7. Kirchenrecht und Existenzdialektik

Erst nach dieser Klärung des Verhältnisses von Amt und Nichtamt, von Priester und Laien kann auch die Frage der dialektischen Existenz in ihrer kirchenrechtlichen Bedeutung noch einmal aufgenommen werden, nachdem im ersten Durchgang der Begriff als ungeeignet für die Begründung des Kirchenrechts abgewiesen werden mußte.

Das paulinische „hos me”, welches Wehrhahn anzieht, ist ja ein Ausdruck für die eschatologische Existenz des Christen in der Welt. Er ist in der Welt, aber soll sich mit der Welt nicht gemein machen: er ist für die Welt, aber nicht von der Welt. Im „hos me” bleiben daher die Verhältnisse in einer eigentümlichen Vorläufigkeit in der Schwebe und werden in der jeweiligen Entscheidung gelöst. Dinkler30 hat gezeigt —

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und es liegt auf der Hand —, daß dieser Satz nicht den regelhaften Verzicht fordert und meint: denn das wäre nur die Auflösung der Dialektik in eine neue eindeutige Regel, des Evangeliums in ein asketisches Gesetz.

Aber derselbe Paulus formuliert nun auch, offenbar ohne grundsätzlichen Widerspruch die Haltung, die sich in dem Satz „Heiraten ist gut, Nicht-Heiraten ist besser” zusammenfassen läßt. Es handelt sich ersichtlich um das gleiche Problem. Hier wird die Frage nicht in der Schwebe gehalten und jeweils aktualiter, sondern in einer Alternativentscheidung gelöst. Der Dauercharakter des Sexus und der Institution der Ehe läßt nicht zu, die Frage in der Jeweiligkeit zu halten. Das würde in die Unzucht führen. Wer nach diesem Wort heiratet, lebt nicht in der Josefsehe, en wer sich entschließt nicht zu heiraten, verzichtet eindeutig auf den Umgang mit dem anderen Geschlecht. Tertium non datur. Es handelt sich um Existenzentscheidungen auf Dauer, die in sich eindeutig sind. Freilich ist ihre Dauer nicht notwendig religiös gesichert. Wer irrigerweise gemeint hat, auf die Ehe verzichten zu können, ist gewiß im Sinne des Apostels nicht gehindert, dann doch zu heiraten. Wer heiratet, kann sich nicht willkürlich seinem Ehegatten entziehen (er ist nicht Herr seines Leibes). Aber die kritische Haltung der epistolischen Schriften und der alten Kirche gegenüber der sukzessiven Polygamie zeigt, daß dem verwitweten Christen zugemutet wird, die Frage „Ehe oder Ehelosigkeit” noch einmal unter dem kritischen Wort des Apostels zu prüfen.

Grundsätzlich wichtig ist jedoch vor allem die Struktur dieser Aussagen. Das „hos me” ist im jeweiligen Akt der Realisierung eindeutige Entscheidung. Die Alternative in der Frage der Ehe dagegen schließt zwei zwar nicht gleichwertige, aber doch positiv bewertete Entscheidungsmöglichkeiten ein, die einander ausschließen, ohne dadurch ihre Bezüglichkeit zu verlieren. Aus der Dialektik entsteht eine zweiwertig Ethik in Institutionsübernahme und Institutionsverzicht.

Eine zweiwertige Logik rechnet mit Aussagen, welche sich ausschließen. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist für sie konstitutiv. Ethische Sätze im Sinne einer zweiwertigen Logik rechnen mit einer einfachen Gegenüberstellung von Gut und Böse. Tritt eine Mehrzahl von Entscheidungsmöglichkeiten auf, so muß die Einheit der Entscheidung in deren Subjekt in Gestalt eines Generalsatzes, etwa dem Gedanken der Liebe, zurückgenommen und dadurch gesichert werden. Differente Entscheidungen können nur dadurch gerechtfertigt werden, daß die Erkennbarkeit der prinzipiell einwertigen Entscheidung fraglich ist, oder daß die wohl erkennbare richtige Entscheidung aus praktischen Gründen, schuldhaft oder zwangsläufig nicht oder nur gebrochen vollzogen werden kann. Aus jener denknotwendigen Zurücknahme der Entscheidungseinheit in das Subjekt stammt auch der Kantische Satz, daß schlechthin gut allein der gute Wille sei. Die Unterschiedenheit der Entscheidungen

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ist zwar die Bedingung der Möglichkeit ethischer Konkretion. Der materiale Inhalt der Entscheidungen muß jedoch gleichwertig, also — wie das aufschlußreiche doppeldeutige Wort anzeigt — gleich„gültig” sein, gerade ihre Richtigkeit vorausgesetzt. Eine zweiwertige Logik hat also eine einwertige Ethik zur Folge, welche in der Aporie zwischen kategorischer Einheit und Vielfalt der Konkretion verläuft.

Eine zweiwertige Ethik dagegen rechnet mit zwei gegensätzlichen, aber beiderseits als sinnvoll bewerteten Entscheidungen. Dabei besteht notwendig eine sinnvolle Beziehung zwischen den beiden, sich sachlich ausschließenden Entscheidungen. Sonst wäre sie nur eine quantitative Verdoppelung der Eigenwertigkeit ohne rechtfertigenden Sinn oder eine willkürliche Begrenzung der Pluralität der Entscheidungen auf die Zahl zwei. Der Unterschied zwischen einwertiger und zweiwertiger Ethik liegt also nicht in einer linear-mathematischen Progression der Zahlen. Andererseits ist eine pluralistische Ethik ohne Sinneinheit Willkür und eine einwertige Ethik ohne breit entfaltete Konkretion in der Pluralität theoretisch und praktisch unmöglich. Sie führt in die Ideologie. Einwertige und zweiwertige Ethik müssen also als qualitativ verschieden verstanden werden.

Die Fassung des paulinischen Grundsatzes legt die Deutung im Sinne einer quantitativen, stufenmäßigen Steigerung vom Niederen zum Höheren nahe. Aber eine einfache Überlegung läßt diesen weitverbreiteten und höchst wirksamen Gedanken als unzulänglich erkennen. Eine Steigerung müßte die vorangegangene Stufe mit einschließen. Die Ehelosigkeit aber beruht gerade auf der Ausschließung der Ehe, die ausdrücklich als gut bezeichnet worden ist. Der Gedanke der Steigerung zerstört die wesentliche Bezüglichkeit beider Sätze, den dialektischen Charakter des Doppelsatzes. Der Stufengedanke wird erst möglich, wenn man mit dem Satze eine bestimmte gedankliche Operation vollzieht. Aus beiden Aussagen muß der positive Begriff des „Guten” abstrahiert und dann beide Sätze ihm wieder unterworfen werden. Auf diesem Wege geht die spezifisch biblische Konkretion, aber auch der kritische Charakter beider Aussagen verloren. Denn das „Besser” ist eine kritische Aussage über das „Gut”: der Bejahung der Ehe wird eine sie transzendierende Existenzform gegenübergestellt. Aber die Bejahung der Ehe ist zugleich eine Kritik an der Ehelosigkeit. Sie verhindert nämlich, den Eheverzicht als Postulat einer absoluten Ethik zu verstehen. Das ist oft übersehen worden; ohne diese wechselseitige Kritik würde man zu schwärmerischen Verhaltensweisen kommen, welche in der Kirchengeschichte nicht gefehlt haben und gegen welche sich etwa Augustana XVI ausdrücklich wendet. So begrenzen sich beide Aussagen gegenseitig, ohne doch einfahc im Sinne der Gleichwertigkeit ambivalent zu sein. Unzweifelhaft hat das Wort ein Gefälle. Die Abstraktion dagegen des Begriffs „gut” ermöglicht die Quantitierung. Das Entscheidende der

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Quantitierung aber liegt darin, daß die Zweiwertigkeit zugunsten einer Einwertigkeit aufgehoben wird. Der Übergang in eine einwertige Ethik bringt Größen hervor, die im Sinne der Gleichwertigkeit ebenso gegeneinander verrechnet und in Beziehung gesetzt werden können, wie die Faktoren der Kausalität im Sinne der klassischen Physik.

Der eschatologische Charakter der Aussage verwandelt sich in einen teleologischen. Schrittweise nähert man sich in de Stufung dem „Heilszweck”. Die Zweck- und Zielkategorien, die jetzt auftreten und in der Scholastik ihre systematische Durchbildung erfahren, zeigen jene Umsetzung des eschatologischen Denkens in das teleologische an und damit gerade die Preisgabe der mehrwertigen Ethik unter dem äußeren Schein ständischer Unterschiedenheit.

Nun hat die Christenheit es sehr früh unternommen, diese Dialektik, ja dieses komplementäre Verhältnis in der Form durchzutragen, daß sie es in zwei gegensätzlichen, kirchenrechtliche geordneten Lebensformen auseinanderlegte — im Laien und im Mönch.31 Es ist ein Mißverständnis, wenn man meint, das Mönchtum individualistisch als den summierten Ausdruck eines extrem spiritualen Heilsverlangens einzelner verstehen und ableiten zu können. Die drei klassischen Mönchsgelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams sind direkt bezogen auf die institutionelle Wirklichkeit der Welt: der Verzicht auf Eigentum und Erwerb, Verzicht auf Ehe und Geschlecht, Verzicht auf politische Macht und Selbstdurchsetzung. Es sind die drei Grundbezüge, die die Unterlage der großen Institutionen abgeben, die als solche vorgegeben durchhalten, und die auch in der Lutherschen Dreiständelehre wiederkehren.

Aber eben dieser Institutionsverzicht ist der Kontrapunkt zur Institutionsübernahme; er bleibt auf die Institutionen bezogen und setzt sie voraus. Das Mönchtum hat im Gegensatz zur Sekte niemals seinen Weg zur allgemeingültigen Norm erhoben und jedermann diesen Verzicht abverlangt. Jedermann soll hier in dem Stande bleiben, zu dem er berufen ist. Das Mönchtum verstand sich auch kontrapunktisch, innerhalb einer Ökonomie stehend, im Verhältnis zum Kirchenregiment. Deshalb haben die Orden trotz aller Spannungen — bis auf eine bemerkenswerte Grenzsituation — immer die kirchliche Disziplin gewahrt, ja verteidigt. Die Vorstellung der Vorrangigkeit und Höherwertigkeit des Mönchtums vor dem weltlichen Leben hat soweit seinen echten Grund, als die christliche Existenz ja grundsätzlich das eschatologische Gefälle auf das „me” im „hos me” hin hat. Deswegen ist das Mönchtum als Kontrapunktik nicht so sehr komplementär, sondern suppelementär. Aber es ist als Bezugsform weder Verdienst noch Rang.

Aber eben dieses Verhältnis wird von der Lehre von den evangelischen Räten gesprengt und zur Auflösung geführt, indem die zweiwertige zur einwertigen Ethik umgeformt wird. Dadurch wird die Ehelosigkeit

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zu einem höheren Grad der Vollkommenheit als eines einlinigen Idealbegriffs. Sodann wird zweitens die schon ehedem sakramental verstandene Ehe als Gnadenmittel aufgefaßt (matrimonium gratiam confert). Durch die Beseitigung des Unterschiedes zu den sacramenta salutaria wird ihre Aufnahme in das einheitlich gleichwertige System der sieben Sakramente ermöglicht.32

Die Entwicklung der Formen des Mönchtums ist, unter diesem Thema gesehen, sehr instruktiv. Der eigentumslose Benediktiner arbeitete, aber seine der Selbsterhaltung, der Kolonisation und dem Vorbild dienende Arbeit erwies sich so fruchtbar, daß sie ihm zu neuem reichem Besitz verhalf. Den alten Orden, die diesem Typus angehörten, folgten die Bettelorden, die über das Eigentum hinaus auch auf die Arbeit verzichteten, sich auch diese natürliche Frucht versagten. Da ihnen aber doch die Gaben zuflogen und sie auf sie — und damit auf die Stellvertretung der Erwerbenden! — angewiesen waren, entzündete sich die auch kirchenrechtlich praktische Frage, ob der Orden selbst Eigentum haben dürfe, der im Hochmittelalter die Orden tief gespalten hat. Die Frage war so nicht zu lösen, weil Christus ohne Erwerb, ohne Haus und Hof gewesen, aber unbefangen Geld benutzt hatte. Der Orden konnte versuchen, im gleichen Sinne mit dem Eigentum umzugehen, oder mußte die Kirche als Treuhänder des ihm Zugewendeten benutzen, der dem stellvertretend leistete. Die Armutsfrage war jener Punkt, an dem erstmalig und einzig die Franziskaner strengerer Observanz dem Kirchenregiment im 14. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Kampfe Ludwig des Bayern mit der Kurie den Gehorsam mit Formulierungen verweigerten, welche frühreformatorisch klingen. Dem entsprach die Verfassungsform der Orden: die Äbte der älteren Orden sind infulierte Prälaten, die in einem bestimmten Rang in der Hierarchie stehen, obwohl sie Mönche sind. Die Bettelorden haben nur noch funktionale Ämter auf Zeit, ohne Rang und Insignien.

An dem Verhältnis zum Kirchenregiment und zum Kirchengut wird sichtbar, daß in dieser Konzeption das Priestertum eine Mittelstellung zwischen Laien und Mönch hat. Der Priester kann Eigentum haben, aber nur begrenzt Erwerb ausüben, er leistet, zölibatär gebunden, doch nur einen Teil der Gelübde, er muß das Kirchenregiment übernehmen und kanonischen Gehorsam fordern, während das Regiment dem Mönch eine fremde Last ist.

Die Reformation hat nun nach ihrem eigenen Selbstverständnis nicht nur die Unterscheidung von Priester und Laien, sondern auch die von Mönchtum und Laientum aufgehoben. Nachdem sich Priester und Mönche als Klerus im Gegensatz zum Laien verstanden, hat sich in der Reformation eine Art renversement des coalitions vollzogen, indem jetzt Mönchtum und Laientum sich gegen das Priestertum stellten. Die laikale

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Seite des Mönchtums trat gegenüber der klerikalen hervor. Zurechtgekommen ist das Verhältnis damit nicht.

Die Reformation zielt aber auf eine Einheitslösung unseres Problems. Sie erwartet von jedem Christen, daß er in sich die dialektische Haltung des paulinischen hos me verwirkliche, ohne Differenzierung nach dem geistlichen Beruf, der Berufung und dementsprechend einem verschiedenen Stande in der Kirche. Luther hat das Mönchtum (abgesehen von der Frage des Gelübdes) mit der These bekämpft, daß das Evangelium „katholisch”, d.h. allen gemeinsam sei und so als eine geistliche Lebensregel für einen Orden, z.B. den des heiligen Franziskus, dem katholischen Charakter der Kirche widerspreche.33

Aber die Einheit des Glaubens und die Einförmigkeit christlicher Existenz sind zweierlei. Die Gleichsetzung beider beruht auf der auch von Franziskus vollzogenen Gleichsetzung der mönchischen Lebensform mit dem Evangelium. Dies setzt wiederum voraus, daß das Leben in der Welt eine — relativ und zwar quantitativ — niedere Form dieser Existenz sei. Sobald beide Formen, das Leben in der Welt und das Leben im Institutionsverzicht als qualitativ verschiedene Formen verstanden werden, fällt diese Folgerung hinweg. Luthers Haltung ist nur die logische Umkehrung der bekämpften These.

Nachdem aber gerade eben die Einheit des Kultus aufgegeben worden ist (keine notwendige Übereinstimmung in den „Ceremonien”), tritt die Übereinstimmung in der Lebensform, die Ablehnung der dialektischen Auseinanderfaltung christlicher Existenz auf. Die Wendung vom Kultus zum Ethos und die ebenfalls verhängnisvolle Antithese beider tritt hervor. Die Dialektik wird in das forum internum verlagert und dafür in der konkreten Gestaltung applaniert. Der Berufungsgedanke bietet keinem Ersatz dafür. Es ist eine Vorwegnahme des kategorischen Imperativs Kants, in welchem in der gleichen Denkstruktur die Allgemeinheit und die Besonderheit auszugleichen unternommen wird. Die Vorstellung einer einheitlichen Lebensform — gerade in geistlichen Dingen — ist dem Evangelium fremd. Sie ist aber sozialgeschichtlich erst von einem bestimmten späteren Zeitpunkt an überhaupt vorstellbar und der gesamten älteren Welt einschließlich derjenigen der Bibel unbekannt. Triebkraft und Pathos dieser Haltung stammt aus jener schon früher erörterten Bewegung zur Verallgemeinerung. Hier bestimmt nicht nur das Evangelium die Sozialgeschichte, sondern die Sozialgeschichte bestimmt den Horizont der Schriftauslegung.

Die Reformation hat das Mönchtum individualistisch vom Heilsverlangen des einzelnen, der angestrebten Verdienstlichkeit, nicht als Existenzform in der Gesamtstruktur der Kirche interpretiert. Andererseits vollstreckt diese Kritik die Einwertigkeit der scholastischen Lehre und steht dieser näher als derjenigen des Paulus, dem der Vorwurf des Verdienstgedankens, des Synergismus, nicht gemacht werden kann.

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Paulus rechnet mit Entscheidungen für verschiedene einander ausschließende Lebensformen, welche auch ohne formelle Bindung an das Gelübde durchgehalten werden und dann eben von irreversibler Geschichtlichkeit werden. Es fragt sich, ob die grundsätzliche Bejahung innerweltlicher Gegebenheiten das Motiv der Institutionsaskese erledigt hat. So meint jedenfalls das Selbstverständnis der reformatorischen Kirchen. Indessen hält dieses Motiv nunmehr in wesentlich anderer Form durch, welche selbst nicht mehr sichtbare Institutionen bildet, sich nicht mehr in solchen ausdrückt. Institutionsaskese finden wir einmal ganz deutlich in der von Max Weber beschriebenen, vielleicht in mancher Hinsicht in ihrem Ausmaß überschätzten ökonomischen Aksese im Bereich des Calvinismus, wo durch Konsumverzicht im Gegensatz zu der unbefangenen Gebrauchsbereitschaft der vorangehenden Zeiten die Möglichkeit wirtschaftlicher Expansion geschaffen wird.

Im Gegensatz zum bürgerlichen Calvinismus des Westens zeigt das mehr agrarische Luthertum die Neigung und Bereitschaft, im politischen Bereich zu dienen. Aber eben dieser Dienstgedanke selbst enthält ein entscheidendes asketisches Moment, weil es den Verzicht auf das eigene politische Interesse einschließt. Das politische Interesse, das Aktzentrum ist in der Obrigkeit, dem aufsteigenden Fürstenstaat, vorgegeben, wird nicht geschaffen, sondern vorgefunden.

Liegt in beiden Richtungen das asketische Moment innerhalb der Übernahme institutioneller Formen, die jetzt unter Einschluß ihrer Eigengesetzlichkeit voll bejaht werden, so wendet sich die gleiche Askese in voller Breite gegen die institutionelle Kirche. Hatte das Mönchtum die verfaßte Kirche hinter sich, und die in der Welt Lebenden sich gegenüber gesehen, so lebt jetzt die eigentliche Kirche mit dem Pathos der Weltlichkeit und Weltbejahung, läßt aber den Staat für die institutionelle Kirche sorgen, wie die Bürger für die Bettelmönche sorgten. Regiment und Ökonomie der Kirche sind jetzt, wiewohl man sie braucht, ebenso verdächtig und negativ weltlich, wie ehedem Regiment und Ökonomie im weltlichen Bereich für den Klerus, und Regiment und Ökonomie der Kirche für den Mönch.

Es hat die Reformation also faktisch das asketische Moment nicht, wie sie meint, ausgeschieden, sondern es in einer bestimmten Weise verlagert und verallgemeinert. Sie ist insofern nicht allgemeines Priestertum, sondern allgemeines Mönchtum. Das stimmt damit überein, daß weitgehend die von den Bettelorden entwickelten Formen des Predigtgottesdienstes herrschend geworden sind, und daß die Verfassungsformen dieser Orden (funktionale Ämter ohne ordo) typologisch verwandt sind.

Das bedeutet aber, daß
1. zwar die Kontrapunktik verschiedener Lebensformen aufgehoben ist, daß aber die volle Dialektik des „hos me” nicht durchgehalten wird,

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sondern nur in einer asketisch eingeschränkten Form erscheint. Überall, nur nicht zur Bejahung der institutionellen Kirche besteht Freiheit. Die innerweltlichen Folgen sind sehr problematisch (ökonomische Expansion und politische Lähmung).
2. Die Existenzdialektik muß aber, um gelebt werden zu können, als Freiheit zum (rechten) Gebrauch verstanden werden. Das führt aber zwangsläufig dazu, daß der Mensch sich als Subjekt allem Vorfindlichen, auch der institutionellen Welt als Objekt gegenübersteht. Eben darum wird er unfähig, die Institutionalität seiner Existenz zu begreifen, die Antinomie von Freiheit und vorgegebener Gebundenheit durchzuhalten.

In der Folge kann er sich nur entweder radikal frei, oder radikal gebunden verstehen und beides fällt auseinander. Alles geht in ethische Strukturen („Verantwortung”) und dementsprechende kausale Strukturen über.

Das freilich nur relative Recht jener Eintragung in das Bild der Bibel wird uns erst heute deutlich, wo uns Verständnisformen und Begriffsmittel zugewachsen sind, um jene Gegensätzlichkeit geistlicher Lebensformen wieder zu begreifen, und wo der Gültigkeitsanspruch jener Unifizierung, dieses geistlichen kategorischen Imperativs bereits in der Tiefe gebrochen ist. Denn jene Tendenz der Verallgemeinerung hat sich in dem Sinne unwiderruflich durchgesetzt, daß heute solche antinomischen Lebensformen und ständigen Verhaltensweisen nicht mehr wie ehedem in der Form der ständigen Besonderung, der institutionellen, der ganzen Menschen umfassenden und absondernden Vollform in Erscheinung treten, jedenfalls nicht notwendig. Auch ohne solche sichtbare Besonderung treten heute in zentralen Fragen kirchlichen Lebens wie christlicher Ethik einander ausschließende Weisen gehorsamer Nachfolge hervor, die gerade in dieser Unvereinbarkeit stellvertretend und ergänzend füreinander einstehen. Von hier aus ist auch das Verhältnis der Kirche zu engeren Gemeinschaften bis hin zur Sekte neu zu durchdenken. Wenn der reformatorische Protest in der Ersetzung des Einheitssystems durch die Einheitsforderung steckenbleibt, verliert er sein geschichtliches Recht. Es bedarf freilich zur Überwindung dieser falschen ethischen Katholizität eines durchgreifenden Umdenkens.

Die grundsätzliche Frage ist von der Kirchengeschichte längst beantwortet, obwohl die Theologie davon keine Notiz genommen hat. Im gesamten Raum des Protestantismus haben sich in den letzten Jahrzehnten besondere Gemeinschaften gebildet, die die Zweckverbände und Vereine des 19. Jahrhundert als Verwirklichungen christlicher Existenz in besonderen Formen weit transzendieren. Sie folgen einem besonderen Ruf, übernehmen freiwillig besondere Aufgaben, nicht im Sinne der Arbeitsteilung, sondern im Sinne der Stellvertretung, der Ergänzung, nach dem Gesetze der kleinen Zahl. Sie verhalten sich zur Großkirche

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komplementär, indem sie das stellvertretend tun und leben, was von dieser nicht verlangt und erwartet werden kann. Sie sind zu ihr vermöge des in ihnen lebenden eschatologischen Gefälles nach der Terminologie von Schröer supplementär. Gerade etwa die kirchlichen Bruderschaften in Deutschland in aller ihrer Problematik gehören zu dieser Erscheinung, auch wenn sie es nicht wissen und theologisch nicht wahrhaben wollen. Sie machen Haltungen deutlich, ohne welche das christliche Zeugnis unvollständig wäre, und die trotzdem nicht einfach jedermann, insbesondere nicht dem in der Verantwortung des Amtes stehenden Christen abverlangt werden können. Es geht also in diesen Fragen nicht mehr darum, daß man „unter dem Evangelium zusammenbleibt”, weil man eine beide Seiten überzeugende alles umfassende „katholische” Lösung nicht findet und um die bessere Erkenntnis ringt. Es geht vielmehr um eigne gegeneinander nicht verrechenbare Ergänzung. Das Dogma von der Katholizität des Glaubens in Gestalt der Einlinigkeit der Ethik ist jedenfalls unversehens zerbrochen. Diese Bildungen sind gerade dort sehr für die geschichtliche Lage charakteristisch, wo sie nicht in einer institutionellen lebensmäßigen Absonderung hervortreten. Ihre Träger, die sich in ihrem beruflichen und kirchlichen Sein sonst durch nichts unterscheiden, folgen einem besonderen Ruf. Mitten in der Welt steht dann ein einzelner oder eine Gruppe doch mit der ganzen Existenz für diesen Beruf und Ruf ein.

Die Frage stellt sich sogar noch härter als jemals: denn das zölibatäre Mönch- und Priestertum konnte in ein Gesamtsystem einbezogen werden — die heutigen Supplementärbildungen müssen sich als solche verstehen, obwohl sie diese Hilfe nicht genießen.

Vielleicht lösen sich von daher viele Fragen des Schwärmertums. Wenn etwa im Schwärmertum die bis dahin institutionell eingebundene Dialektik christlicher Existenz sich erstmalig als ausschließende Komplementarität erwies, so fehlte der Zeit jede Verständnismöglichkeit für diese völlig neue geschichtliche Lage. Die Reformatoren waren unversehens die Erben der territorialen, flächenstaatlichen Großkirche geworden und traten in ihre Lebensbedingungen ein, wobei ihnen noch die Ablehnung des verrotteten Mönchtums jede Anknüpfung zur Bewältigung des Problems abschnitt. Sie stammten zum Teil aus dem Mönchtum und brachten bei aller Ablehnung Vorstellungen und Traditionselemente aus diesem mit. Während sie in die Verantwortung für die Groß- und Volkskirche eintraten, schwang bei ihnen die Frage und das Ideal der Freiwilligkeits- und Minderheitskirche der wahren Gläubigen zugleich mit — ohne daß dieser Gegensatz zum gestaltenden Austrag kam.

In dem Versuche Wehrhahns, das Kirchenrecht im Sinne des „hos me” aufzubauen, und seinem heftigen Pathos gegen das großkirchlich-parochiale Kirchenregiment, ist ohne zulängliche Reflexion und Kritik diese ungeklärte Situation mit enthalten, in welche die Reformation durch die

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Fortsetzung der scholastischen Einlinigkeit gekommen ist. Wie die Leiblichkeit, geschichtliche Konkretion und Institutionalität der Ehe das „hos me” schon bei Paulus in differente Lebensformen — aber en kyrioi! — auseinandertreten läßt, so auch die gleichen Merkmale der Kirche. Da die Frage unter der Last der historischen Gegensätze und Vorentscheidungen nie wirklich auf ihren Grundbestand zurückgeführt worden ist, und die protestantische Theologie alles, nur nicht ihre eigene Sozialstruktur in Frage zieht, hat dieser Tatbestand den reformatorischen Groß- und Territorialkirchen ein beschwerliches Element der Unausgetragenheit mitgegeben. Diese Frage kommt jetzt im sichtbaren Zerfall der Volkskirche und der immobilen Unzulänglichkeit des Landeskirchentums auf uns zu.

Nun hat sich heute dreierlei in einer ganz neuen Weise, aber als unverkennbare Gesamterscheinung von grundsätzlicher Bedeutung neugebildet:
1. monastische Gemeinschaften, insbesondere im reformierten Raum vermöge dessen stärkerer asketischen Tradition,
2. geistliche Genossenschaften (Bruderschaften), die ihre Mitglieder weder aus dem weltlichen Beruf noch aus dem Amt der Großkirche, noch aus der Ehe herauslösen,
3. freie Aktionsgemeinschaften ohne Regelbindung und spezifisches geistliches Gemeinschaftsleben, die sich aber auch als Bruderschaft verstehen und mit dem Anspruch radikaler Verwirklichung jene Kontrapunktik zum Ausdruck bringen.

Die beiden erstgenannten Formen widerstreiten nicht, sondern fordern gerade eine Rezeption und kirchenrechtliche Aufnahme, Einordnung in das Ganze der Kirche, gerade wenn man unser Sachproblem wieder in Blick bekommen hat. Erst die dritte Form zeigt das ausschließende Verhältnis der Komplementarität. Aber da die Kirche sich dennoch als Einheit, und von der Sache her den ergänzenden Charakter der Positionen verstehen muß, können ihr zur geistlichen Bewältigung dieses Problems die anderen Formen als Brücke dienen. Von dieser Einsicht und der Übernahme dieser Aufgabe sind freilich beide Beteiligten noch weit entfernt.