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Exkurs III zu Kapitel II

Die vier bekenntnismäßigen Merkmale der Kirche

Im Text des nicaenischen Glaubensbekenntnisses fehlen die Aussagen über die Kirche und die Eschatologie, die wir gemeinhin im sogenannten dritten Artikel zusammenfassen. Jedoch endet der Text mit dem Anathema durch die „catholica et apostolisch ecclesia”. Dieser Doppeltitel ist offensichtlich eine schon stehende und anerkannte Formulierung. Erst der Text des erweiterten nicaenischen, des sog. konstantinopolitanischen Bekenntnisses enthält zusammengefaßt die vier Titel der Kirche als der „una, sancta, catholica et apostolica”.

Die beiden paarweise zusammengehörigen Aussagen sind also unterschiedlich entstanden; sie stehen nicht von vornherein auf einer Ebene und haben einen unterschiedlichen Stellenwert. Die Verbindung von catholica und apostolica ist eine Selbstqualifikation der Kirche, deren Repräsentanten wie vorangehende Konzilien diese formuliert haben. Das una — sancta dagegen ist eine strikt dogmatische Aussage, die hier erstmalig in einem Bekenntnistext erscheint.

Diese nunmehr auf eine Ebene gebrachten Titel sind nicht je für sich im ausschließenden Sinne zu verstehen. Die Begriffe stehen zwar nicht austauschbar nebeneinander, so daß der Sinn der Aussage durch zwei gleichwertige Begriffe (hen dia dyoin) ausgedrückt würde. Jeder Begriff hat seinen Eigenwert, der aber bis zu einem gewissen Grade in den Sinnbereich des anderen mit hinüberwirkt oder auf ihn verweist.

a) una
Die Kirche versteht sich als eine in einem doppelten Sinne: Sie ist einzigartig, unica, Singulars, so wie auch das „unum” baptisma der paulinischen Theologie in den dogmatischen Aussagen zur Taufe als einzige und damit unwiederholbare begriffen und verstanden wird. Die Kirche begreift sich ebenso als eine geschichtliche singuläre Erscheinung. Dem entspricht die Tatsache, daß auch religionssoziologisch die Kirche nicht den Anwendungsfall eines typologischen Oberbegriffs darstellt. Auch die auf Stifter zurückführenden Offenbarungsreligionen haben keinen allgemeinen Verbandstypus hervorgebracht, dessen speziellere Anwendung oder der umgekehrt allgemein als Kirche bezeichnet werden könnte. Das Judentum hat die Synagoge, der Islam konfessionsähnlich unterschiedene Glaubensgemeinschaften, die regelmäßig auf einen mit dem Propheten genealogisch verbundenen Stifter zurückgehen, aber nirgends ist Kirche. Auf der anderen Seite gibt es zwar säkularisierte Ideologieverbände, die gewisse soziologische Verwandtschaften mit der Kirche aufweisen. Aber sie sind deutlich sekundäre Bildungen, Ableitungen und Analogien. Sie beruhen insoweit auf dem geistesgeschichtlichen Zusammenhange, nicht auf der Gemeinschaft eines Oberbegriffs.

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Noch nicht einmal subjektiv ist der Kirchenbegriff grundsätzlich mißbraucht worden. Überall dort, wo es nicht mehr um die geistliche Hinterlassenschaft Jesu Christi geht, verliert sich der Kirchenbegriff sehr bald von allein. Schon bei den Unitariern tritt der Kirchenbegriff zurück. Es ist gerade das inkarantorische Moment, welches Person und Wirksamkeit Christi in einer einzigartigen und charakteristischen Weise mit der historischen Kirche und der Historizität der Kirche verbindet. Naturgemäß verbürgt die Inanspruchnahme des Kirchenbegriffs wiederum noch nicht deren Legitimität.
Mit der „una” ist auch die Einheit ausgesagt. Diese kann entweder in einer spezifischen, sichtbaren Form mit dem ausschließlichen Anspruch auf Legitimität vertreten oder aber in die außerrechtliche Spiritualität abgedrängt werden. Auch in dieser Spiritualität ist unter Infragestellung eindeutiger Abgrenzung die positive Sichtbarkeit immanent eingeschlossen. Gerade die ecclesia permixta, d.h. diejenige, die auf die Differenz zwischen der wahren Kirche der Gläubigen, und der aus wahren und Schein-Gläubigen unscheinbar zusammengesetzten Kirche blickt, ist notwendig sichtbar, und die Sichtbarkeit ist unverzichtbar. Diese Einheit ist eine pneumatische, in der Kraft der Verheißung ständiger Geistesgemeinschaft durchhaltende Gemeinschaft. Sie ist zugleich gegenüber entstandenen Trennungen verpflichtend aufgegeben. Diese aufgegebene Einheit kann nicht als praktisch-historisch irreal preisgegeben werden. Im Gegenteil stellen beide, die vorgegebene wie die aufgegebene Einheit Recht und Legitimität jeder Partikularkirche, jeder Gemeinde und jeder besonderen Dienstgemeinschaft kritisch in Frage und begrenzen sie. Sie können nicht ihre Eigenständigkeit als nicht mehr hinterfragbare Höchstform betrachten und die Einheit als bloßes Postulat beiseitelassen. Sie würde mit einem solchen Souveränitätsanspruch das innerweltliche Gesetz der Selbsterhaltung in Anspruch nehmen. Es gibt auch einen Rechtsmißbrauch im Kirchenrecht, und dies wäre ein solcher.

b) Bezeichnet also die „una” die geschichtliche Kirche, so die „sancta” einen dem entgegengesetzten, sich manifestierenden, aber institutionell nicht fassbaren Tatbestand. Es drängt immer wieder hervor, macht sich bemerkbar, kann aber in seiner Stämmigkeit nicht aufgewiesen werden. Es ist die ständige Hilfe und Beiwohnung des Geistes, welche sowohl erlaubt, sich im Geiste zu erkennen, als auch immer von neuem konkrete Geistbegabungen hervorruft. Ohne das Vertrauen darauf und die Bereitschaft auf solche Zeichen zu achten, wird die Kirche verarmen. Was nicht erbeten und erwartet wird, zieht sich zurück, um kritisch wieder hervorzubrechen. Daher ist, entgegen dem Augenschein, dieses Prädikat festzuhalten. Die Dialektik des Verhältnisses zwischen Geistwirksamkeit und Geistglauben, zwischen Verborgenheit wie Offenheit des Heiligen ist konstitutiv.

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c) Beide Aussagen zusammen aber liegen auf einer höheren Ebene als der darauf folgende ältere Doppeltitel. Nicht von ungefähr ist hier die catholica der apostolica vorangestellt. Es ist damit das Mißverständnis vermieden, die catholica deduktiv aus eine Art Folgeerscheinung der apostolica, der Apostolizität erscheinen zu lassen. So gewiß die Kirche nach dem Worte der Schrift auf dem Grund der Apostel und Propheten beruht, so ist sie doch vorweg im Vollsinne zu beschreiben. Catholica ist die allumfassende Kirche, welche vermöge des Verhältnisses Christi zur Schöpfung den Zusammenhang von Schöpfung und Eschatologie in sich und eben darum auch alle Personen einbegreift, die zur rechten einen Kirche gehören. Den Begriff der catholica gibt es daher in einem materialen Sinne. In diesem Sinne umfaßt er den gesamten kosmologischen und eschatologischen Horizont, die Menschheit samt der ganzen geschaffenen Welt und ihrer providentiellen Bestimmung. Im formalen und personalen Sinne ist dieser Begriff auf die Gliedschaft aller Gläubigen bezogen und — mit der Gefahr der Verengung — begrenzt. Die catholica, wesentlich auf die Personeneinheit bezogen, wäre beinahe eine Verdoppelung der in der „una” bereits gemachten Aussage. Die Reformatoren haben keineswegs darauf verzichtet, dem Titel der catholica für die von ihnen gereinigten Kirchengemeinschaften in Anspruch zu nehmen. Erst eine spätere Verengung und Polarisation des konfessionellen Gegensatzes hat die falsche Antithesen von „katholisch” und „evangelisch” dem Selbstverständnis der Konfessionen eingeprägt. So entsteht der Widerspruch, daß die reformatorischen Bekenntnisschriften auch das Symbol von Nicaea/Konstantinopel ausdrücklich aufführen, daß aber die Gemeinden sich scheuen, im Glaubensbekenntnis sich zur catholica und apostolica zu bekennen. Unsinnig ist vollends die Ersetzung dieses Aussagenpaares durch die Formel von der „allgemeinen, christlichen” Kirche. „Allgemein” ist im Deutschen ein flaches, abgebrauchtes Wort, das vor allem den Kirchenbegriff auf die Personengemeinschaft beschränkt, aber den Bedeutungsgehalt der materialen Katholizität im beschriebenen Sinne nicht einschließt und nicht aufbewahrt. Dem entspricht auch die personalistische Verengung des an dieser Stelle im apostolischen Symbol stehenden Begriffs „sanctorum communio”, dessen personale und sachliche Doppelbedeutung, dogmengeschichtlich unbestritten, von Werner Elert neu ins Licht gehoben worden ist.117
Sodann kann man die umfassende Grundlage aller Kirche nicht zu einem partikularen Merkmal neben anderen machen und erhält eine Tautologie. Denn eine andere als die Kirche Jesu Christi, die christliche Kirche gibt es dem Begriff nach nicht und kann es nicht geben. Die Kombination zeigt eine Unsicherheit an und bestärkt diesen Mangel.

d) Ist durch die Voranstellung der catholica also vermieden, die historische Basis der apostolischen Tradition als eine Art transzendentale

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Bedingung der Möglichkeit von Kirche voranzustellen, so leitet gerade die Nachstellung dieses letzten, vierten Titels auf den Kirchenbegriff selbst über. Denn das Subjekt, dem alle diese Prädikate zugeordnet sind, steht ja am Ende. Der Begriff der „apostolica” ist von allen vier Begriffen der einzige, der unmittelbar und ausschließlich mit bestimmten historischen Subjekten verbunden ist.
Dadurch kommt auch der merkwürdige Widerspruch zustande, daß die vulgo als katholisch bezeichnete Kirche von der Sache her eher apostolische als katholisch ist. Denn die Ableitung aus der personalen Tradition der Apostel ist eher aufweisbar und durchzuhalten als der umfassende Beziehungsgehalt, den die catholica umschließen muß. Apostolisch muß die Kirche und auch jede partikulare Kirche sein, während katholisch nur die Gesamtkirche sein kann, die als umfassende Einheit alle wesentlichen Kräfte und Gaben in sich fassen muß. Gerade die tridentinische Kirche ist nach der nüchternen Beschreibung Rankes nicht im Vollsinne katholisch. Kennzeichnend ist andererseits die in der Moderne auftretende Neigung, nicht nur die materiale Katholizität, sondern vor allem auch die Apostolizität der Kirche in Frage zu stellen. Insoweit man meint, hinter das apostolische Zeugnis gleichsam um dieses herum zu Ursprung und Sinn durchgreifen zu können, leugnet man den Überschritt der Kirche durch die Mission in die Geschichte.
Der Boden der Prädikatenfolge beginnt personal, indem er mit der „una” Einheit und Einzigartigkeit als Identität in einem ausgezeichneten geschichtlichen Sinne beschreibt — durchaus mit einem rechtlichen Horizont. Die sancta und die catholica im recht verstandenen materialen Sinne liegen wie der Kern in der Schale, die sich mit der wiederum deutlich personal und rechtlich qualifizierten „apostolica” schließt. Die geschichtlich-providentielle Identität der Kirche als una, unica, singularis steht in  der Aussage voran, während das ebenso providentielle Instrument, die apostolische Repräsentation am Ende steht, aber am Ausgang der Gesamtaussage, von der dann für den Bekenner und Hörer dieser Aussage die Konsequenz der Mission ihren Ausgang nimmt. Diese zusammengestückt erscheinende Form hat also einen inhaltlich bedeutsamen Aufbau, dessen Bildung vielleicht durch das Gefälle der beiden Einzelteile erleichtert worden ist. Der innere Zusammenhang mit dem Grundriß von Identität und Repräsentation ist deutlich.