch-katholischen, des griechisch-orthodoxen und des lutherischen Amtsbegriffs nebeneinanderstellen. In Rom ist der Bischof zunächst privilegierter Kultusbeamter seiner Gemeinde, in Syrien ist er ihr geistliches Vorbild und ihr sakraler Mittelpunkt, in Kleinasien vor allem der ordinierte Prediger der apostolischen Lehre. Das sind typische Beurteilungsmöglichkeiten, die sich in der späteren Kirchengeschichte kaum jemals wieder so reinlich geschieden haben.”116
Aber eben hier liegt die Frage, die gewiß nicht einfach Thema jener Arbeit war. Andresen lehrt die von Campenhausen aufgewiesenen Fakten verstehen. Im Gegensatz zu dem Schluß Campenhausens sind die beiden ersteren Typen zur Grundlage historischer Bildungen mit großer Tragweite und sogar in einer gewissen „Reinlichkeit” geworden. Der feste, aber kühle und etwas leere Ordnungsformalismus des Clemens hat seine tiefere Kraft und Entfaltungsmöglichkeit in dem, was Andresen „judikal” nennt, im Typus der jurisdiktionellen Entscheidung über alle und alles. In der Charakteristik des griechisch-ignatianischen Typus stimmen beide Gelehrte am ehesten überein; Andresen zeigt die weiten Konsequenzen für die Gesamtkirche und ihre Struktur. Aber wenn dies nun keine Momentaufnahmen von zufälliger Schärfe, sondern deutlich erkennbare Wurzelbildungen waren, was hat des dann mit dem dritten Typus eines „altkirchlichen Frühluthertums” auf sich? Liegt er, wenn erweislich, jenen weltgeschichtlichen Scheidungen etwa im Sinne der Unbescheidenheit der Möglichkeiten voraus, oder liegt er als eine dritte Form auf der Ebene der beiden anderen? Wenn ja, warum hat gerade jene dritte Form im Gegensatz zu den beiden anderen keine fortzeugende Kraft besessen? Liegt darin ein Spezialfall des Abfalls einer bemerkenswert deutlich institutionalisierten lehrhaften Worttheologie in den lateinischen und
|186|
griechischen Altkatholizismus, oder ist der Verfall dieser Amtsform in einer Linie zu sehen mit der von Käsemann hervorgehobenen geschichtlichen Lebensunfähigkeit der spezifisch paulinischen, rein charismatisch organisierten Gemeinden mit der von Kamlah betonten Notwendigkeit geschichtlicher Selbstbehauptung? Man wird hier mit unaufklärbaren Zufälligkeiten der Geschichte rechnen müssen — aber ich weigere mich, diese allein für maßgeblich zu halten, zumal so schmale Ansätze wie die beiden anderen eine so große und dauernde Wirkung gehabt haben. Eine sachliche Erwägung führt vielleicht weiter. Die apostolische Lehrtradition, welche im Bild jener Gemeinden so stark hervortritt, ist in jenen anderen Typen deshalb nicht weniger wichtig gewesen, so wie etwas die clementinische Form gewiß nicht weniger eucharistische Gemeinschaft gewesen ist. So bleiben zwei Möglichkeiten: jene dritte Form akzentuiert nur, was ohnehin Gemeingut aller Gemeinden war, ist also kein eigentlich gesonderter Typus, oder umgekehrt handelt es sich um eine einseitige Betonung der Lehre: diese aber ist — im Gegensatz zu Gemeinschaft wie zu Disziplin als solche und in bevorzugter Betonung nicht geschichtlich lebensfähig, weil nicht in genügendem Maße gemeinschaftsbildend. Das Absterben dieses behaupteten Sondertypus wäre demnach nicht verwunderlich.
Was hier wirksam wird, sind nicht soziologische Kräfte im Sinne der heute viel erörterten außertheologischen Faktoren: Es geht vielmehr um die zentralen Dinge des Evangeliums und des Glaubens, es geht um die koinonia ton hagion, die Gemeinschaft der Heiligen am Heiligen und durch das Heilige. Aber worin liegt die Geschichtsunmächtigkeit oder Fortpflanzungsschwäche einer wesentlich auf die doctrina gestellten Kirche begründet, auch wenn die doctrina noch „sana”, „hygieinousa”, heilsam, noch nicht zur Scholastik und zum geschlossenen Denksystem entartet ist? Wirksam und lebensfähig scheint nur eine Gestaltung zu sein, in der Form und Inhalt miteinander verbunden sind, sich gegenseitig tragen. Der Ordnungsgedanke des Clemens Romanus (der dem Juristen nicht allzusehr imponiert) würde nicht viel ausgetragen haben, wenn es nicht für alle Beteiligten — recht oder falsch verstanden — um Entscheidungen sub specie salutis gegangen wäre. Und die ständig vom Zerfließen bedrohte kosmologische Mysterienfrömmigkeit der Griechen wurde dadurch gestaltbildend wirksam, daß aus dieser Heilsgemeinschaft mit aller leiblichen Konkretheit des Inkarnations- und Geistglaubens die Rechte der Bischofsgemeinschaft, der Gemeinde und der universitas fidelium abgeleitet und treu bewahrt wurden. Dieses Bild ergibt sich, wenn über die philologische Auslegung der Texte hinaus die rechtlichen und soziologischen Aspekte mit einbezogen werden, die bisher regelmäßig zu kurz kamen, aber durchaus gleichberechtigte Bedeutung für die Auslegung des verbalen Sinns haben.