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Kapitel VI

Epikletisches und transzendentales Kirchenrecht

1. Die Transformation des epikletischen in das transzendentale Kirchenrecht

Die Kirchenrechtsgeschichte wie die Systematik eines ökumenisch verstandenen Kirchenrechts stellen uns eine doppelte Frage:

Erstens: Welchen Sinn und welches Recht hat die Tatsache, daß die nach ihrem eigenen Bekenntnis als Einheit bestehende und auf Einheit ausgerichtete Kirche von grundlegenden und unbehebbaren Spaltungen durchzogen ist?

Diese, wie wir wissen, geschichtlich immer nur sehr gebrechliche Einheit wird für unseren Blick leicht durch ihr ehrwürdiges Alter zur Idealität verklärt: aber in diesem fragwürdigen Nimbus steckt doch Wahrheit. Die frühe Orthodoxie mag sich an der Dreiheit von Kanon, Bekenntnis, Bischofsamt ausgerichtet haben. Ob diese Deutung zutrifft, ist neuerdings bestritten worden. Ihren besonderen Glanz haben der alten Kirche drei monumentalen Schöpfungen verliehen: die eucharistische Liturgie — missarum sollemnia —, die Trinitätslehre und Christologie der großen Konzilien von Nicaea I bis Chalcedon, deren Thematik in unserer Zeit Karl Barth noch einmal entfaltet hat, und schließlich die singuläre und unverwechselbare Bildung des Bischofsamts und der bischöflichen Verfassung, welche den historischen Kirchen trotz ihren tiefen Gegensätze geblieben ist. Diese drei großen Bildungen stellen ihre geschichtliche Substruktur dar, hinter die nicht zurückgegangen werden kann.

Zweitens: Welches Gesetz der Bewegung liegt der seit Anbeginn nie ruhende Verfassungsentwicklung der Kirche, dem nicht endenden Streit über die ihr gemäße Rechtsform zugrunde, da die Summe der verfassungsgeschichtlichen Einflüsse von außen keinesfalls ausreicht, diese immanente, eingestiftete Problematik zu erklären?

Diese Doppelfrage nach Spaltung und Fortbildung fließt in besonderer Weise im Problem des Papsttums zusammen. Welche Triebkräfte haben die Bildung des Papsttums bewirkt? Diese Institution versteht sich als Repräsentant kirchlicher Einheit, hat diese Universalität des Anspruchs aber erst nach dem Zeitpunkt voll ausgebildet, an welchem die gemeinte Einheit bereits zerbrochen war. Sie hat gerade die intendierte und dem Anspruch nach repräsentierte Einheit niemals zu gemeinem Kirchenrecht werden lassen können. Der päpstliche Jurisdiktionsprimat ist durch kein Mittel der historischen Interpretation in die Struktur der alten Kirche zurückzuprojizieren; er ist eine Neubildung, die jedoch gleichzeitig den Gedanken wirklicher und wirksamer Einheit für seinen eigenen, weiten

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und doch partikularen Bereich in einer einzigartigen Weise durchgehalten und verfochten hat.

Bestände heute keine solche Institution, und könnte die Christenheit ihre Einheit lediglich als mundiales Fernziel proklamieren, so würde gerade diese Einheit als eine belanglose, womöglich machbare Projektion von Wünschen erscheinen, nicht als eine frage, die in ihrer Vorgegebenheit und als in dieser Gestalt anschaulicher Versuch alle Beteiligten zur Stellungnahme nötigt.

Es wurde dargelegt, daß die Voraussetzungen für das erste große Schisma von 1054 bereits Mitte des ersten Jahrtausends in zwei gegensätzlichen Konzeptionen angelegt waren, über deren Beschreibung die Kirchengeschichte im Wesentlichen einig ist. Diese vorhandenen Möglichkeiten der Scheidung sind aber bis zum Schisma in den verfassungsrechtlichen Gestaltungen nicht wirksam geworden. Bis zu diesem dominierte die traditionelle Form des sakramentalen Bischofsamts. Die alte Kirche besaß ein unbestrittenes Verfassungssystem in der Diözesan- und Provinzialverfassung und in einer verbindlichen Definition des Verhältnisses ihrer historischen Vororte. Über diese Konzeption hinaus bedurfte sie nichts, besonders nicht, solange ihr auch das kaiserliche Patronat im gewissen Umfange die fehlende Subjektqualität ihrer Einheit ersetzte.

Das lateinische Christentum konnte aber eine abweichende Form kirchenrechtlicher Gestaltung erst gewinnen, nachdem eine Reihe von mehr oder minder wirksamen Hemmnissen beseitigt wurden:
— Durch die Vernichtung der großen afrikanischen Kirche mit ihrer alten bischöfliche Tradition fiel für die römische Kirche ein Gegengewicht hinweg, welches sie höchst wirksam verhindert haben würde, einen eigenen Weg neuer Art zu verfolgen.
— Die römische Kirche vermochte es, die Anfänge einer primatialen Selbständigkeit in Gallien, insbesondere in Arles wirksam zu unterbinden und sich damit ein weiteres Hinterland ihrer Obödienz zu schaffen. Daß dies nicht vollständig gelungen ist, zeigen die bis in die Gegenwart immer neu auflebenden, sich historisch durchhaltenden Tendenzen des Gallikanismus.
— In der Germanen-Mission hat Rom die älteren Grundlagen der Iro-Schottischen Mission überdeckt und durch die Berufung auf die petrinische Schlüsselgewalt ein direktes Autoritätsverhältnis begründet.
— Durch das große Schisma, welches im 9. Jahrhundert noch einmal notdürftig behoben und im 11. endgültig besiegelt wurde, fiel der andere große Gegenspieler hinweg, dessen Zustimmung die römische Kirche für institutionelle Neubildungen des gemeinsamen Kirchenrechts gebraucht hätte.

Andresen belegt aus der lateinischen Patristik schon für einen frühen Zeitpunkt die hier vorgeführte Konzeption. Sie wird nicht erst nach der Trennung vom Osten begründet. Trotzdem scheinen mir die hier erwähnten

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Umstände wesentlich für ihre sichtbare und nunmehr ungehinderte verfassungsgeschichtliche Ausbildung. Sie werden aber zugleich hier erwähnt, um darzutun, daß diese nachfliegenden Gesichtspunkte zusammengenommen nicht ausreichen, um unsere Frage zu beantworten.

Die besonderen Neubildungen, die uns beschäftigen, sind jedoch nicht zu verstehen ohne eine Jahrhunderte durchziehende Existenz- oder Identitätskrise der Kirche selbst. Im berühmten dunklen Jahrhundert, dem 9., machte die Kirche die elementare Erfahrung der eigenen totalen Korruption. Korrupt war der päpstliche Stuhl; die von Sohm wegen ihrer kirchenrechtlichen Bedeutung geschilderten Greuel der Totensynode von 897 sind gleichsam nur die Spitze des Eisbergs einer unendlich größeren Verderbnis. Aber auch die Gemeinden waren korrumpiert. Sie waren der Spielball der sie durchziehenden politischen und feudalen Parteikämpfe geworden.

Um diese Situation zu verstehen, muß man noch einmal auf das letzte große Werk Rudolf Sohms zurückgreifen. Er hat in einer einzigartigen und unüberbotenen Leistung den Geist und das systematische Gefüge des pneumatischen Kirchenrechts er alten Kirche verstehen gelehrt. Er hat diese Darstellung bis zu einem Punkte geführt, wo dieses System in eine immanente Krise geriet, welche die Erschöpfung seiner Möglichkeiten anzeigt. Aber er hat nicht darüber hinaus zum Verständnis des Fortgangs zu helfen vermocht, sondern nur gleichsam den Brückenkopf gebaut, von dem aus wir jetzt die Brücke des Verständnisses schlagen müssen.

Das System des älteren Kirchenrechts, wie es Sohm geschildert hat, beruhte auf einem ungebrochenen und, wenn man will, unschuldigen Glauben an den Heiligen Geist. Dieses Geistes war die versammelte Gemeinde wie der Einzelne ebenso teilhaftig, wie sie gewiß waren, daß dieser Geist ihr auf ernstliche Anrufung zukommen und seine Hilfe nicht versagen werde. Mit diesem Glauben war nicht gemeint, daß man diesen Geist in einer unangemessenen Weise „besitze”. Mit dem größten eschatologischen Ernst, wie ihn die Bischofswahlbestimmungen der apostolischen Konstitutionen widerspiegeln, trachtete die Gemeinde danach, bei Wahlen wie bei Lehrentscheidungen eine geistgemäße Entscheidung zu finden und zu treffen. Sie sah sich zu solchen Entscheidungen geleitet durch die überzeugende Prophetie einzelner, durch die spontane Evidenz der Übereinstimmung, wie der spätere Begriff „quasi per inspirationem” noch deutlich macht, oder auch durch den sorgsam erwogenen und ausgewogenen Konsens aller.

Sie rechnete aber auch mit Verfehlbarkeit dieser Entscheidungen und hielt sich dann verpflichtet, den evident gewordenen Fehler durch Entamtung des Unberufenen, durch Widerruf der Aussage aus der Welt zu schaffen. Aus dieser Konzeption ist das System des älteren Kirchenrechts mit relativer Ordination, Vernichtbarkeit des Ordo, Translationsverbot, Interdependenz aller Gemeinden und Rezeptionsprinzip zu verstehen.

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Nun hat Sohm aber gezeigt, daß dieser Geistglaube an eine Grenze geriet. Es trat der Gedanke auf, daß der Geist sich nicht widersprechen könne und dürfe. Wo also gerade bei Ordinationsentscheidungen grundsätzlicher Art unbehebbare Widersprüche auftraten, bot der Geistglaube keine Lösung mehr an. Sohm hat nicht mehr erwogen, daß dieser Überschritt in die Widerspruchslosigkeit eine Rationalisierung des Geistglaubens enthielt, der seinen eigenen Voraussetzungen widersprach. Der Heilige Geist läßt sich nicht dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten unterwerfen. Diese Konsequenz lateinischer Rationalität hat die griechische kanonistische Tradition bis in die Gegenwart immer vermieden.

Auf alle Fälle traf die Erfahrung jener umfassenden Korruption auf ein kirchenrechtliches System, welches sich in seiner Struktur erschöpft hatte und für die Bewältigung der so entstandenen Lage keine zulänglichen Hilfsmittel mehr darbst. Die alte Decke war noch vorhanden, aber sie war zu kurz geworden.

Die Gründe, welche Sohm verhindert haben, in seiner Interpretation über diesen Punkt hinaus vorzustoßen, lagen nicht nur in der Begrenztheit seines Lebenswerkes, dessen letzte große Frucht sein Werk über das Decretum Gratiani gewesen ist, sondern auch in grundsätzlichen Sperren, in denen er befangen war. Sohm hat den Punkt, an welchem seine Ablehnung des Kirchenrechts ansetzte, historisch unterschiedlich bezeichnet. Es konnte der Abfall in den Frühkatholizismus sein, auf den sich heute noch die Kirchenhistoriker und Exegeten berufen, wenn sie den Problemen der Kirchenrechtsgeschichte entgehen wollen. Es könnt aber auch sein und war spätestens der Übergang vom altkatholischen in das neukatholische Kirchenrecht, welches als säkulares Körperschaftsrecht und Form politischer Selbstbehauptung theologisch disqualifiziert werden konnte. Damit war das Abfallschema festgehalten und mit der Verdammung eine positive Erklärung des Fortgangs abgeschnitten.

Der denkerische Zwang zur historischen Selbstrechtfertigung der reformatorischen Theologie nötigte Sohm zugleich, an der Einsichtigkeit und Schlüssigkeit der Antithese festzuhalten, die sich in der Reformation dargestellt hatte. Jede Perspektive und jede Erklärung, die quer zu diesen Frontstellungen lag, mußte als eine geradezu ruchlose Infragestellung neu entdeckter Wahrheit erscheinen. So hat denn auch Siegfried Grundmann auf nichts so allergisch reagiert wie auf den Gedanken, daß die lateinische Kirche des 2. Jahrtausends über die Reformationsscheidung hinweg wesentliche strukturelle Gemeinsamkeiten besitzt.

Sohm hat sich, wie sich Andreas Bühler ausdrückt, „durch die Macht der historischen Tatsachen gezwungen gesehen, die Existenz eines rein geistlichen Kirchenrechts anzuerkennen”.69 Die Wissenschaft der Kirchengeschichte dagegen hat die Tatsachen, denen Sohm sich nach ursprünglicher radikaler Bestreitung beugte, in ihrer Tragweite und in ihrem inneren Sinnzusammenhang nicht erkannt, sondern sie durch positivistische

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Vereinzelung vergegenständlicht. Sie hat Sohm I — die negative These — bis zum Überdruß diskutiert, Sohm II, das Gegenstück, regelmäßig nicht zur Kenntnis genommen, jedenfalls nicht in ihrem Gewicht erwogen. Ich war darum versucht, diesen Teil des Werkes „dem unbekannten Sohm” zu widmen.

Das Lebenswerk Sohms ist auch für die Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte von wesentlicher Bedeutung gewesen. Sohm war der Erste, der zwischen Altkatholizismus und Neukatholizismus unterschied. Er meinte damit eine qualitative Veränderung, durch welche die alte Kirche in ihrer lateinischen Hälfte in eine neue geschichtliche Form übergeleitet wurde — nicht die Unterscheidung zwischen Papstkirche und der die Anerkennung des I. Vaticanums verweigernden Gruppe, keinen bloßen Regreß in eine vergangene Maßgeblichkeit.

Die Apologetik der getrennten Kirchen ist dieser Periodisierung abhold gewesen. Bis in die Gegenwart hat die katholische Kanonistik und Kirchengeschichtsschreibung diese Unterteilung abgelehnt und eine bruchlose Weiterentwicklung der wesentlichen Merkmale ihrer Kirche behauptet, bedeutsame qualitative Veränderungen jedoch bestritten oder minimalisiert. Erst in der letzten Zeit sind auf der katholischen Seite die geschichtliche Problematik des Jurisdiktionsprimats und wesentliche Veränderungen in der Kirchenstruktur, wenn auch nicht ohne Vorbehalt anerkannt worden, so z.B. in der Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Ordination.

Die protestantische Apologetik hat umgekehrt daran festgehalten, daß es sich beim Katholizismus um ein einheitliches Prinzip handele, welches sich seit den frühesten Zeiten, bis in den neutestamentlichen Kanon hinein, nachweisen lasse und aus diesem folgerichtig entwickelt habe. Hier bestand ebensowenig ein Interesse an der historischen Differenzierung wie im Katholizismus. Probleme und Phänomene etwa des 4., 12., 16. und 19. Jahrhunderts wurden als „katholisch” unbedenklich auf der gleichen Ebene behandelt. Je liberaler die Theologie, desto treuer die Anhänglichkeit an einen einheitlichen Begriff, an eine „Idee” des Katholizismus, die man daher in allen ihren historischen Formen abwerten und bekämpfen kann. Auch hier hat sich erst in der neuen Zeit mit einer besseren Kenntnis der historischen Probleme und der Ausbreitung ökumenischer Erfahrung eine Differenzierung durchgesetzt.

Die Unterscheidung zwischen Alt- und Neukatholizismus besagt freilich nicht mehr, als daß eine geschichtliche Transformation stattgefunden hat — was die Unvermeidlichkeit einschließen mag —, aber nichts über das Wesen dieser Umbildung. Andreas Bühlers Formulierung richtet sich aber allein gegen die negative These Sohms und diejenigen Gelehrten, die allein dieser These folgen und das übrige Lebenswerk Sohms außer Betracht lassen. Sie läßt die Frage offen, inwieweit anderen Rechtsformen der Kirche dieser geistliche Charakter zuerkannt werden kann.

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Die inhaltliche Besonderheit dieser Epoche versuche ich durch die Bezeichnung „epikletisch” auszudrücken. Der ihr zugrundeliegende Geistglaube hat sich in der liturgischen Form der Epiklese ausgedrückt, sowohl in den Formen der Ordinationsrituale wie überhaupt in der Tradition der großen Liturgie. Die Epiklese ist dann aus den Formularen der lateinischen Kirche verschwunden und auch von den reformatorischen Kirchen nicht wieder aufgenommen worden. Erst in der Gegenwart hat die liturgische Bewegung die Geistepiklese in der neuen Formulare der Abendmahlsgottesdienste wieder eingefügt, ohne daß dem gemeinhin der Hintergrund in Glaube und Theologie entsprach. In Band I, Kap. VIII, habe ich andererseits nachgewiesen, daß die Tradition der Ordinationsformulare im Gegensatz zur Ordinationslehre dieses Strukturelement mit großer Treue aufbewahrt hat.

Man könnte das Recht der alten Kirche als „immanentes” bezeichnen, weil das gemeinte Geistgeschehen sich im Schoße der gottesdienstlich versammelten Gemeinde, in Synode und Konzil, vollzieht. Dies würde aber zu einer falschen Antithese zwischen Immanent und Transzendenz führen. Einerseits ist der transzendente Charakter der hier gemeinten Geistwirkungen unbestreitbar. Andererseits würde diese allgemeinphilosophische Begrifflichkeit den fundamentalen und existentialen Charakters des Geistglaubens verdecken. Die Bezeichnung „epikletisch” ist neu. Sie ist ein Arbeitsbegriff, um das charakteristische Moment dieser Epoche gegenüber einem entsprechende Moment der anschließenden Periode herauszustellen. Man wird diesen Versuch nur dann recht würdigen, wenn man die sachliche und signifikante Bedeutung liturgischer Grundvollzüge im Lichte der Grundthese des Bandes I im Auge behält.

Der Sohmsche Nachweis, daß sich das epikletisch-pneumatische Kirchenrecht des Altkatholizismus erschöpft hatte, bietet uns nun die Grundlage für ein weitergehendes Verstehen und eine bessere Analyse. Die Kirche antwortete auf die Erfahrung ihrer Korruption mit einer umfassenden Selbstreform. Reform ist der zutreffende Begriff für jede Bewegung, welche den ursprünglichen Sinn einer Gemeinschaft neu zu fassen und eben darum verderbte und überlebte Lebensformen abzustoßen sucht. Denn jene Intention der Wiederherstellung bedrohter oder verlorengegangener Identität kann immer nur mit dem Überschritt und der Gewinnung neuer Lebensformen verwirklicht werden, die in dem Vorangegangenen zwar ihre Basis, aber keinerlei Vergleich finden. Reform und Reformation verlangen Transformation.

Diese geschichtliche Notwendigkeit läßt sich auch für den Übergang der lateinischen Kirche aus dem 1. in das 2. Jahrtausend belegen und liefert den Schlüssel für ihre Fortbildung. Jene Reform setzte mit einer Bußbewegung an, die von neuen Ordensbildungen ausstrahlte, einen großen Teil des Weltklerus erfaßte und über ihn in die Gemeinden vordrang. Sie wurde unterstützt durch die Einwirkung des ottonischen und salischen

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Kaisertums auf den päpstlichen Stuhl, die den gröbsten Missständen ein Ende bereitete. In einer zweiten Phase hat dann die zu neuer Kraft und Selbständigkeit erwachsene Kirche wiederum den Einfluß abgeschüttelt, den das Kaisertum durch seine loyale Hilfeleistung für Kirche und Papsttum erworben hatte.

Ihre eigentliche systematische Vollendung aber hat diese Umsetzung in eine neue Form der kirchlichen Struktur erst zu einem ziemlich späten Zeitpunkt gewonnen, als das 4. Laterankonzil 121570 die regelmäßige Beichtpflicht jedes Christen statuierte und den Empfang der Sakramente von ihrer Erfüllung abhängig machte. Erst die Interpretation dieses neuen Instituts zeigt die ganze Tragweite der Umbildung, die die Kirche in den Jahrhunderten der Reform erfahren hatte. Diese Regelung, die vom Papst bis zum letzten Bettler jeden Christen einer regelmäßigen und ordentlichen geistlichen Gerichtsbarkeit unterwarf, bedeutete die umfassendste institutionelle Anstrengung, welche die Kirche jemals sich selbst und ihren Gläubigen abverlangt hat. Sie war eine Art Kulturrevolution. Nur eine harte Notwendigkeit, nur die Nötigung eines zentralen theologischen Anliegens erklärt eine so eingreifende Gestaltung.

Tatsächlich war sie indiziert durch die radikale Frage, wie denn überhaupt Legitimität und Identität der Kirche jeweils erwiesen und geklärt werden könnten. Die Unsicherheit darüber bildete das Ende des altkatholischen Kirchenrechts.

Sie bildete auch den Inhalt der langen Streitigkeiten der Reform, in der immer von neuem die sogenannte Simonie, d.h. in Wahrheit nicht der Kauf geistlicher Gaben, sondern die weltliche Einwirkung auf geistliche Entscheidungen, insbesondere Ämterbesetzungen, gebrandmarkt wurde.

Demgegenüber hatte sich die Kirche in einer neuen und immer strengeren Disziplinierung ihres gesamten Klerus zurückgenommen. Wenn jeder Einzelne regelmäßig der Beichtjurisdiktion unterworfen wurde, so handelte es sich um mehr als um die Prüfung und Disziplinierung zahlloser Einzelner, damit das Volk Gottes ebenso gereinigt in den Tempel ging wie ehedem das Judentum durch das Torgericht.

Es war zunächst eine radikale Individualisierung, da der geheime Vorgang im Gegensatz zur alten Bußdisziplin nahezu völlig aus den Beziehungen zur Gemeinde gelöst war. Indem aber alle dem Gericht unterworfen wurden, zeigt sich zugleich eine universale Perspektive des Instituts. Durch diese Universalität sollte und konnte die Identität der Kirche in Glauben und Handeln im höchstmöglichen Maß kritisch geprüft und zugleich gesichert werden. Würde es sich lediglich um den jeweils Einzelnen gehandelt haben, so würde sich die Bedeutung dieser Entscheidungen in der Partikularität verlaufen und erschöpft haben. Ekklesiologische Bedeutung gewann der Vorgang dadurch, daß zugleich eine sachliche Übereinstimmung der Entscheidungen auf beiden Gebieten, in Glauben und Leben, in fide et moribus angestrebt wurde.

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Um diese Einheitlichkeit zu gewährleisten, mußten sowohl ein Instanzenzug der Entscheidung gebildet als auch Grundsätze entwickelt werden, die jeder einzelnen Entscheidung übereinstimmend zugrunde gelegt werden konnten. Was zunächst die Stufung anbetrifft, so kamen naturgemäß in der gemeindlichen Beichtpraxis in der Mehrzahl längst bekannte und entschiedene Probleme vor, zu denen jeder Gemeindepfarrer ohne viel Umstände Stellung nehmen konnte. Daneben aber ergaben sich kompliziertere Fragen der Lehre und des ethischen Verhaltens, die entweder das Urteilsvermögen des einfachen Priesters überstiegen oder in der Kirche noch nicht ausgetragen worden waren. So ergab sich zwangsläufig ein System der gestuften Zuständigkeiten, welches in der obersten Gerichtsbarkeit des Papstes seine sinngemäße Spitze und Einheit fand.

Um aber dieses System der Entscheidungen praktikabel zu machen, mußte zugleich ein dogmatische und ethisches System von weitverzweigter Vereinzelung und hinreichender Genauigkeit gebildet werden, welches auf der allgemeinen Gültigkeit seiner Generalsätze beruhte. Hier zeigt sich das theologische und institutionelle Interesse, welches zur Ausbildung einer idealistischen Theologie scholastischen Typus geführt hat. Nicht die Versuchungen der griechischen Philosophie, sondern die Frage nach der Identität und Einheit der Kirche haben zur Übernahme und Ausbildung solcher für diesen Zweck geeigneter Begriffsmittel geführt. Gestufte Kompetenzen und kasuistisch differenzierte Generalsätze zusammengenommen ermöglichten jenes umfassende System der Beichtjurisdiktion, welches sich bis in die Gegenwart als markante Eigenart des lateinischen Christentums durchgehalten hat, und dessen Strukturformen erst heute langsam abgestoßen werden.

Der zwingende Anlaß aber zu einer so ungeheuren Anstrengung der personalen Anforderungen wie der Begrifflichkeit lag in der krisenhaften Verunsicherung der Existenz der Kirche selbst. Nur durch diese ständige Prüfung ihrer eigenen Identität vermochte sie die Gewißheit zu begründen, mit sich selbst identisch, Stiftung und Auftrag getreu zu sein.

Was sich hier in der lateinischen Kirche — und eben wesentlich nur in ihr — im Umgang vom ersten zum zweiten Jahrtausend und in den ersten Jahrhunderten dieses Millenniums vollzogen hat, hat unzweifelhaft eine Fülle kontingent-historischer Gründe: Spätwirkung des Hellenismus, Neuentdeckung der griechischen Philosophie über die Araber und deren Einfluß selbst, die Ausweitung und Öffnung der Lebenshorizonte durch die Kreuzzüge. Einer umfassenden Öffnung nach außen entspricht die Entstehung eines geschlossenen Systems nach innen. Dies alles zusammen bewirkt nach dem Niedergang und Verfall im neunten und zehnten Jahrhundert einen erstaunlichen Aufstieg der Kirche, sichtbar an großen Gestalten und Gestaltungen.

Die großen Ordensbildungen von Cluny bis zu den Bettelorden, die große Theologie von Anselm bis Thomas,

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der Verfassungsumbruch, den die Änderung des Papstwahlrechts signalisiert, und nicht zuletzt die großartige künstlerische Selbstaussage in Romanik und Gotik, — alles dies zwingt, nach den geistlichen Kräften und theologischen Denknotwendigkeiten zu fragen, die eine solche Überfülle hervorgebracht haben, während Ende des 13. Jahrhunderts die Spaltung zwischen spiritualistischer Regimentsunfähigkeit Coelestins V. und Machtwahn Bonifaz VIII. eine Erschöpfung und eine tiefe Spannung zwischen Spiritualität und Institutionalität hervortreten läßt.

Die Kirchenrechtsgeschichte kann und braucht dieses Syndrom von Einflüssen nicht aufzulösen. Aber sie kann und muß feststellen, daß als Ergebnis die Struktur einer transzendentalen Kritik entstanden ist. Diese hat eine zentrale auf alle Gebiete ausstrahlende motorische Wirkung gehabt, und zwar gerade auf die rechtlich-institutionellen Formen der Kirche.

Daß aus einer Summe höchst unterschiedlicher und gewiß zum Teil widersprechender Einflüsse eine so zentrale und bewegende geistige Form entstanden ist, scheint mir nur so verständlich, daß sie als kritische Rationalität auf die zentrale theologische Frage nach der Existenz selbst zugespitzt wurden. Daraus erklärt sich die selektive, ebenso aufbauende wie zerstörende Kraft, die diese kritische Frage auf die Verfassung der Kirche, den positiven Bestand ihrer traditionellen Rechtsordnung ausgeübt hat. Es bleibt verwunderlich genug, daß ein höchst komplexer geistesgeschichtlicher Vorgang sich zu einer relativ eindeutigen und wirksam handhabbaren geistigen Form verdichtet, alsbald aber die Rechtsstruktur eines weltweiten Gemeinwesens von großem Traditionsgehalt tiefgreifend verwandelt. Dennoch bestätigt sich diese Hypothese in der Erhaltung der Folgerichtigkeit der kirchlichen Verfassungsgeschichte bis in die Gegenwart, bis zum Ausgang des konfessionellen Zeitalters.

Ich habe mich mit diesen Fragen seit langem unter verschiedenen Gesichtspunkten befaßt und darüber Erwägungen vorgetragen.71 Doch meine ich, dem rechtsgeschichtlichen Kern mit dieser Deutung wesentlich näher gekommen zu sein. Sie ist im Kontext mit der an anderer Stelle vorgetragenen rechtssoziologischen Analyse der Hierarchie zu lesen.

Was sich also nach dem Ausgang des Geisterglaubens anmeldetet und durchsetzte, war die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit legitimen Handelns und Lebens der Kirche.

Die transzendentale Frag eist notwendig eine kritische, weil sie immer gleichzeitig mit der Verneinung der so gestellten Frage zu rechnen hat. Kritizismus und Transzendentalismus hängen untrennbar zusammen.

Mit dieser transzendentalen Struktur des lateinischen Christentums im 2. Jahrtausend erklärt sich die sonst ganz unverständliche Tatsache, daß dessen extrem juridischer Charakter nicht unter den Einwirkungen

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spätrömischer Tradition, nicht in der hohen Zeit byzantinischer Gesetzgebung, durch keinen Erbgang des untergehenden Römertums vermittelt ist, sondern seine volle Blüte gerade in der Zeit des ganz anders gearteten, für diese Fragen und Gestaltungen ziemliche unergiebigen germanischen Kirchenrechts gefunden hat. Es sind also innertheologische und nicht außertheologische Faktoren, welche diesen juristischen Charakter des Existenzproblems für die Kirche und den einzelnen Christen herausgearbeitet haben.

Wenn nach Dantine die Theologie des Mittelalters mit Sorgfalt Fragen des Gewissens, der Verantwortung, der Schuld, des Bewusstseins zu klären unternommen hat und diese Vorarbeiten die Voraussetzungen für die nicht minder juristisch strukturierte Rechtfertigungslehre des Luthertums dargestellt haben, so sind mit nicht geringer Sorgfalt die dogmatischen Mittel bereitgestellt worden, um jene Jurisdiktion zu ermöglichen.72

Die so bezeichnete kritisch-transzendentale Frage nach Legitimität und Identität der Kirche bedeutet nun einen qualitativen Schritt über das alte Kirchenrecht hinaus in eine an die Wurzel gehende, ständige Selbstprüfung mit einem hohen Anteil an Rationalität.

Die These vom Übergang in das transzendentale Kirchenrecht muß gegen das Mißverständnis geschützt werden, als handele es sich hier um einen philosophischen Prozeß. Der Philosoph der transzendentalen Kritik klärt die Strukturen des Denkens und erwartet, daß die Menschen nach der Aufklärung ihres Denkens über sich selbst diese Schritte nachvollziehen. Die Rolle des Philosophen selbst ist dabei ein Problem für sich, aber kein primäres. Die Sache des Denkens und der Erkenntnis selbst steht voran.

Die transzendentale Kritik im theologischen Sinne jedoch ist eine Selbstkritik, die sich gegen jeden richtet, der sie vollzieht. Sie ist zugleich existentiell. Der Kritiker stellt damit selbst seine ganze Existenz coram deo in Frage. Der theologischen Transzendentalkritik geht es nicht primär um Vernunft und Erkenntnis als solche, um die Konstituierung der geistigen Welt, sondern unendlich weiter umgreifend um Leben und Heil schlechthin, um die eschatologische Frage.

Natürlich haben die beiden hier verglichenen Geistesbewegungen ihre unverwechselbare historische und systematische Eigenart, ihre eigenen Bedingungen. Aber sie sind immerhin soweit in der Struktur vergleichbar, daß darauf verwiesen werden kann. Zudem gibt es keinen Begriff, der die Differenz zulänglich ausdrückt.

Aus dieser Radikalität gewann diese Bewegung ihren hohen Rang wie ihre Durchschlagkraft. Die Christenheit hat sicherlich auch in ihren tiefsten Krisen nie die Gewißheit des Glaubens preisgegeben und verloren, daß das Heil zugesagt und vermittelbar war und blieb. Dennoch waren die modi dieser Vermittlung und damit auch alle rechtliche Legitimität des Kirchenregiments in der Tiefe in Frage gestellt. Die Kirche beantwortete

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diese Frage mit dem eigenständigen Vorgriff auf eine (selbst-)kritische Denkform, die sieben Jahrhunderte später als epochaler, die Tradition zerschmetternder Umbruch gewertet worden ist. Erst auf der neuen Grundlage dieser Selbstkritik hat sie ihr großes positives System aufgebaut. Diese Grundlage und der Sinn des Systems aber wird erst deutlich, wenn man gegenüber einer einseitig dogmatisch-ideengeschichtlichen Auseinandersetzung den nicht auf Folgeverhältnisse zu bringenden Zusammenhang zwischen Dogmatik, sakramentalem Vollzug und Verfassungsrecht wahrt.

Die verfassungsrechtlichen Konsequenzen dieses historischen Quantensprungs sind von außerordentlicher Tragweite. Erst der Einblick in diese Umsetzung aber ermöglicht es, eine Fülle von Erscheinungen verstehend zusammenzufassen, die bisher als vereinzelte zufällig oder unerklärlich erschienen.

Wie kennen aus der Dogmengeschichte die Entstehung des klassischen Systems der sieben Sakramente. Wir sind gewohnt, dieses System als eine Ordnung zu verstehen, in welcher das geistliche Handeln der Kirche den Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitet. In diesem Gefüge hat das Bußsakrament von jeher keinen rechten Platz gefunden und Anlaß zu Zweifeln gegeben, zumal auf dieses Sakrament die Generalbegriff der Sakramentenlehre nur schwer anwendbar sind. Im Licht der oben entwickelten Perspektive aber zeigt sich die systematische Stellung, der Stellenwert des Bußsakramentes im neuen Licht. Es steht nunmehr nicht nur innerhalb jenes das Leben umfassenden Systems, sondern wie das Vorzeichen vor einer Klammer, in der alle jene anderen Vollzüge, wie überhaupt jedes mögliche Handeln der Kirche zusammengeschlossen sind. Von der Zusprechung oder Versagung der Absolution hängt nunmehr schlechthin der Zugang zu allen geistlichen Gaben der Kirche vorweg ab.

Wenn diese umfassende Bestimmung nun gleichermaßen existenzbestimmend für jeden einzelnen Christen wie Sicherung und Darstellung der Identität und Legitimität der Kirche ist und sich in ihrem Aufbau als Jurisdiktionshierarchie abspiegelt, so wird dieser Vollzug zu einem absolut vorrangigen.

Es ist erforderlich, die verfassungsrechtlichen Konsequenzen durchzugehen.

a) Die Kirche scheidet sich eindeutig in Träger der Jurisdiktionsgewalt und solche, die von diese Gewalt ausgeschlossen sind.
Daß auch jeder Priester, einschließlich des Papstes, der gleichen Gewalt unterworfen ist, hebt diese tiefgreifende Spaltung nicht auf. Die Einen sind iudices ordinarii, ordentliche Richter; die Anderen, d.h. zugleich alle, sind dieser Gerichtsgewalt unterworfen; die Kirche ist verpflichtet, einem jeden Christen seinen ordentlichen Gewissensrichter zur Verfügung zu stellen und ihr ganze Einflußgebiet so zu unterteilen,

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daß jedermann an diesen ordentlichen Richter verwiesen ist. Dies ist das Vorbild des späteren rechtsstaatlichen ordentlichen Richters, der, wie der Beichtrichter in der Erforschung des Gewissens, nicht in den Formen des archaisch-agonalen Prozesses oder im Rahmen der Parteidisposition entscheidet, was vor ihn gebracht wird, sondern unter der Offizialmaxime im Für und Wider den objektiven Tatbestand zu erforschen hat. Er muß zur bitteren Wahrheit mahnen wie die skrupelhafte Selbstbezichtigung beiseiteschieben.
Vermöge dieser eindeutigen Teilung aber haben die Anderen kein aktives Recht, an der Jurisdiktion mitzuwirken. Denn wenn diese das entscheidende Handeln ist, so hängen alle übrigen kirchlichen Verrichtungen davon ab. Damit wird endgültig das Kirchenvolk zu versorgungsberechtigten Empfängern der ihm bestimmten Gnadenwirkungen unter der Voraussetzung, daß der Einzelne sich als „reus perpetuus” jener Erforschung unterzieht. Die Gemeinde wird zum Seelsorgebezirk der Flächenkirche, hat aber nur passiv den Charakter des Personenverbandes. Aus diesem Ansatz ergibt sich zugleich, daß alle die liturgisch eingeordneten Amtsformen, die keinen Teil an der Jurisdiktion haben, wie der Diagonal und die ordines minores, ihre Bedeutung verlieren.

b) Radikale Individualisierung und umfassende Universalisierung entsprechen und verweisen im System aufeinander, sind aber gegeneinander nicht vermittelt. Daher werden alle Querverbindungen der communio, in der Gemeinde, in Synoden und Provinzialverbänden als nicht mehr tragend entwertet.
Durch die Vorrangigkeit des Beichtsystems werden alle übrigen innerkirchlichen Strukturen und Verrichtungen in ihrem Stellenwert verändert, sie werden sekundär, relativ unwichtig.
Die lateinische Kirche baut auf den traditionellen Verfassungselementen der alten Kirche auf und trägt diese Verfassung, Provinzen, Diözesen, Parochien in der Vollendung der Mission noch nach Polen, Ungarn und Skandinavien. Aber diese Formen verlieren zunehmend ihren Wert. Es besteht durchaus kein aktives Interesse, diese Lebensformen abzubauen und durch ein neues Prinzip und System zu ersetzen. Viel wirksamer ist, daß sie schrittweise gleichgültiger werden und so behandelt werden können, wie ein verlassenes Haus als Steinbruch für andere Bauten verwendet wird.
Es besteht kein Interesse mehr, die Gemeindeverfassung, die Diözesansynoden, die Kollegialität der Bischöfe, die Provinzialverfassung auszubauen. Nur zufällig werden aus dem Bestand dieser entwerteten Rechte Einzelne an die Kurie gezogen und vorbehalten. Mißbräuche, wie die Mehrfachbesetzung von Dignitäten, führen dazu, daß sicherheitshalber nachgefragt wird, ob der päpstliche Stuhl bereits verfügt hat. Was aber einmal dem Urteil der Kurie unterlegen hat, bleibt dann in derer Kompetenz. So wird die alte Kirchenverfassung ausgehöhlt.

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Neben die halbzerstörten Strukturen der alten Kirchenverfassung treten neue Institutionen päpstlichen Rechts, wie Universitäten, Stiftungen, Bruderschaften und vieles Andere. Unter dem Vorzeichen und innerhalb der Klammer der umfassenden Jurisdiktion kann ohne systematische Vermittlung und Ordnung Eins neben das Andere gesetzt werden, sofern nur jedes von ihnen diese zentrale Bewilligung und Legitimation besitzt.
Dies hat zugleich eine neue integrierende Wirkung eigener Art. Wenn nur das, aber auch alles Unterschiedliche legitim ist, was in Gemeinschaft mit dem römischen Papst steht, von ihm anerkannt und privilegiert ist, dann gewöhnt man sich daran und muß anerkennen, daß es eine große, unübersehbare Vielfalt eigenartig gestalteten geistlich-kirchlichen Lebens gibt; für Uniformität und natürliches Misstrauen gegen jedes Andersartige ist hier kein Platz und Nährboden — um so schärfer ist die Abgrenzung, die man nicht überschreiten darf, ohne aus allem herauszufallen.
Aber schließlich endet die mittelalterliche Kirche in einer unübersehbaren Verwirrung, aus welcher das Landeskirchentum das Recht nimmt, sich an die Stelle der zerstörten Diözesanverfassung zu setzen und für alle zersplitterten Zuständigkeiten neue Zentren zu bilden.

c) Die Transzendentalität erzeugt — und dies ist überhaupt das entscheidende Interesse, um dessentwillen sie ausgebildet wird — eine transzendentale Subjektivität. Sie begründet, definiert und legt den Stand des einzelnen Christen vor Gott aus. Dies ist eine formale Denkstruktur, die sehr verschieden ausgefüllt werden kann. Ist diese Position aber im wahren Sinne transzendental, so muß sie zugleich als suffizient, als genügsam für jene entscheidende Frage vorgestellt werden. Infolgedessen kann nichts, was auf diese Vorentscheidung folgt, noch in einem wesentlichen Sinne bedeutsam sein.
Was aber etwa noch geschieht, tritt infolgedessen gegenüber der vorausgesetzten theologisch allein relevanten Subjektivität in die Stellung und Qualität des Objektes. So muß folgerichtig auch der Gnadenbegriff die Struktur des Objektes annehmen, nicht in einem vordergründigen innerweltlichen Sinne der Vergegenständlichung, aber doch bis nahe an diese Form heran. Dies wird etwa in dem Begriff des „conferre gratiam” sichtbar,73 welches überhöhend die schon grundgelegte Subjektivität erfüllt und erweitert. Es tritt hervor in der Objektivierung des ordo-Begriffs zur Unzerstörbarkeit. Es zeigt sich in der Zweideutigkeit des viel umstrittenen Begriffes der Transsubstantiation, welche in die Nähe der innerweltlichen Gegenständlichkeit heranrückt.
Wo aber diese gleichsam zusätzliche Objektivität nicht bejaht, sondern ausgeschlossen wird, muß alles in der Tradition der Kirche enthaltene, sichtbar-reale Handeln, insbesondere aber die Sakramente den Charakter der Publikation, der Sichtbarmachung, der Bekräftigung oder

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auch in einem nicht weniger vieldeutigen Sinn denjenigen des Symbols annehmen. So erklärt sich der die katholische Sakramentstheologie begleitende Widerspruch zwischen Objektivierung und Spiritualisierung, die beide den biblischen Realismus verfehlen.
Die Begründung der transzendentalen Subjektivität führt also zwangsläufig in Ekklesiologie und Kirchenrecht das Schema von Subjekt und Objekt ein, welches unter den besonderen Voraussetzungen und Bedingungen des geistlichen Handelns hier verarbeitet wird. Daraus erklärt sich auch, daß der Rechtsbegriff des kanonischen Rechts mehr und mehr ein säkularer wird. Dies haben gerade katholische Autoren hervorgehoben.74

d) Der kritische Charakter dieser Transzendentalität begründet zugleich ihr juristisches Wesen.
Hier kommt von den Wesenselementen des Rechtes nicht seine Normativität, sondern sein Entscheidungscharakter ins Spiel. Sind diese Entscheidungen aber vermöge ihrer Transzendentalität suffizient, so kann auch in dieser Ebene nichts darüber Hinausgehendes geschehen.
Wo aber entschieden wird, wird unterschieden und geschieden, nicht verbunden. Daher ist ein kritisches System der Entscheidungen für die Dimension der Integration, der personalen Institution, der Vergemeinschaftung, die Kategorien der communio und koinonia, nicht offen. Er bietet keinen Übergang in solche Lebensformen und Zusammenhänge. Sie können nicht mehr sinngemäß einbezogen und verarbeitet werden. Da sie aber in den Voraussetzungen der christlichen Existenz mit enthalten sind, erzeugt diese Demission eine unbehebbare Spaltung des Kirchenbegriffs und des Kirchenrechts. Neben die innergeschichtliche, sichtbare und notwendige Kirche der Demission tritt eine verborgene spirituale Kirche der communio und Gemeinschaft. So setzt die katholische Ekklesiologie bis zu der Enzyklika „Mystici corporis” von 1943, dem letzten großen Hindernis der konziliaren Reformtheologie, neben die institutionelle Kirche der Jurisdiktion eine spirituale Kirche mystischer Vergemeinschaftung.
So erzeugt der Doppelansatz der kritischen Transzendentalität zugleich eine doppelte Spaltung des Kirchenbegriffs zwischen Innen und Außen wie zwischen Subjekt und Objekt, deren Antithesen nicht miteinander verwechselt werden dürfen, die aber beide analogisch in der gleichen Richtung einer Spiritualisierung von Kirchenbegriff und Kirchenrecht wirken.
Diese Wirkungen werden in den anschließen den Abschnitten dargestellt. Wesentlich ist bei alledem, daß nicht der affirmative Charakter der scholastischen Theologie, sondern primär der kritische Impuls dieser Bewegung die geistige und institutionelle Struktur bestimmte.
Als allgemeine Belege, für die hier vertretene These zwei Zitate von Walter Ullmann und Fritz Kern nebst Erläuterung:

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„Bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts hat die christliche Lehre es als ratsam empfohlen, daß der einzelne Christ seine Fehler einem Priester gestehen sollte, aber sie hat ihn nicht dazu verpflichtet. Diese „Empfehlungen” wurden nur gelegentlich befolgt. Die Laienbeichte war weit verbreitet und wurde als ausreichend für den Nachlas der Sünden gehalten.”
„Wir erinnern uns, daß Gregor VII. auf zwei Synoden, der vom Herbst 1078 und der Fastensynode von 1080, die „vera” und „falsa” penitentia zum Gegenstand eines Synodalbeschlusses machte. Diese Beschlüsse warnen vor der „falschen Buße” und betonen ausdrücklich, daß die „vera penitentia” unerläßlich sei, wenn ein gültiger Nachlas der Sünden erreicht werden soll. Die „vera penitentia” kann jedoch nur durch qualifizierte Priester erlangt werden, d.h. jene, die „religione et scripturarum doctrina instructi” sind, so daß sie „viam veritatis” zu weisen vermögen. Die zwei Bestimmungen, welche die Bedeutung dieses Dekrets ausmachen, sind erstens die Notwendigkeit der Beichte vor dem Priester und zweitens die Anwendung des Funktionsprinzips auf die Beichte, d.h. auf die „vera penitentia”. Da die geistliche Beichte unbedingt erforderlich ist, können nur die gültig binden und lösen, die über die entsprechende Eignung verfügen. Das Prinzip der Amtseignung ist eng verknüpft mit der These von der Verpflichtung zur Beichte vor einem Geistlichen.”74a
„… Am 28. Februar 835 wird in der Metzer Stephanskirche die Rekonziliation und Restitution des Kaisers durch einen feierlichen Akt beurkundet. Die Zeremonie, die mit Ludwig hier vorgenommen wird, ist eine Art geistlicher Neuinvestitur mit der Herrschaft … Alle diese drei Akte sind rein kirchlich, auch der Synodalbeschluß zu Diedenhofen. Sickel 126 ist hinsichtlich der Reichsversammlung von 835 hierin zu berichtigen: in Diedenhofen wurde nicht ausdrücklich über die weltlichen Vorgänge vom Lügenfeld der Stab gebrochen, sondern über die Vorgänge von 833 insgesamt, wobei die kirchlichen Maßregeln gegen Ludwig im Vordergrund standen … Geraume Zeit später erklärt Hincmar, De Divortio q. 6 (Migne, PL 125, 757 B.): „Nostra aetate pium augustum Ludovicum a regne deiectum post satisfactionem episcopalis unanimitas saniore consilio cum populi consensu ex ecclesiae et regno restituit”. Also das Bischoftum habe den Kaiser erst nach kirchlicher Genugtuung (durch Buße) nicht nur der Kirchengemeinschaft, sondern auch dem Thron zurückgegeben; das Volk stimmt dem in derselben formlosen, unfassbaren Weise zu wie anderen Synodalbeschlüssen auch.”
Seite 199: „Gregor VII. schuf, obwohl er jenes politische Bündnis mit dem weltlichen Widerstandsrecht einging, auf dieser Grundlage doch etwas völlig Neues. Der chaotischen Vielfältigkeit des germanischen Widerstandsrechts hielt er ein fremdartiges, großes Prinzip entgegen: die päpstliche Monarchie, den unfehlbaren Spruch eines obersten

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transzendentalen Gerichts, welchem Fürsten wie Völker unterstehen. Er gab der Welt das bis dahin beispiellose Schauspiel der Absetzung eines Königs durch den Papst. Er löste die Untertanen feierlich von ihrer Gehorsamspflicht gegen den König. Das Widerstandsrecht sollte hinfort streng geregelt sein: auf den Ruf des Statthalters Christi sollten die Völker zum Kampf gegen ihre Fürsten einschwenken. Der fragwürdige Zustand, wo jeder das vom König verweigerte Recht sich selbst mit Gewalt verschafft, sollte einer höheren Ordnung weichen …”
Seite 201: „Gegenüber dieser Verwüstung des Staatsgefühls gewannen die Verteidiger des Königtums das Recht und den Mut, das Bollwerk der Monarchie zu verstärken durch eine den Germanen ursprünglich fremde Lehre von der rechtlichen Unverantwortlichkeit des Staatsoberhauptes. Die Predigt des duldenden Gehorsams war niemals in der Christenheit ausgestorben; jetzt traf sie mit den dringendsten Notwendigkeiten des staatlichen Gemeinwesens zusammen.”74b

Ich benutze gern die Belegstelle bei Kern und seine Verwendung des Begriffes „transzendental” als Bestätigung der hier entwickelten Theorie zur Kirchengeschichte des 2. Jahrtausends. Trotzdem ist eine vorsichtige Prüfung geboten. Es könnte bestritten werden, daß Kern hier den Begriff im philosophischen Vollsein gebraucht. Mit Sicherheit ist aus dem Kontext zu entnehmen, daß er eine radikale Durchbrechung des bisherigen Anschauungen an einem zentralen Punkt meint, von weittragender, nicht nur einmaliger Wirkung und Bedeutung. Es ist also mehr als eine noch so entschiedene Überschreitung des traditionellen Systems. Darauf deuten auch die erwähnten Folgen in Gestalt gedanklicher Gegenbildungen. Der Unterschied zwischen einer Sprengung des Systems und der Transzendentalität ist philosophisch gewiß groß. Die Brücke zu meiner Deutung liegt — mehr historisch als begrifflich — darin, daß Gregor VII eine gänzlich exzeptionelle, von allen Gegenrechten freie potestas beanspruchte und durchsetzte. Der umfassende Charakter dieses Anspruchs ist hier grundsätzlich mehr als die Gegenwirkung mehrerer politischer Souveränitäten mit partikularem Geltungsbereich. Universalität und Transzendentalität berühren sich hier deutlich.
Bei dieser Auslegung braucht nicht übersehen zu werden, daß diese Konzeption keineswegs umfassend und ausschließlich zur Geltung gekommen ist: die Gegenkräfte regen sich durch die Jahrhunderte hindurch überall und immer wieder. Dennoch wird an ihrem immer erneuten Mißerfolg bis zum Endpunkt des I. Vatikanischen Konzils die überragende Bedeutung dieses Schrittes, dieser Konzeption deutlich, der nichts gleich Wirksames entgegengestellt werden konnte. Das Verständnis von „Ideen” als einer Art Entelechie reicht zur Erklärung des Rätsels nicht aus, woher die Folgerichtigkeit und Durchsetzungskraft stammt, — wir nähern uns hier der Lösung dieses Rätsels.

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Die Gegenposition hat das zerstörte System nicht wiederherstellen können — diese Lage erklärt psychologisch das sich durchhaltende Element romantischer Rückerinnerung. Meine Deutung bringt weiter die Erkenntnis neu ein, daß die Denkstruktur der Transzendentalität auch von ihren ursprünglichen Gegnern übernommen und lediglich anders ausgefüllt wurde.
Ob wir nach ersten, aber deutlichen Schritten einer Peripetie im II. Vatikanischen Konzil im Übergang zu einer wesentlich neuen Epoche stehen, wird gesondert zu bedenken sein.

 

2. Die Einwirkungen des transzendentalen Kirchenrechts auf die Kirchenverfassung

Für die Darstellung und Deutung der Hauptlinien der Kirchenverfassungsgeschichte hat sich als hilfreich erwiesen, nicht nur die positiven Gestaltungen, sondern auch diejenigen Vorstellungen in Betracht zu ziehen, die nicht verwirklicht worden sind. Auf diesem methodischen Weg war es möglich, nicht nur positive, sondern auch negative Bilder zu gewinnen — photographisch ergibt erst das Negativ das Positiv. Diese Bereiche sind im Selbstverständnis der einzelnen Kirchen einerseits durch die Leerformeln einer unerfüllten Programmatik, andererseits durch verständnislose und unzulängliche Kritiken anderer Lebensformen abgedeckt und abgeblendet. Trotzdem reicht der Hinweis auf die signifikanten Ausfallerscheinungen zur Darstellung nicht aus.

Sohm hat vermocht, das Recht der Alten Kirche als System darzustellen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß hier gesagt werden, in welchem Sinne hier von System geredet wird und geredet werden darf. So wenig der Begriff der Verfassung ein schriftliches, in konkreten Normen durchgebildetes Verfassungsgesetz fordert, sondern schon mit dem Gesamtbefund einer politischen Ordnung an sich gegeben ist, so wenig bedeutet hier System einen Inbegriff von definierten und gegeneinander abgestimmten Rechtsbegriffen. Im Gegenteil hat die wissenschaftliche Rechtsgeschichte längst erkannt, daß jede Rechtsordnung, gerade auch eine solche vorrationaler Art, den Charakter des Systems trägt. Rechtsordnungen beruhen auf gewissen tragenden Grundvoraussetzungen, deren Verständnis uns zugänglich ist. Von einem solchen Grundverständnis aus kann unter Einrechnung überall auftretender Zufälligkeiten und Inkonvenienzen der Großteil der positiven Erscheinungen als Sinneinheit begriffen werden. Nur muß man darauf verzichten anzunehmen, daß unsere Logik und unsere Wertmaßstäbe diejenigen dieser Ordnung seien. Man muß die Relativierung der Geisteshaltung in Kauf nehmen, ohne welche Geschichte nicht verständlich ist. Dies wird heute durch das Vordringen der Dogmatik eines absoluten (Geschichts-)Wissens unmöglich. Damit gehen schon erschlossene Verständnishorizonte wieder verloren.

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Inhaltlich gesehen war das Recht der Alten Kirche ein offenes System, wie speziell an dem Prinzip der Rezeption, allgemein an der Grundlage im Geistglauben und Geistbegriff ersichtlich ist. Dies vorangesetzt liegt jedoch dieser Gesamtentwurf auf einer Ebene. In jenem begrenzten Sinne kann sehr wohl von System gesprochen werden. In der erwähnten Laudatio Sohms geht es nicht nur um die rühmenswerte Fähigkeit Gratians, einen so ungeheuren Stoff geistig zu durchdringen und zur Einheit zu bringen. Dieser Stoff muß selbst dieser Einheit fähig sein und sie in sich enthalten. Sohms eigene größte Leistung besteht gerade darin, über einzelne Bemühungen zur Erforschung und Deutung hinaus den inneren Gesamtsinn des Rechts der alten Kirche unserem Verständnis erschlossen zu haben.

Im Gegensatz zu diesem auf einer Ebene liegenden System des Recht der Alten Kirche erweist sich das rationale Kirchenrechtssystem des scholastischen Neukatholizismus als mehrschichtig und in dieser Mehrschichtigkeit sogar in hohem Maße als widersprüchlich. Die hohe Rationalität seiner Begriffe hat keineswegs dazu ausgereicht, diese Widersprüche zu überwinden oder zu vermitteln. Im Gegenteil kann man diesen Gesamtentwurf nur durch die Unterscheidung verschiedener Rechtskreise verständlich machen.

Der erste Rechtskreis ist der Inbegriff der Rechtsinstitute, welche überhaupt nur unter den Voraussetzungen des transzendentalen Kirchenrechts entstehen konnten und verständlich sind. Dies sind der päpstliche Primat in dem seither möglichen Vollsinne, das Kardinalskollegium und die Kurie. Der grundsätzlich neue Charakter dieses Rechtskreises wird erst an der Entstehung und den Grundlagen des Kardinalskollegiums, einer originalen Schöpfung, eindeutig klar. Wir verdanken Klewitz eine zusammenfassende Darstellung des Forschungsstandes.75 Er zeigt, daß das Kardinalat entstanden ist aus den viermal sieben cardinales hebdomadarii, d.h. den Priestern, die an den vier römischen Hauptbasiliken, jeder an einem Wochentage den Gottesdienst zu versehen hatten, und nunmehr den Grundbestand des Senats der Kirche als Ratskollegium bildeten. So ist der Übergang aus der liturgischen Hierarchie in die Jurisdiktionshierarchie, über den noch gesondert zu handeln ist, hier vollkommen deutlich. Zu diesen 28 Kardinalen kamen dann weitere Presbyter der römischen Gemeinde als Inhaber historischer Titelkirchen, ferner die sieben suburbikarischen Bischöfe und zweimal sieben Diakone als Verwalter kirchlicher Anstalten in den sieben historischen Stadtregionen Roms hinzu. Jahrhunderte hindurch ist die Zahl der Kardinäle relativ gering gewesen; nicht alle Träger solcher Ämter sind in den Rat wirklich einbezogen worden. Aus rein äußeren Gründen hat dann Leo X. in der ersten großen Kreation von 1517 die Zahl ausgeweitet, bis Sixtus V. 1586, also relativ spät, die symbolische Zahl von 70 Mitgliedern festlegte.

Die Kardinäle aber sind creaturae papae. Sie sind also nicht aus der

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Hierarchie hervorgewachsen, primär mit ihr nicht verbunden, sondern eine Institution aus eigener Wurzel. Jeder Laie kann unmittelbar zum Kardinal ernannt werden — wie der große Contarini im 16. Jahrhundert. Sie haben als solche keinen Ordo und sind nur rangmäßig-protokollarisch der Hierarchie vorgeordnet. An der Konzeption ändert das nichts: die creaturae papae allein können den Papst wählen — das transzendentale System ist in sich geschlossen.

Das Amt des Papstes ist selbst die Bedingung der Möglichkeit für alle Legitimität in der Kirche. Es wird aber fortgepflanzt durch Amtsträger, deren Legitimation ausschließlich auf seiner Berufung, nicht aber auf ihrer Dignität im Gefüge der Kirche, vor allem nicht auf der Repräsentation bestimmter Diözesen und Kirchenverbände beruht.

Dabei ist mit Sorgfalt darauf geachtet worden, diese eigenständige Bildung in einer doppelten Weise mit dem Traditionsgefüge der Kirche zu verbinden. Nach wie vor war und ist bis heute die Papstwahl eine Sache der römischen Gemeinde als Vorort, keine Sache der universalen Kirche in corpore. Zu diesem Zwecke wurden und werden die Kardinalpresbyter und -diakone Kardinäle durch die Verleihung von Titelkirchen in die römische Stadtgemeinde integriert. Die zweite Verbindung besteht darin, daß sie alle verpflichtet sind, die Priesterweihe zu nehmen, obwohl ihre Ernennung davon nicht abhängig ist. Um die Differenz zwischen der Würde des Kardinalats und den hierarchischen Rängen zu überbrücken, hat erst Johannes XXIII. verfügt, daß alle Kardinäle zu Bischöfen zu konsekrieren seien und diesen Bischöfen zugleich grundsätzlich den Rang eines Erzbischofs verliehen. So wurde vermieden, daß ein Kardinal womöglich an hierarchischem Rang irgendeinem residierenden Bischof nachstand. Jahrhunderte hindurch aber hat man daran keinen Anstoß genommen. Diese Verknüpfungen haben keinen dekorativen Charakter; sie haben vielmehr den verfassungsrechtlichen Sinn, die Spannungen in der Mehrgliedrigkeit der Kirchenverfassung durch ein Höchstmaß sichtbarer Angleichung, vor allem aber auch durch den Anschluß an die altkirchliche Tradition und den hierarchischen Aufbau der Kirche unschädlich zu machen und im praktischen Leben zu entschärfen. Auch daß die Stellung der suburbikarischen Bischöfe bewahrt wurde, zeigt die gleiche Tendenz. Denn in der Mitwirkung der Nachbarbischöfe, insbesondere bei der Konsekration, wird der für die alte Kirchenverfassung grundlegende Canon IV des Konzils von Nicaea I festgehalten. Es sind also alle drei ordines maiores repräsentiert. Freilich zeigen sich heute auch hier Umbildungen. Denn trotz der Kleinheit der suburbikarischen Diözesen sind die Kardinal-Bischöfe selbst heute nur noch Titularbischöfe dieser Diözesen. Die Kardinäle sind die nur nominell, dem Titel nach übriggebliebenen privilegierten Vorwählet der römischen Gemeinde, nachdem diese endgültig 1179 das Bischofswahlrecht verloren hatte. Jahrhunderte hindurch sind nur verhältnismäßig wenige auswärtige Geistliche zu Kardinälen erhoben

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worden. So wenig wie die römischen Kardinäle die römische Gemeinde, so wenig repräsentierte einer von diesen „Ultramontanen” seine Diözese oder sein Kirchengebiet. Dies war höchstens sekundär. Sie wurden ad personam ernannt und die geringe Zahl der Ernennungen machte dies noch besonders deutlich.

Nicht die Kirchengebiete, die Nationen und Provinzen haben Berücksichtigung gefunden, sondern die katholischen Fürsten haben im staatspolitischen wie im kirchenpolitischen Interesse den Päpsten die Aufnahme ihnen genehmer Männer in das Heilige Kollegium abgenötigt. Bis in die Gegenwart haben die Kronkardinäle ihre Funktion ausgeübt, letztmalig in der Exklusive des Kardinals von Krakau Pucyna gegen die der österreichischen Monarchie unerwünschte Wahl Rampollas (1903).

So wird der seltsame Widerspruch deutlich, daß gerade nicht das Eigengefüge der Kirche, sondern das politische Interesse der Mächte der faktischen Substruktur der Kirche wenigstens einigermaßen zur Berücksichtigung verholfen hat; daß nicht das kirchliche Recht der christlichen Völker, des Laientums, sondern die säkulare Macht dem laos tou theou noch eine gewisse Vertretung verschafft hat.

Daß die politische Mächte, die gutkatholischen Fürsten, sich im Gefüge der Kirche bemerkbar gemacht haben, erinnert an die Tatsache, daß das Kirchenvolk keine aktive Rechtsposition und Repräsentation mehr besaß. Dies entspricht relativ bald der schon Ende des 13. Jahrhunderts bis zu gehässigen Formeln gesteigerten Antithese von Klerus und Volk, welch letzteres immer weniger in innerkirchlichen Rechtsformen, immer mehr durch die weltliche Macht christlicher Fürsten sein Recht in der Kirche fand.

In der neueren Zeit hat sich, ohne rechtliche Verbindlichkeit die Übung durchgesetzt, eine größere Zahl von Metropoliten zu Kardinälen zu machen, nach der Aufhebung der zahlenmäßigen Begrenzung in noch vermehrtem Maß. Pius XII. wird die Äußerung zugeschrieben, man solle das Kollegium überhaupt auf residierende Bischöfe beschränken, da die Kursälen ohnehin genug Einfluß hätten. Nach wie vor aber sind alle Veränderungen einschließlich dieser sogenannten Internationalisierung ohne rechtliche Konsequenz und Bedeutung.

Damit drängen andere Rechtsgedanken hervor. Der eine ist derjenige der Repräsentation. Die Vermehrung der Kardinäle entspricht der großen missionarischen Ausbreitung der Kirche in der Dritten Welt und enthält das Element der Repräsentation, das sich auch deutlich in der Wahrung gewisser Proportionen ausdrückt. Die Strukturform ist jedoch nach wie vor die transzendentale.

Sodann wird der Gedanke der Bischofsgemeinschaft neu lebendig, also ein Element der Identität, welches die vertikale form der Jurisdiktionshierarchie nicht enthält. Beide werden jedoch bisher in der Rahmenform gehalten, welche das Kardinalat darbietet. Wie ein konstruktiver

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Ausgleich zwischen jenen drei Rechtsgedanken und Formgruppen hergestellt werden soll, ist bisher nicht erkennbar.

Nunmehr ist die Frage des Papstwahlrechts selbst zum Gegenstand der Erörterung geworden. Wer aber wäre dazu legitimiert — die Metropoliten, alle Ordinarien, alle Träger des bischöflichen ordo oder womöglich eine gewählte Repräsentanz aller Diözesen oder umgekehrt wieder begrenztere Wahlkörper, wie sich heute etwa die Bischofssynode darstellt? Was einer Lösung entgegensteht, ist der Mangel jedes zwingend begründeten Grundsatzes. Es würde eine Verweisung der Papstwahl an das ökumenische Konzil sich noch am unmittelbarsten an die Verfassungstradition der Kirche von ihren frühesten Zeiten anschließen. Aber gerade hier wird der Widerspruch deutlich. Das ökumenische Konzil seit Nicaea I 325 besaß und besitzt die unbestrittene Kompetenz zur Formulierung dogmatischer Grundsätze und disziplinärer Regeln. Niemals aber ist diese Bischofsversammlung der Wahlkörper für ein zu wählenden Oberhaupt der Kirche gewesen. Denn diese Kirche konnte nach ihrer Struktur und ihrem Selbstverständnis gar kein Oberhaupt haben. Sie war kein transpersonales Subjekt, welches durch ein solches Oberhaupt hätte repräsentiert werden können. Die Oberhäupter der Kirche, die Patriarchen, wurden nach altem Recht von ihren Ortsgemeinden einschließlich des Klerus gewählt.

Als sich aber die lateinische Kirche ein Oberhaupt gab, welches über seinen Rang als Patriarch des Westens hinaus universalkirchliche Bedeutung beanspruchte, verband sie seine Rechtspersonalität mit derjenigen der Kirche als solcher und fand ihren Grund in der Transzendentalität der Gesamtjurisdiktion. Dieser aber ist ihrem Begriffe nach von jeder Substruktur unabhängig. Das wäre ein Widerspruch im System. Unüberbietbar ist diese Einsicht durch das I. Vaticanum formuliert worden, welches zu Unrecht unter dem Gesichtspunkt der Machtverteilung, einer beschränkten oder unbeschränkten Kompetenz eines der Kirche immanenten Amtes betrachtet worden ist und von der Transzendentalität des Amtes her verstanden werden muß.

Diesem geschlossenen Kreis von Institutionen des transzendentalen Kirchenrechts steht nun ein zweiter Rechtskreis gegenüber, in dem die historische Tradition des alten Kirchenrechts mit Sorgfalt aufbewahrt ist. Es sind die Bereiche der potestas ordinaria der Diözesanbischöfe. Hier jedoch wird die eigentümliche selektive und zugleich auflösende Wirkung des neuen transzendentalen auf das alte epikletische Kirchenrecht sichtbar. Es ist so, als ob man aus einem alten Gewebe den Schuß herausnähme, aber die Kette festhielte. Die mehr oder minder folgerichtige Zerstörung aller Querverbindungen, die Zurückdrängung der Kollegialität, der partikularen Gemeinsamkeiten, der synodalen Formen und Verbände ist schon bei der Beschreibung des „Negativs” hervorgetreten. Dies ist nur sehr schrittweise, ohne eigentlichen Plan mit erheblicher innerer

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Konsequenz, aber wiederum auch nicht vollständig geschehen. In den verschiedensten Hinsichten sind überall Restbestände des alten Kirchenrechts unvermittelt stehen geblieben. Unzweifelhaft jedoch würde auch die römische Kirche ihre eigene Legitimität verlieren und verletzen, wenn sie nicht die Doppelheit des alten bischöflichen und des neuen päpstlichen Rechts durchhielte. Dadurch entsteht aber das seltsame Mißverhältnis daß ein historisch später entstandenes Institut sich rechtlich und formallogisch als die Voraussetzung eines früher entstandenen versteht. Die Rückwärtsprojektion der erst im 12./13. Jahrhundert entstandenen, erst jetzt prinzipiell zu begründenden Institutionen in die Grundlage, in früheste Zeiten, erweist sich je länger je mehr als die Crux der katholischen Kirchenrechtslehre, die sich auf diese Weise selbst geschichtliche nicht schlüssig zu verstehen vermag.

Zu jenen beiden Rechtskreisen muß man dann einen dritten nennen. Es ist der Gesamtbestand der Institutionen und Rechtsformen, die weder spezifisch mit dem zentralen Ansatz des transzendentalen Kirchenrechts noch organisch mit der ordentlichen Kirchenverfassung in Verbindung zu bringen und abzustimmen sind. Sie bilden einen schwer überschaubaren und vielfach widersprüchlichen Komplex, eine unübersehbare Fülle von Aktivitäten und Einrichtungen. Da sie aber alle der kirchenrechtlichen Legitimation bedürfen, so lassen sie sich — unbeschadet ihrer gewissen Zufälligkeit — wenigstens in solche des päpstlichen wie solche des bischöflichen Rechts aufteilen. Charakteristisch jedoch für diese Institute ist, daß sie weder die notwendige Folge des einen noch der integrierte Bestandteil des anderen Bereichs sind. Sie sind also auch nicht identisch mit den der modernen Welt angehörigen funktionalen Formen der Organisation und Administration, deren sich wohl eine zentrale Kirchenleitung wie die bischöfliche Führung der Diözesen unvermeidlich bedienen muß. Deren Struktur und Eigentendenz sind ein Gegenstand für sich.

 

3. Die Sakramente im System des transzendentalen Kirchenrechts

Die vorangehenden Erwägungen legen die Prüfung der Frage nahe, in welcher Weise die Umbildung des epikletischen in das transzendentale Kirchenrecht sich im Sakramentsrecht ausgewirkt hat. Die Entstehung des Systems der sieben Sakramente ist bereits im Bd. I, Kap. VII, dargestellt worden. Darauf kann verwiesen werden. Die endliche Gestalt dieser Lehre parallelisierte die sieben Sakramente, auf welche durchgehend das Schema von Form und Materie angewendet wurde. Freilich ist es bis heute niemals gelungen, diese gedankliche Form mit gleicher Schlüssigkeit auf alle gemeinten Tatbestände und Vollzüge anzuwenden. Daher habe ich in Band I, Kap. VII/3 versucht, das Problem in einer anderen Form, durch die Einführung des Begriffs „sacramentum spiritus sancti” zu lösen. Jedenfalls entstand so eine neue besondere Stellung dieser ausgegrenzten

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Formen. Während die allgemeine Sakramentalität der Kirche zurücktrat, wurden auf der anderen Seite die Sakramentalien als Bereiche geringerer Bedeutung nachgeordnet. Dadurch gewann jenes System eine ausgezeichnete Stellung, die als solche, gerade durch die konsequent analogische Interpretation die Merkmale der schon früher erörterten Objektivation zeigt. Sie erscheinen wie Münzen verschiedenen Wertes und verschiedener Prägung im gleichen Währungssystem.

Tatsächlich sind jedoch die Einwirkungen des Verfassungsumbruchs auf diesem Felde außerordentlich verschieden. Völlig unberührt geblieben ist das Taufrecht. Durch die schon früher in ihrer grundsätzlichen, weittragenden Bedeutung erörterte (Band I, Kap. V) Ketzertauf-Entscheidung des 7. Jahrhunderts waren die Stellung der Taufe und die wesentlichen Elemente des Taufrechts so klargestellt, daß sich für eine Umbildung und Umdeutung kein Anknüpfungspunkt ergab. Im Gegenteil ist dieser altkirchliche Tatbestand wie ein Fels aus Urzeiten durch alle Epochen erhalten geblieben und bildet heute den Eckstein ökumenischer Gemeinsamkeit. Das Taufrecht gehört dem allgemeinen Kirchenrecht an,76 nicht der historisch-partikularen Gestaltung des Neu-Katholizismus. Im Gegensatz dazu zeigen Eucharistie und Ordo, d.h. die für das unmittelbare Leben der Kirche ständig wichtigsten Vollzüge die schon früher dargestellten Merkmale der Objektivierung in den Lehren von Transsubstantiation und character indelebilis. Die Hinweise haben sich schon passim ergeben.

Ich übergehe des Weiteren die Firmung und die letzte Ölung. Die Stellung und Struktur dieser Sakramente würde für unsere Frage weitere komplizierte Erwägungen erfordern, ohne daß charakteristische Ergebnisse zu erwarten wären. Sie können daher beiseite gelassen werden.

Von hervorragender Wichtigkeit für unser Thema sind jedoch das Bußsakrament und die Ehe. Schon bei der Entwicklung des transzendentalen Ansatzes für diese neue Epoche trat die Tatsache hervor, daß das Bußsakrament im Gegensatz zur Bußdisziplin der Alten Kirche eine völlig veränderte Bedeutung und Stellung gewinnen mußte. Das geschichtliche Verhältnis zwischen der Bußdisziplin der alten und dem Bußsakrament der scholastischen Kirche ist in thematischer Begrenzung schon in Kap. XI behandelt worden. Die jetzige Erwägung geht darüber hinaus. Auch für dieses Sakrament gilt die relative Unabwendbarkeit des scholastischen Grundschemas. Um so wichtiger ist seine veränderte Stellung im System. Es wird jetzt — unbeschadet der Taufe — dem Gesamtgeschehen der Kirche in ständiger Wiederholung vorgeordnet. Es ist nicht klerikal; denn auch jeder Priester ist ihm unterworfen. Gleichwohl ist es wiederum im Vollzug streng an den Ordo gebunden. Erst in dieser Zeit und in Konsequenz der neuen Verfassung wird die Laienabsolution endgültig ausgeschlossen. Diese Vorschaltung wird über das allgemeine Prinzip der Transzendentalität hinaus zum konkreten Weg der immer erneuten Konstitution

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der Kirche und des Christen, zur immer erneuten Legitimation zu Handeln und empfangen. Damit aber löst sich die Gleichstellung der Sakramente, die formal im System der sieben Sakramente vorausgesetzt wird, von der Sache her auf. Ebenso wie die Taufe bis heute mit Recht als janua unwiederholbar vor allem steht, steht nunmehr ein wiederholbarer und notwendig zu wiederholender Vollzug immer erneut am Anfang — er bedingt und umklammert sie alle mit Ausnahme der vorausgesetzten Taufe. Denn das Bußsakrament liegt innerhalb der Kirche. Auf die Folgerungen, die sich aus dieser Entwicklung für die Verhältnisbestimmung von Taufe und Buße im Entwurf der lutherischen Theologie ergeben, wird noch einzugehen sein; die Frage muß aber schon jetzt als Horizont angedeutet werden. Indem aber im scholastischen System dieser Vollzug als richterlicher Akt seinerseits an die Qualifikation zum Richteramt, an den Ordo, gebunden und die laikale Verwaltung aus dieser Gerichtsverfassung ausgeschlossen wird, ergibt sich nunmehr für den Christen eine Art dreifacher Durchgang, wie die hintereinander gestaffelten Torbogen romanischer und gotischer Kirchen. Das erste Tor ist die Taufe, das zweite die Buße und das dritte in dialektischer Verschlingung mit dem zweiten der Ordo, der allein den Eintritt durch die enge Pforte zu ermöglichen vermag. Auf diese Weise wird nun auch noch der Ordo aus dem einheitlichen System der Vollzüge, wenn man so sagen soll, herausgehebelt und herausgezogen.

Heute verschiebt sich deutlich das Gefüge. Von Neuem tritt der solange Zeit relativ unbetonte Gedanke der allgemeinen Sakramentalität der Kirche hervor, während das logisch fragwürdige scholastisch-spekulative Schema der sieben Sakramente zugunsten einer deutlichen Differenzierung von Bedeutung und Wertung der einzelnen Sakramente sich auflöst. Freilich hat die Kirche die unterschiedliche Lebensbedeutung der einzelnen Sakramente nie völlig verkennen können, während ihr der zurückgetretene Gedanke der allgemeinen Sakramentalität noch zum Hilfsmittel diente, um diese herausgezogenen Vollzüge auf einer Ebene des Verständnisses und der Wertung zu halten.

Eine erstaunliche Bedeutung zeit nun das sacramentum laicorum, die Ehe. In den umfassenden rechts- und kirchengeschichtlichen Forschungen, die der Streit um die obligatorische Zivilehe schon vor 100 Jahren veranlasst hat und die anfangs der 50er Jahre in der Familienrechtskommision der EKD wieder aufgenommen wurden, spielte der eigentümliche Bruch eine hervorragende Rolle, der durch die Übernahme des Konsensprinzips für die Eheschließung im 12./13. Jahrhundert eingetreten ist.

Jedoch wurde diese Frage ausschließlich als eine solche des weltlichen und kirchlichen Eheschließungsrechtes verstanden. Dies war nur zu begreiflich, weil sich daran für die nächsten Jahrhunderte, einschließlich der altprotestantischen Orthodoxie, die komplizierte und unglückliche Mischbildung der Sponsalienlehre angeschlossen hat. Diese führte

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praktische Schwierigkeiten wie geschichtliche Konflikte im Reformationszeitalter sowohl im Bereich der Kirche wie im Verhältnis zwischen Kirche und den weltlichen Regimenten herbei. Die Konzentration des Interesses auf diese folgenreichen Entwicklungen hat aber dazu geführt, diese Entscheidung zu isolieren und sie nicht im systematischen Zusammenhang der allgemeinen kirchenrechtlichen Entwicklung zu begreifen. Dabei mußte es unverständlich sein, daß unter völligem Bruch mit der bisherigen Rechtsentwicklung und ohne sichtbaren Anlaß, außerdem durch eine völlige Verkennung und Umkehrung des römischen Konsensprinzips eine so extreme Maßnahme erwogen und beschlossen werden konnte.77 Tatsächlich zeigt jedoch dieser für sich allein unverständliche Vorgang eine hohe innere Konsequenz. Unter den Voraussetzungen des transzendentalen Kirchenrechts mußte das handelnde Subjekt im Bereich dieses wie jeden anderen Sakraments — mit Kant gesprochen — „frei von allen äußeren Bestimmungsgründen” sein. Die Ausbildung des Rechtssubjektivität der Kirche, repräsentiert durch ein Oberhaupt als vicarius Christi, eine bisher unbekannte Gedankenbildung hatte zur zwingenden Parallele die Ausbildung einer ebenso radikal theologisch fundierten Rechtssubjektivität des einzelnen Christen. Diese Frage trat im Durchgang des einzelnen Christen durch das Tor der Buße, durch das Torgericht des Neuen Bundes noch nicht mit der gleichen sichtbaren Stringent hervor, wie gerade im Bereich der Ehe. Dort war er der freizusprechende Gerichtsunterworfene. Hier bedeutete die Freistellung von allen traditionellen Mitwirkungsrechten der Eltern und der Sippe die theologische Entmächtigung des gesamten historisch-genealogischen Zusammenhangs, der Urwurzeln des gesamten sozialen Gefüges, die die neutestamentliche Überlieferung in Gestalt der Wurzel Jesse selbst für die Person Jesu mit Sorgfalt gehegt und bewahrt hat. Auf alle Fälle entsprach beides einander: der Papst als radikal Einzelner und der einzelne Christ, dem aus der Entmächtigung der Sippe eine völlig neue umfassende Ermächtigung zuwuchs, diejenige nämlich, so entscheidende Akte losgelöst von jodier geschichtliche erwachsenen und gegenwärtigen Öffentlichkeit, von jeder sichtbaren Verbindlichkeit ohne Zeugen hinter Hecken und Zäunen wirksam zu vollziehen. Die Kirche schnitt damit entgegen allen Machttendenzen, die ihr die Kritik denunziatorisch so gern unterschiebt, ihrem eigenen Einfluß wie demjenigen der weltlichen Öffentlichkeit jeden legitimen Zugang ab. Die verständlichen, gut gemeinten Ermahnungen, diese Freiheit doch nur in facie ecclesiae zu gebrauchen, mußten wegen ihrer rechtlichen Bedeutungslosigkeit ohne Wirkung bleiben. Vollends hat die Kirche vermieden, selbst unter formaler Wahrung des Konsensprinzips die Wirksamkeit des Konsenses wegen seiner Sakramentalität konstitutiv an die kirchliche Öffentlichkeit zu binden. Denn dies hätte sie in die Nähe derjenigen Auffassungen geführt, die völlig entgegengesetzt im Bereich der orientalischen Kirche zu einer Verbindung von Kirche und

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Ehebegründung geführt haben: wie in Kap. IX dargelegt, ist eben dies in voller Gegenläufigkeit die Differenz zwischen Osten und Westen. Man hat also eminente praktische Schwierigkeiten nicht um den Preis einer dogmatischen Abweichung oder Unklarheit zu vermeiden versucht.

Der Systemcharakter dieser Entscheidung wird nunmehr aber darin deutlich, daß gleichzeitig Begriff und Inhalte der Ehe objektiviert wurden. Hier ergibt sich wiederum ein doppelter Tatbestand. Die Objektivierung in demselben Sinne, wie wir sie bei Eucharistie und Ordo verzeichneten, stellt sich hier in der Vorstellung eines unzerreißbaren quasi-metaphysischen Ehebandes dar. Dieser Objektivierung jedoch entspricht zugleich die Vereinzelung und Vergegenständlichung der Vollzüge, die als Ehezwecke je für sich definiert und in der Beichtdisziplin dann beurteilter und kontrollierbar wurden. Vermöge dieser Aufspaltung der Einzelmerkmale trat ihr innerer Zusammenhang, zugleich im Gegensatz zum Sakramentsbegriff selbst der kommunikatorische Charakter der Ehe als Lebensgemeinschaft tendenziell zurück. Die Folgen dieser Theorie und Praxis haben bis heute die Gläubigen der lateinischen Kirche zu tragen gehabt. Sie spiegeln sich noch in den Beschwerden der Laien an die Adresse des II. Vatikanischen Konzils wider. Dieser Objektivierung in Einzelzwecken, deren Begrifflichkeit sich noch fast wortgetreu in der Ehedefinition des aufgeklärten Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 wiederfindet,78 entspricht zugleich die sich auch dort vorfindende Finalisierung, die Unterwerfung der Vollzüge und des ganzen Lebensverhältnisses unter das Mittel-Zweck-Verhältnis, welches sich schon in dem verhängnisvollen Generalbegriff der Gnadenmittel ankündigt und abzeichnet.

Das dritte Systemmerkmal ist dann aber die Aufhebung des Widerspruchs zwischen extremer Individualisierung auf der einen, Unterwerfung unter vorgegebene Zweckvorstellungen und ontologische Seinsaussagen auf der anderen Seite durch eine außerordentliche spiritualistische Überhöhung. Im Gegensatz zu den sorgfältig eingegrenzten Basisaussagen des Apostels Paulus, der zurückhaltenden Umschreibungen von Ambrosius bis Petrus Lombardus, bildet sich nunmehr ein mystischer Gesamthorizont, in dem Ehe und Kirche in einer umfassenden Idealität und Überhöhung zusammengedacht werden.

Noch einmal zeigt sich also hier die schon im vorigen Kapitel dargestellte, mit großer innerer Folgerichtigkeit durchgehaltene Dialektik und wechselseitige Erzeugung radikaler Subjektivität und Objektivität, nunmehr aber zusammen mit einem überhöhenden dritten Element, durch das erst das Kirchenverständnis und die ekklesiologische Spekulation in ihrer Folgerichtigkeit und Notwendigkeit ins Licht tritt. Nicht umsonst ist also das sacramentum laicorum dem sacramentum ordinis kontrapunktisch gegenübergestellt worden. Der traditionelle Vergleich zwischen ordo und Ehe erweist sich als folgerichtig und weittragend. Was die Übernahme des Konsensprinzips in weltlich-naturalen Zusammenhängen der Genealogie

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und der Geschichte an Rang und Bedeutung abschnitt, erstattete die Kirche in ihrem eigenen Raume der Ehe und damit auch der angeblich von ihr verdrängten Sexualität zurück.

Die heutige Umbildung des Sexualverhaltens zeigt die gleiche soziologische Struktur eines kritisch-dogmatischen Rationalismus:
a) Freisetzung einer radikalen Subjektivität von allen sozialen und institutionellen Bindungen
b) Isolierung und Vergegenständlichung der Einzelvollzüge
c) Überhöhung der Sexualität in einem mystischen Horizont umfassender Lebenserfüllung.

Diese drei, voneinander abzuhebenden, aber zugleich zusammengehörigen Elemente bilden das soziologische System diese Rationalismus. Es zeigt sich im Kirchenbegriff — Individualisierung, Objektivierung und ein Horizont emphatischer Aussagen und Erwartungen. Es kehrt wieder im Spiegelbild von kirchlichen Eherecht und dogmatischer Ehelehre, und es erweist sich heute auf dem letzteren Gebiet in durchgreifender Säkularität mit religiöser Substruktur.

Die soziologische Struktur des kritischen Bewußtseins und seiner Hervorbringungen ist bisher unerörtert und muß für alle weiteren und zukunftsbezogenen Fragen als Thema und Erkenntnismittel festgehalten werden.

Aber weder eine affirmative noch eine kritische Ekklesiologie, weder die spezielle säkulare Kirchenkritik noch die allgemeine Sozialtheorie sind daran interessiert, die Soziologie des kritischen Bewußtseins zu erhellen, dieses damit zu hinterfragen und zu begrenzen. Darin besteht eine spontane Übereinstimmung und objektive Verwandtschaft bei gegensätzlichen Motiven. Aber einmal formuliert, kann dieses Problem nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Die Kirchenrechtslehre erweist ihre Bedeutung, indem sie darauf zuführt.79