Das Gesamtwerk Luthers ist vieldeutig und nicht auf einen Nenner zu bringen. Man kann in ihm zwei verschiedene Hauptlinien finden, die gegeneinander nicht ausgeglichen sind, etwa die eines verbales Spiritualismus und eines sakramentalen Realismus, aus deren Gegensatz dann auch die verschiedenen Richtungen in der lutherischen Kirche und Theologie und Kirche verständlich und gleich legitim wären. Man kann diese Unterschiede auch als Spannungen innerhalb einer im Ganzen folgerichtigen
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Gesamtkonzeption verstehen. Die Entscheidung über diese Frage wird wohl niemals eindeutig sein können und kann auch nicht bestimmend für unsere Probleme sein.
Aber wichtig ist die Klärung, in welchem Sinne das hier für die Kirche konstituierende Wort, als Wort an den Menschen verstanden wird.
Ich bringe hier Studien ein, die ich in anderem Zusammenhänge vorgetragen habe und die mein Kollege H.E. Tödt gelegentlich im Rahmen seiner sozialethischen Vorlesungen benutzt hat, die aber im ekklesiologischen Zusammenhange noch nicht zur Erörterung gestellt worden sind. Es geht hier um den Nachweis bürgerlicher Denkstrukturen in der Theologie, zunächst Luthers.135
Die religionssoziologische Forschung, wie sie insbesondere von Max Weber und Ernst Troeltsch begründet worden ist, hat die Auffassung verbreitet, daß das Luthertum im Ganzen mehr dem agrarischen Bereich zugehört und bis in markante Bildungen mindestens streckenweise aus diesem sozialen Horizont zu verstehen ist, während der Calvinismus ebenso wie die zwinglianische Schweizer Reform von vornherein sehr viel stärker bürgerliche Züge zeige. Diese Auffassung ist neuerdings korrigiert und stärker differenziert worden. Das Ergebnis meiner Untersuchung zeigt eine viel höhere Konsequenz bürgerlichen Sozialdenkens, als dies bei der bäuerlichen Umwelt und vielen daraus entnommenen Anlehnungen, wie vor allem in Katechismus, zu vermuten wäre.
Für die Rezeption von Begriffen und Strukturen, die dem bürgerlichen Rechtsdenken zugehören, bieten sich eine ganze Reihe von Stichwörtern an. Der besondere Stellenwert des Wortbegriffs, die Bedeutung von res und Signum, die Auslegung von testamentum und testimonium, schließlich die Begriffe von promissio und assertio, die Bewertung von Kontrakt und Bürgschaft, das Verhältnis von Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit. Es muß das systematische Denkinteresse gezeigt werden, welches sie in den Vordergrund treten läßt und durch welches sie zur Sinneinheit verbunden werden.
In einem älteren, viel beachteten Aufsatz von Gerhard Ebeling über die „Anfänge von Luthers Hermeneutik” sind, besonders in Teil VII, einschlägige Hinweise nicht nur gehäuft, sondern auch so folgerichtig entwickelt, daß der einmal aufmerksam gewordene Betrachter unmöglich an ihnen vorbeigehen kann.136
Ebeling sagt:
„Daß für Luther das hermeneutische Problem in der ersten Psalmenvorlesung so in das Zentrum rückt, hängt also daran, daß für ihn das Wort allein den Zugang eröffnet zu Christus. Es ist auffällig, wie selten Luther die Sakramente erwähnt … Daß er das nicht tut, ist ein deutliches Zeichen, wie sehr in seinen theologischen Anfängen die Sakramente an der Peripherie seines Denkens liegen. Es ließe sich zeigen, daß diese negative Tatsache Symptom seines neuen theologischen Ansatzes ist. Denn auch
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die zentrale Stellung, die das Wort bei ihm einnimmt, ist bedingt durch seinen theologischen Grundgedanken der Offenbarung in der Verborgenheit. Quia adeo abscondita est gloria regni Christi et potentia, ut nisi per verbum praedicationis auditui manifestetur, non possit agnosci, cum in conspectu oculorum maxime contrarium appareat … (WA 4; 450, 39ff.) … Doch geht man dem Sachverhalt auf den Grund, so wird der Gegensatz um so radikaler. In hac vita … non rem ipsam, sed testimonia rerum tenemus, quia fides non est res sed argumentum rerum non apparentium (WA 3; 270, 30ff.). Damit ist unausgesprochen bereits der ganze katholische Sakramentalismus aus den Angeln gehoben ….. Was Luther vom Wort sagt, daß es nur Zeugnisse sind, non exhibitiones praesentium, sed testimonia futurorum (WA 4; 310, 29f.), das verträgt keine Korrektur durch Sakramente, die den Vorzug vor dem Wort hätten, daß sie exhibitiones praesentium seien. Denn: omnia nostra bona sunt tantum in verbis et promissis (WA 4; 272, 16f.). … In seiner tiefgrabenden Interpretation des Begriffs testimonia drängt sich diese Beobachtung geradezu auf: non nisi verba …, non res, sed signa rerum (WA 4; 376, 13f.). … Das Entscheidende ist, wie Luther positiv formuliert, wo denn nun die res bleiben: quia in verbis per fidem absconditae sunt res non apparentes, ideo habens verba per fidem habet omnia, licet abscondite (WA 4; 376, 15f.). Dem Wort korrespondiert also der Glaube, so wie den Sakramenten die Gnade als Sakramentswirkung. Aber während die Sakramentsgnade res ist, ist der Glaube non res, sed substantia rerum futurarum. Und insofern hat der, der das Wort hat, durch den Glauben nicht etwa nichts, und auch nicht etwa nur bestimmte Gnadenwirkungen, sondern schlechthin alles. Bedenkt man, wie stark die katholische Sakramentslehre in der Christologie verankert ist, so kann man sagen: Luther versteht die Gegenwart Christi nicht sakramental (WA Hier ist entsprechend der Anm. 2 S. 200 ebenfalls zu betonen, daß dazu nicht im Widerspruch steht, wenn Luther im Anschluß an augustinische Terminologie Christus als sacramentum bezeichnet.), sondern eschatologisch. Freilich in einem Sinne von eschatologisch, der später noch zu klären sein wird. Vorerst genüge der Hinweis auf die eschatologische Spannung in seinen Aussagen: non in re, sed in spe, nicht im Schauen, sondern im Glauben, non exhibitiones praesentium, sed testimonia futurorum.”
Ich führe weiter eine Reihe von bedeutsamen Quellenstellen aus Luthers Schriften an:
Von Kaufshandlung und Wucher (1524) Clemen 3, S. 6/7
„Es ist burge werden eyn werck das eym menschen zu hoch ist / und
nicht zugespürt / und greyfft mit vermessenheyt ynn Gottis werk.
Denn restlich / so verbeut die schrifft / man soll keynem
menschen trawen / noch sich auff yhn verlassen / sondern alleyne
auff Gott / Denn menschlich natur ist falsch / eittel /
lügenhafftig und ungewiss / wie die schrifft sagt / und auch die
erfarung teglich leret. Wer aber burge wird / der trawet eynem
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menschen / und setzt sich mit leyb und gut ynn die far / auff eynen falschen / ungewissen grund / darumb geschicht yhm recht / das er falle und feyle / und ynn der far verderbe. Zum andern / so trawet er auch auff sich selbst / und macht sich selbst zum Gott (Denn warauff eyn mensch trawet und sich verlesst / das ist seyn Gott) Nu er aber seyns leybs und guts keyn augenblick sicher und gewiss ist / alls wenig alls des / fur den er burge wird / sondern steht alles ynn Gottes hand alleyne / der nicht haben will / das wyr yns kunfftige eyn harbreyt macht oder recht haben / und des keyn augenblick sicher und gewiss seyn sollen / so thut er unchristlich / und geschieht yhm recht / weil er das versetzt und zusagt / das nicht seyn noch ynn seyner macht / sondern ynn Gottes henden alleyne steht.”
Luther Werke (Clemen/Hirsch) Bd. 7 Predigten. IV.
Reihenpredigten, 7. 27. 10 1532 — (1. Kor. 15, 24/25) (XXXVI,
570)
Sic regnat Christus in fide, verbo, et nihil scitur, quam quod
dicitur et creditur. Sic in mundo agitur per contractum. Accipit
Siegel und brieff, ergo so gwis habet, ac si in loculo.
„… in diesen worten hat Christus yhm ein begencknisz odder jartag
gemacht, teglich yhm nach tzuhalten in aller Christenheit, und
hat ein herlich, reich grosz testament datzu gemacht, darinnen
bescheiden und vorordnet, nit tzinsz, gelt odder zeitlich gut,
sondern vorgebung aller sund, gnad unnd barmherzickeit tzum
ewigen leben, das alle, die zu dissem begencknisz kommen, sollen
haben dasselb testament, und ist drauff gestorben, damit solch
testament bestendig und unwiderrufflich worden ist. Des tzum
tzeichen und urkund, an stat brieffs und Sigil, hat er seinen
eygen leichnam und blut hie gelassen unter dem brot und
wein”.137
Nam promissio et testamentum non differunt alio, quam quod
testamentum simul involvit mortem promissoris
(De captivitate Babylonica, WA VI, S. 513, 35 ff.)
Testamentum absque dubio est promissio morituri, qua nuncupat
haereditatem suam, et instituit haeredes (ebd. 26f.)
Die von Ebeling hervorgehoben Entgegenstellungen von Sakrament und Eschatologie, von res und Signum, von res und res non apparentes laufen, wie er mit Recht sagt, in dem zitierten Schlusssatz zusammen, dem Gegensatz von exhibitiones praesentium und testimonia futurarum rerum. Der Gegensatz von Sakrament und Eschatologie hat freilich nur dann Bedeutung, wenn der Begriff Sakrament in einem mit dem Begriff Eschatologie unvereinbaren Sinn ausgelegt und vorausgesetzt wird. Hierum geht es und nicht um den Begriff der Eschatologie, dessen nähere Interpretation Ebeling vorbehält, aber nicht nachbringt. Daß beide Begriffe an und für sich schon sich ausschließen, wird ein biblischer Theologe gewiß nicht behaupten können. Wenn wir durch die Taufe mitsamt Christo in den Tod begraben werden, auf daß wir mit ihm auferstehen, so ist hier wie anderwärts in zentralen Aussagen Sakrament und Eschatologie ohne weiteres verbunden. In dem Ebelingschen Texte freilich wie anderwärts wird oft
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die spätmittelalterliche Sakramentslehre, die Luther vorfand, mit dem Sakramentsbegriff überhaupt gleichgesetzt, und sodann mit ihrer Ablehnung zugleich auch die Abwendung von einer zentral verstandenen Sakramentstheologie begründet, die mit dem polemischen Begriff „Sakramentalismus” belegt wird.
Der zentrale Gegensatz zwischen den res apparentes und den testimonia futurarum rerum ist nach dem Gesagten nur schlüssig, wenn die res apparentes eine Bedeutung erlangt haben, die mit dem Zukunftscharakter der Eschatologie nicht vereinbar sind.
Das ist für Theorie und Praxis, Lehre und Brauch des Spätmittelalters in der Tat in hohem Maße der Fall. Aber es ist nicht bloßer Mißbrauch, sondern konsequente Bildung. Es setzt voraus, daß ein kirchenrechtlich handlungsfähig Rechtssubjekt ausgebildet wird, welches als berechtigt und imstande angesehen wird, bestimmte supranaturale, spirituale Gnadenwirkungen herbeizuführen. Es ist weit weniger entscheidend, daß sie an gegenständliche Substrate und Vollzüge gebunden („verdinglicht”) werden, als daß sie final betrachtet, kausativ ausgelegt, ein System der Zwecke und Wirkungen bilden und zusammengeordnet werden. Dadurch gewinnt jede hier gemeinte Gnadenwirkung eine ihr besonders zukommende Begrenzung; sie beginnt in sich zu stehen. Man kann es etwa am Stufenbegriff deutlich machen. Jede einzelne Stufe hat nur den Sinn, auf eine höhere Ebene zu führen. Aber zugleich ist sie doch selbst ein abgeschlossener, ja sogar meßbarer Standort. Die radikale Spannung von hier und dort, unten und oben, jetzt und einmal, wird relativiert. Daß diese Finalisierung weit wichtiger ist, als die vielberedete Verdinglichung, zeigt sich darin, daß zugleich mit diesem supranaturalen Verständnis ohne Schwierigkeit der Begriff des Zeichens für die realen Substrate festgehalten werden kann. Es ist oft bemerkt worden, daß der andere Luther, den Ebeling nicht behandelt, der Luther der manducatio oralis und der Beichtabsolution, ein sehr viel realistischeres Sakramentsverständnis festhält als der von ihm bekämpfte Katholizismus.
Nunmehr muß gegenüber dieser objektivierten Gegenwärtigkeit die reine Zukünftigkeit herausgearbeitet werden. Denn hier tritt in der Tat, sogar entgegen Absicht und Intention, das kirchlich-sakramentale Handeln in eine unüberwindliche Spannung zur Eschatologie. Der konsequente Ausdruck für diese nunmehr thematische Zukünftigkeit ist der Begriff der promissio, neben welcher synonym auch derjenige der assertio tritt. Der lateinische Rechtsbegriff der promissio gibt nicht den vollen Gehalt dessen wieder, was im NT das griechische Wort epaggelia enthält. Dieses meint nicht nur Zusagen für die Zukunft, sondern auch bereits die Verkündigung gegenwärtiger Wirkung. Diese Gegenwärtigkeit freilich wäre unwesentlich und bedeutungslos, wenn sie nichts wäre als die begründete Zuversicht in die Verläßlichkeit der Zusage. Eben dieses Element der Gegenwärtigkeit ist in der lateinischen Form nicht mehr erkennbar
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enthalten. Wir sehen jetzt aber aus den markanten Lutherzitaten bei Ebeling auch das Motiv, warum dieses Begriffselement praktisch ausgeschieden wird. Die Reinheit und Entschiedenheit des konstituierenden Gegensatzes könnte sonst nicht durchgehalten werden.
Mit dieser Rezeption des Begriffs promissio ist nun ein entscheidender rechtsgeschichtlicher Schritt vollzogen worden. Die Funktion des Wortes im Recht ist historisch eine völlig verschiedene. Das Machtwort schafft gegenwärtige Wirkung, die dann von jetzt an gerechnet auch fortdauert, aber ohne die Gegenwärtigkeit gar nicht denkbar ist. Die verbale Zusicherung für die Zukunft dagegen ist in den älteren Zeiten von jeder Rechtswirkung ausgeschlossen. Sodann ist Rechtswort Deutewort zu realen Handlungen, deren Intention dadurch klargestellt, rechtlich individualisiert wird. Übergebe ich eine Sache, so kann dies zum Eigentum oder zum Pfand geschehen. Was der Akt intendiert, sagt das Rechtswort. Aber das Rechtswort ist im strengen Sinne gegenstandslos, wenn es außerhalb seiner keine die Wirklichkeit verändernde Handlung gibt. Im Verkehrsrecht dagegen, im Bereich der Rechtshandlungen, welche Max Weber rechtssoziologisch als Zweckkontrakte definiert hat, hat das verpflichtende Wort primäre Bedeutung. Die realen Handlungen sind nur die äußere Konsequenz und Erfüllungsfolgen der Rechtsbeziehung, welche durch das bloße Wort vollgültig begründet wird. So ist auch unser bürgerliches Recht aufgebaut, welches auch das Schuldrecht das Sachenrecht der Gegenstände folgen läßt, mit welchem man die zuvor begründeten verbalen Verpflichtungen erfüllt.
Die Übernahme des Begriffs promissio paßt also nahtlos in die theologische Lage, welche durch den Gegensatz zwischen Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit eingetreten ist.
Personal ist dieses Verständnis der promissio in der Anwendung auf das Gottesverhältnis insofern, als der Mensch als Hörender und Verstehender die Zusage aufnimmt, rechtlich insofern als er als Rechtssubjekt die Zusage annimmt und sich darauf verlässt, daß er die in der Zusage gemeinte Gabe zukünftig empfange. Er wird also nicht durch einen instituierenden Vorgang als etwas Bestimmtes, als Erbe, Kind, Braut, qualifiziert. Er ist und bleibt eine nackte und abstrakte Person, deren Gottesverhältnis nur bildhaft, aber ohne jenen bestimmenden Sachgehalt symbolisiert und allegorisiert werden kann. Weder der Bundesbegriff, noch das nähere Bild familienhafter Zugehörigkeit, noch das fernere von Haushalterschaft und Staatsbürgerschaft haben hier noch konstitutive Bedeutung.
Der Theologie meint hier vielleicht eine Wiederaufnahme des alt- und neutestamentlichen Verheißungsbegriff zu finden. Aber in der radikalen Antithese zwischen den res präsentes und den testimonia futurarum rerum ist ein ganz wesentliches Element des biblischen Begriffs, das praesentische Moment der epaggelia allmählich und unbemerkt ausgefallen,
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vollends dann im Gefälle zur Moderne. Vom Geist, in dem und durch den allein das Wort lebendig und die Verheißung mächtig ist, ist in den markanten Stellen nirgends ausdrücklich die Rede. Unterstellt man, daß dies bei Luther allgemein vorauszusetzen ist, so würde dies verständlich machen, warum die Spannung von Präsenz und Zukünftigkeit negativ aufgelöst werden konnte, warum kein Anhalt mehr verblieben ist, um sie festzuhalten. Es hätte sich, so gesehen, ein Übergang von der praesentisch-historischen Konkretion der Christologie in die Pneumatologie vollzogen (von der christologischen Verwurzelung der bekämpften Sakramentstheologie spricht Ebeling selbst). Aber dieser dogmatische Zusammenhang kann zwar den Fortfall bestimmter Hindernisse verständlich machen, jedoch nicht das Zusammenschließen, die schlagende Übereinstimmung der Neuinterpretation biblischer Begriffe mit Strukturen und Haltungen, welche für das AT und NT im wesentlichen gar nicht in Betracht kommen. Für Paulus gibt es — das dürfte unbestritten sein — keinen Gegensatz zwischen „Wort” und „Sakrament”. Sobald, wie bekannt, in der Scholastik der Sakramentsvollzug jene absolut-objektiven Formen annimmt und im Gegenschlag neuen reformatorischen Wortverständnisses das Verhältnis beider als problematisch neu aufgeworfen wird, ist jene selbstverständliche Einheit nicht wiedergewonnen, vielmehr das Gefälle zur einseitig verbalen Auslegung eröffnet, wie es in den Quellenbelegen deutlich wird und dann in der Moderne konsequente und radikale Formen annimmt. Eben jene im Kontext der Rechtsgeschichte verständliche Objektivierung läßt den Umschlag in das zu vernehmende Wort und damit eine vorwiegende Subjektivität folgerichtig erscheinen.
Daß Luther sehr verschiedene Denkformen mit souveräner Freiheit verwendet, und zugleich auch für sich jene Gegensätze in hohem Maße zur Einheit verbunden hat, daß für ihn auch „Wort” in sehr radikalem Sinne unmittelbare geistliche Gegenwart war, hebt den objektiven geistesgeschichtlichen Zusammenhang nicht auf, in dessen Gefälle er stand und dessen ihm notwendig verschlossene Folgerichtigkeit uns beschreibbar einsichtig geworden ist. Darum reicht die Verweisung auf seine noch so umfassend und lebendig begriffene Subjektivität grundsätzlich nicht aus.
Die gleiche Tendenz wird deutlich in der Auslegung des Begriffs Testament. Das gemeinsame theologische Interesse wird gerade anhand der von Ebeling erhobenen Quellen im Lichte der rechtsgeschichtlichen Situation deutlich.
Die Übersetzung des griechischen Wortes diathéke (kainé diathéke) mit testamentum ist eine womöglich noch viel einschneidendere Verschiebung als die Übersetzung von mysterion mit sacramentum. Wichtig, wesentlich, charakteristisch aber ist der Gebrauch, das Mißverständnis, welches sich zielsicher an die Aequivokation angeschlossen hat. Wer jemand zum Erben einsetzt, verlieht ihm die Rechtsnachfolge der Person und deshalb in die ganze Hinterlassenschaft. Er braucht dies nur
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rechtzeitig den Hinterbleibenden kundzutun. Es ist ein eindeutiger Vorgang, der mit einem Worte ausgesprochen werden kann und keiner umfänglichen Aussage bedarf. Wer dagegen eine Summe von Verfügungen beachtet wissen will, tut gut, ein schriftliches, möglichst unmißverständliches Testament zu hinterlassen. Der Erbe wird sein Erbe antreten und selbst wahrnehmen. Dagegen ist es gut, sich der willigen Ausführung einzelner Bestimmungen zu vergewissern. Erbeinsetzung begründet als personale Substitution ein personales Verhältnis. Vermächtnisse sind bloße Sachverfügungen und begründen nur Ansprüche gegen den gesetzlich-natürlichen Erben.
Das will sagen: diathéke, Bund, bezeichnet ein bestimmtes personales Zuordnungsverhältnis. Testamentum ist ein Formalbegriff, der erst durch den Inhalt ausgefüllt wird und ausgefüllt werden muß. Hier besteht auch eine mögliche Differenz zwischen personaler Erbeinsetzung und sachlicher Vermächtnisbestimmung. Je personaler der Testamentinhalt ist, desto weniger bedarf er der schriftlichen Festlegung oder Verbriefung. Das Interesse an der Verbriefung von Rechtsakten tritt als ein sehr verschiedenes auf. Entweder soll das bloße Faktum verbrieft werden, etwa der Eigentumsübergang, der sich selbst interpretiert, aber in seiner Tatsächlichkeit bestritten werden könnte. Oder aber es soll eine Summe von Willensinhalten variabler Art für die Zukunft festgelegt werden, damit ihr Inhalt als solcher klargestellt wird. Je mehr wir uns von bestimmten typischen Beziehungsinhalten, wie Bund, Erbschaft, Eigentumsübertragung entfernen, um so mehr steigt das Interesse an der Schriftlichkeit. Jene Vorgänge legen sich selbst aus und sind nicht beliebig vermehrbar. Sie können auch im wesentlichen Bestände nicht abgeändert und variiert werden. Sie unterliegen aus immanenten Gründen dem sogenannten Typenzwang. Bei solchen typenmäßig festgelegten Rechtsakten, die auf Herstellung einer personalen Beziehung gehen, kann immer nur das Faktum streitig werden, niemals der Auslegung. Sie schließen hermeneutische Probleme aus. Erst wenn mit einem variablen Aussagegehalt gerechnet wird, stellen sich Auslegungsprobleme ein. Handelt es sich aber um einen variablen Aussagegehalt, so wird zugleich eine Trennung oder Spaltung zwischen dem personalen Verhältnis der Beteiligten als solchen und dem Inhalt oder Sachgehalt des Verhältnisses selbst vorausgesetzt. Die beteiligten Personen sind Subjekte ohne sonstige hier rechtlich bedeutsame Eigenschaften und werden auch durch den Sachgehalt der Vertragsaussagen, der rechtsgeschäftlichen Willensbildung nicht qualifiziert. Der Bürger hat den Erdenrest, zu tragen peinlich, an sich, daß er immer in einer ihm vorgegebenen politischen Existenz lebt und de jure niemals Mensch an sich sein kann. Aber er ist so angelegt, sich möglichst so zu benehmen, als ob er das wäre.
Der Übergang von Bund auf Testament enthält also die Tendenz, das Gefälle von Ablösung aus den konstitutiven und konkreten personalen
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Relationen, während immer wieder behauptet wird, sie seien gerade gemeint. Während die inhaerente Qualität der Person (wie sie in der Scholastik ausgebildet wird) geleugnet wird — mit Recht, fällt zugleich die (vorscholastische) Qualifikation durch die Relation fort.
Diathéke mit testamentum zu übersetzen, rechtfertigt sich nur teilweise insoweit, als es sich um den neuen Bundesschluß im Angesichts des Todes handelt, der durch den Tod hindurch und über ihn hinaus dauern soll. Es ist das Bundesblut, das vergossen wird. Zugleich wird damit die Tradition der alten Bundesschließungen typologisch in Bezug genommen. Was Bund ist, bedarf nicht der Interpretation. Er ist selbst Entsühnung und setzt sie zugleich voraus; insofern ändert auch die Erwähnung der Sündenvergebung nicht an dem Gesagten. So deutet, bezeichnet, konkretisiert, individualisiert das begleitende Stiftungswort den mit dieser Selbsthingabe sich vollziehenden Bundesschluß. Sonst könnte dieses Mahl eine ganz andere, kultische oder banale, alltägliche oder sentimentale Bedeutung haben. Es ist zugleich die Einsetzung und Hineinnahme der Teilnehmer in die so gedeutete Vergemeinschaftung. So wird eine doppelte Identifikation vollzogen: zwischen der Person Jesu und den Elementen und den Teilnehmern, und auf diese Weise zwischen allen dreien. Das Verhältnis vom Deutewort und realem Handeln wird aber in folgerichtiger Sinnwidrigkeit auf den Kopf gestellt, wenn man testamentum als wörtliche Aussage und die Elemente als angehängtes Siegel versteht. Wie man außerhalb des Bundesgedankens die Aussage auslegt, und welcher variabler Begriff an die Stelle des bestimmten Typus „Bund” auch immer gesetzt wird, so ist die Interpretation immer willkürlich und verfehlt.
Deutewort und reales Handeln sind vielmehr nach richtigem Verständnis aufeinander wechselseitig bezogen. Das stiftende Deutewort ist , wie gesagt, gegenstandslos, wenn nicht etwa ihm Entsprechendes geschieht, und dieses reale Geschehen ist nicht geschichtlich nach seiner Intention und Bedeutung bestimmt, wenn das Deutewort mangelt. Diese Sinneinheit von bestimmendem und ausgrenzendem Wort und zuwendendem Handeln ist in ihrer inneren Logik als institutioneller Vorgang in der rechtstheoretischen Institutionenforschung einsichtig geworden.138 Es ist die Vorgangsstruktur, wie wir sie aus allen statusrechtlichen Abläufen kennen. Die Struktur, diese Handlungs- und Sinneinheit wird mißverstanden und zerrissen, ja genau umgekehrt, wenn anstelle dessen das Verhältnis von wörtlichen Aussage und versiegelnder Bekräftigung gesetzt wird. Eben das wird durch die falsche Gleichsetzung mit dem Testamentsbegriff ermöglicht. So kann also anstelle des sich selbst interpretierenden und durch die alttestamentliche Tradition zugleich interpretierten, aber erneuerten Bundesgeschichte als personales Verhältnis ein Inbegriff von interpretationsbedürftigen Aussagen als Testamentsinhalt gesetzt werden. An die Stelle des Bundesgliedes tritt der Empfänger einer Zusage, anstelle eines realen Personalismus tritt ein verbaler.
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Der von Goebel (S. 135) vermerkte und mit anderen theologiegeschichtlichen und konfessionsspezifischen Konzeptionen verglichene Wandel der Auffassung von der Konstitution der persona coram deo drückt sich bei Luther also unbewusst in Strukturen des bürgerlichen Rechtsdenkens aus, und zwar gerade in der dialektisch-futurischen Form des „iustus in spe” als transpaulinischer Fortbildung.
Bei der Benutzung solcher zeitbedingter Denkformen, Bilder und Analogien finden sich solche, die möglich und immanent schlüssig, andere, die es nicht sind. Der Vergleich und Gedanke der promissio verschiebt und verändert zwar das biblische Bild, ist aber in sich folgerichtig. In der mittelalterlichen Gnadenlehre aber gibt es beispielsweise eine privatrechtlich-individualistische Auslegung des Verdienstbegriffs (meritum), die in sich ebenso verfehlt ist wie die Ausdeutung des Testamentsbegriffs bei Luther — freilich aus signifikant-bedeutsamen Gründen —, so wie auch die Auslegung von Matth. 16/18 auf den Glauben eine sozialgeschichtliche Veränderung des Interpretationshorizonts anzeigt, der sich unerkannt bis heute vererbt hat (wegen des meritum-Begriffs vgl. die Studie Anm. 12 Ziff. 3).
Im Gegensatz zur schlüssigen oder unschlüssigen Verwendung rechtlicher Begriffe ist der Versuch Elerts, den Begriff der iustificatio in einem relevanten Sinn in der Rechtssprache des Mittelalters wiederzufinden, eine reine quaestio facti (vgl. Anm. 12 Abh. Nr. 1).
Die Theologie benutzt in wichtigen Zusammenhängen Rechtsbegriffe, ohne sich über deren systematischen und historischen Gehalt und Stellenwert zu vergewissern. Während sie exegetisch den subjektiv-intentionalen Aussagegehalt von Texten einschließlich der sog. literarischen Formgeschichte mit Recht auf das sorgfältigste verfolgt, sind ihr die transsubjektiven, rechtlich-sozialen Strukturen und Bedeutungsgehalte fremd geblieben. Sie begnügt sich hier bestenfalls mit der gegenständlichen Erörterung von Einzelbegriffen, die schon dem laienhaften Sprachgebrauch zugänglich erscheinen. Die geistige Struktur und die weitreichenden Implikationen bleiben ihr damit ebenso verborgen wie ihre eigene historische Bestimmtheit.
Auf der gemeinsamen Basis der jurisdiktionellen Grundform der lateinischen Theologie verhalten sich hier freilich die getrennten Kirchen höchst unterschiedlich. In der Theologie der katholischen „Rechtskirche” finden sich relativ wenige rechtliche, um so mehr auf Grund der patristischen und scholastischen Tradition more philosophico gebildete Begriffe. Die Kanonistik dagegen, von der Theologie abgesetzt und präjudiziert, benutzt einen wesentlich säkularen Rechtsbegriff — wie auch Kanonisten vermerken.
Im Gegensatz zu einer „sapiential” orientierten Theologie (Pesch) kann und muß eine existentielle Theologie angesichts der Fülle biblischer Rechtsbegriffe und der Existentialität des Rechts Rechtsbegriffe in großem
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Umfange benutzen — so auch die reformatorische Theologie trotz des ihr anhängenden Rechtstraumas. Sie beharrt dabei aber auf einer Autarkie ihrer Begriffsmittel und verweigert trotz Rezeption philologischer Wissenschaft die Benutzung entsprechender Hilfen für ihren rechtlichen Horizont.
Dies ist um so bedenklicher, als die Konstitution und Legitimation des Christen und der Kirche de iure und in iure sich als eine zentrale Frage erweist, deren Beantwortung, selbst dem geschichtlichen Wandel unterliegend, im Kernbereich theologischer Reflexion liegen muß — die berühmte Frage Karl Barths nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Recht, welche umfassende Bemühungen der Rechtstheologie ausgelöst hat, bezeichnet nicht primär eine ethische, sondern eine ekklesiologische Frage.
Die hat die vorliegende Untersuchung zu erweisen unternommen und wird auch im Fortgang methodisch die sich neu stellende Frage sein.