5. Die Gefährdung des Priestertums durch das exklusive Amtspriestertum

Zu dem verhängnisvollen Irrtum des Funktionalismus hat nun entscheidend die Verderbnis des als exklusiv verstandenen Amtspriestertums beigetragen, d.h. die Gleichsetzung des Priestertums überhaupt mit der Form, welche es in der scholastischen Lehre vom absoluten Ordo gewonnen hatte. So ist die geschichtliche Alternative entstanden, daß man auf der einen Seite ein exklusives, auf der anderen Seite überhaupt kein Priestertum mehr hatte, jedoch bei fortdauernder Verwendung eines leeren theologischen Terminus, der meist dann auftritt, wenn die systematische Theologie in die gehobene Sprache übergeht.

Jene Gleichsetzung von Priestertum schlechthin und exklusivem Amtspriestertum kehrt nun die dinge in einer typischen Weise um. Nicht der existenzielle Tatbestand und die notwendige Aufgabe priesterlichen Handelns, sondern das historische Priestertum selbst, nun noch dazu in einer sehr eingeengten Form, wird die Quelle. Dieses historische Priestertum ist nun zutiefst dadurch bedroht, daß es zwar die Notwendigkeit priesterlichen Handelns an jedermann zu Recht betont, sich selbst aber von diesem priesterlichen Handeln mehr oder minder folgerichtig ausnimmt. Es hat immer die Tendenz zur Exemtion, zunächst von der weltlichen Gerichtsbarkeit, sodann aber zur kirchlichen Souveränität.

Die Spitze selbst, die sedes romana verteidigt als ihr höchstes Privileg, daß niemand sie richten könne. Der Papst hat gewiß auch seinen Beichtvater. Aber dieser ist in der Lage eines Hofpredigers bei einem absoluten Fürsten, der gewiß auch geistlich mahnen kann, aber in der Sache selbst die Bindung des Fürsten an ein Gegenüber des Volkes in seinem eigentlichen Verantwortungsbereich nicht ersetzen kann. So spaltet sich der regierende Hierarch ohne die Mitberechtigung der Kirche

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— die im Vatikanum ausdrücklich ausgeschlossen wird — in einen privaten und einen amtlichen geistlichen Menschen, welch letzterer in der höchsten Steigerung gerade infallibel ist. Mindestens ein bestimmtes Handeln, das der Kathedralentscheidung, wird von der Beichte und Absolution ausgenommen und im Grunde das meiste des Regierungshandelns selbst auch. Gerade die höchste Steigerung des so verstandenen exklusiven Priestertums hebt am entscheidenden Punkte das Priestertum auf.23 Denn auch das höchste Urteil ist darauf angewiesen, daß ihm der Dienst des unabhängigen Urteils geleistet wird: wer irrt, weiß nicht, daß er irrt.

Die römische Kirche kennt keine Gemeindebeichte, weil nur der Einzelne sündigen könne. Der Protestantismus hat die Gemeindebeichte ausgebildet, die freilich mehr eine Summe unvollständiger Einzelbeichten ist, die die Einzelbeichte nicht ausschließt, aber doch beiseitedrängt. In Wahrheit liegt der Grund beiderseits tiefer. In der römischen Ablehnung der Gemeindebeichte liegt die Auffassung, daß die Kirche, als solche unfehlbar und fleckenlos, nicht sündigen könne, sondern nur die Katholiken. In der protestantischen Gemeindebeichte liegt die Auffassung, daß die Glaubensgewißheit der Sündenvergebung eines konkreten Zuspruchs von direkter Personalität nicht bedürfe. Deswegen der ständige Zweifel über den exhibitiven oder nur deklaratorischen Charakter der Absolution. Auf bedien Seiten steht die gleiche Selbstgewißheit: diejenige der anstaltlichen Kirche und die des glaubenden Subjekts. Wie anders sähe die römische Kirche aus, wenn sie unter Vorantritt der Hierarchie eine Gemeindebeichte vollzöge, wie anders die reformatorischen Kirchen, wenn sie die Gemeindebeichte in der Einzelbeichte konkretisierten!

So stehen sich hier zwei Einwände mit gleich guter Berechtigung gegenüber: die Kirchen des besonderen Priestertums werfen dem Protestantismus vor, daß er den Menschen durch die Befreiung vom Fremdurteil seiner Selbstmächtigkeit gerade dort anheimgebe, wo es dessen am meisten bedürfe, wo es ihm am ernstesten ist, und daß die leidenschaftliche Verfechtung der Souveränität Gottes auf diese Weise der Ausbildung einer Souveränität des Menschen nicht zu widerstehen vermöge. Die Kritik an der Hierarchie aber verweist auf die Neigung zur Exemtion und darauf, daß am Punkte der stärksten Ausprägung die Anerkennung des notwendigen priesterlichen Handelns zentral eingeklammert und verderbt ist durch eine letzte Selbstmächtigkeit des souveränen Papsttums. Der berechtigte Protest gegen das letztere aber verhindert nun durchgreifend, daß das erstere in Ordnung kommt.

Kehren wir nun zuallererst vor der eigenen Tür, so müssen wir eingestehen, daß wir durch die römischen Mißbräuche uns zu der Annahme eines Menschenbildes haben drängen lassen, welches weder biblisch noch anthropologisch noch soziologisch zu halten ist. In allen drei

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Bereichen wird heute sichtbar, daß es so nicht geht. Die Erkenntnisse der Gegenwart zeigen schon auf dem philosophischen und naturwissenschaftlichen Felde, daß der Mensch von dem Gegenstande seiner Erkenntnis nicht getrennt werden kann. Damit ist aber eine zulängliche Selbstbeurteilung und Selbstverurteilung ausgeschlossen.

Die Struktur dieses Urteilens ist nun so beschaffen, daß neben dem notwendigen Fremdurteil immer zugleich das Eigenurteil stehen muß. Das eine kann das andere nicht ersetzen. Das Fremdurteil muß mir zum Eigenurteil verhelfen, und das Eigenurteil muß sich dem Fremdurteil vertrauend öffnen. Der Fremdurteilende aber vermag nur dann zu urteilen, wenn er mit dem Gegenüber, über den und das er urteilt, im tiefsten ebenso solidarisch wie von ihm unabhängig ist. Jesus Christus wird zum eschatologischen Richter erhöht, weil er als Sohn Gottes im Gehorsam unsere Natur angezogen und in der Passion ihre Schuld als eigene auf sich genommen hat — judex quia passus —.24

Dieses dialektische Verhältnis tritt in der Schizophrenie der Kirchenspaltung tödlich auseinander. Die alten Kirchen wissen sehr wohl und weisen mit Recht darauf hin, daß der Mensch der heteronomen Beurteilung bedarf, wenn er nicht in geistliche Willkür verfallen, der Selbstrechtfertigung und Selbsttäuschung oder der Verzweiflung anheimfallen soll. Aber sie vermögen in dieser Heteronomie ihr echtes Mitleiden, die compassio nicht deutlich zu machen, ja nicht wirklich zu wahren. Auf der anderen Seite verfällt der Protestantismus einer ungeistlichen Autonomie. Die einen haben keinen Platz für die Autonomie der Freiheit, und die anderen ebensowenig für die Heteronomie des uns konstituierenden Gegenübers, alles dies in mehr oder minder folgerichtigen Ausprägungen von verderblicher Einseitigkeit.

Beide Kirchen befinden sich demnach in einem gegenläufigen Gefälle, zur Heteronomie wie zur Autonomie, sie folgen gegenläufigen „Ansätzen”, „Prinzipien” und vermögen der Wucht dieses Gefälles keine wirksame Grenze zu setzen, selbst da, wo die Einsicht in die Mißbildungen und Gefahren nicht fehlt.

Der Versuch, dieser Spaltung im Leben selbst entgegenzuwirken, begegnet immer der Verdächtigung, dem Vorwurf, eben den Ansatz, das Prinzip, die Grundlage in Frage zu stellen, während doch gerade das Denken von einem solchen Ansatz her das Vorgegebene uns unzulässig in den Griff gibt. So haben auch die reformatorischen Kirchen eben nicht vermocht, gegen das exklusive Amtspriestertum das wahre Priestertum zu bewahren und darzustellen.

Damit verfehlen sie nun gerade eine zentrale Intention Luthers. Ihm machte eben das Personalpronomen, das „pro me”, das „pro nobis” erst das Evangelium zum Evangelium.25 Dieses „pro me” aber muß mir persönlich, konkret, vollmächtig zugesprochen werden.

Wird aber der Mensch auf die eigene Erkenntnis verwiesen, so wird

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ihm in dieser autonomen Erkenntnis das Evangelium ebenso zum (autonomen) Gesetz wie in irgendeiner heteronomen kirchlichen Satzung des Dogmas, des Kultus, der Moraltheologie. Die Verwechslung liegt genau so nahe zwischen dem Gehorsam Christi und dem Gehorsam gegen Menschen, wie zwischen der Freiheit Christi und eines Christenmenschen und der eigenen, selbstmächtigen Freiheit. Am allerwenigsten gibt es hier eine Faustregel und Rechtsvermutung, daß wir im Zweifel für die „Freiheit” zu unterscheiden hätten. Gerade diese stillschweigende Faustregel ist unter uns eine arge Macht der Verführung geworden.

Es ist freilich unmöglich, wie die Geschichte gezeigt hat, Wesen und Gestalt des Priestertums, gerade des besonderen Priestertums aller Gläubigen, durchzuhalten und zu bewahren, wenn man — korrespondierend und nicht exklusiv dazu — nicht wirklich riskiert, das besondere Priestertum auszubilden und darzustellen. Der Verlust des theologischen Begriffs des „Priestertums”, der diesen Namen verdient, zeigt das an. Heute werden so viele Menschen dazu verführt, sich der römischen Kirche in die Arme zu werfen, weil hier trotz aller offenkundigen Mängel und sogar zentrale Einwände das Priestertum wenigstens deutlich und sichtbar erhalten ist und entschlossen geübt wird.26

Das Problem des Priestertums klärt sich indessen sehr bald, sobald sein Wesen wieder klargestellt ist. Handelt es sich um ein notwendiges, stellvertretendes, den Menschen konstituierendes Handeln, so ist es eben darum wirkliches, wirksames Handeln, in welchen Begriffen wir diese Wirklichkeit auch zu begreifen versuchen. Geht es aber um dieses wirkliche Handeln in der priesterlichen Vollmacht der Sündenvergebung, zu binden und zu lösen, so wird für ein so konkretes und verantwortliches Handeln die Vollmacht nicht von jedermann mit der Selbstverständlichkeit in Anspruch genommen werden, wie das beim Begriff des allgemeinen Priestertums vorausgesetzt wird. Denn dazu bedarf es in der Tat einer Einsicht und einer Vollmacht, die eben nicht einfach jedermanns Sache sein kann. Jeder ernsthafte Mensch sieht das ein. Aber es wird doch damit zugleich deutlich, daß mit Begriff und Anspruch des allgemeinen Priestertums weit mehr die Teilhabe an den Rechten des Klerus, die Wiederherstellung der von der scholastischen Kirche vernichteten urkirchlichen und altkirchlichen Gemeinderechte gemeint gewesen ist, als der strenge verantwortliche, gefährliche, hingebungsvolle Dienst des Priesters am Nächsten. Der vielgerühmte mündige Christ hat in zunehmendem Maße Rechte in der Kirche in Anspruch genommen, ohne die Last des Dienstes zu tragen, woher diese Rechte stammen.