|17|
Teil I
Voraussetzungen
|18||19|
Kirchenrecht wird in den
bischöflichen Kirchen, der griechischen, der römischen und der
anglikanischen als kanonisches Recht bezeichnet. Der Begriff des
Kanons kommt in der Kirchengeschichte in drei Bedeutungen
vor1:
a) im Kanon der Heiligen
Schriften
b) in den Entscheidungen der
Konzilien, die in der Form einzelner regelhafter Sprüche teils
dogmatischen, teils kirchenordnenden Charakter tragen
c) im Kanon der Messe.
Im Sinne der rechten Regel des Handelns aus dem Glauben kommt der Begriff aber schon in 2. Kor. 10 und Gal. 3 vor. Der Schriftkanon, die regula fidei, die Bekenntnisse und die dogmatischen Konzilskanones gehören gemeinschaftlich in den Bereich der verbindlichen Lehreinheit, des Bekenntnisrechts. Die kirchenrechtlichen Kanones tragen im ersten Jahrtausend durchgängig den Charakter einzelner, wenn auch stark abstrakt gefaster und allgemeinverbindlicher Entscheidungen, sie sind Richterrecht der bischöflich-konziliaren Rechtsprechung. Kanon ist dem Begriff nach Regel, Richtschnur für das Leben der Kirche und des Christen in der Kirche, nicht Einzelsatz im ineinandergreifenden System von Normen. Als solche sind die Kanones der orientalischen Kirche ihr „heilig”. Selbst die moderne Textausgabe des Rechts der orientalischen Kirche von Alivisatos heißt „hoi hieroi kanones”. Vom Decretum Gratiani bis zum Codex juris canonici von 1917 ist niemand mehr auf den Gedanken gekommen, die Sätze des kanonischen Rechts heilig zu nennen. Sie sind klug, scharfsinnig, aber gewiß nicht heilig und sie sind Sache des Klerus und der Kanonisten. Mit den Kanones dagegen lebt heute noch die Gemeinde in der orientalischen Kirche, die hier ihr bestimmtes überliefertes Recht hat. Nicht allein dieses nimmt sie sorgfältig und wachsam wahr, sondern die ganze überlieferte Ordnung der Kirche. Erst im zweiten Jahrtausend werden sie in der römischen Kirche zusammengefaßt, systematisiert und kodifiziert. Sie verändern damit ihren Charakter. Die Abgerundetheit und Selbständigkeit der Einzelentscheidung, ihr charismatischer Spruchcharakter wird zur Teilbestimmung in einem System, zum Abschnitt und Gesetzesparagraphen, auch wenn die Bezeichnung „Kanon” traditionell festgehalten wird. Erst jetzt wird eigentlich aus dem kanonischen Recht Kirchenrecht als Rechtssystem eines geschlossenen Körpers, der sich in einem ebenso geschlossenen Rechtssystem widerspiegelt.
Den Umbruch, welchen die Systematisierung und Rationalisierung des
|20|
kanonischen Rechts bedeutete, hat Wolfram von den Steinen als Nichtjurist verständnisvoll beschrieben:
„Das Gesetzbuch der Christen war schon immer da: die Bibel beider Testamente. Als ein vielgliedriges Buch des Lebens bedurfte sie allerdings der Auslegung für den besonderen Fall und den wechselnden Tag. Wie der Geist die Bibel diktiert hatte, so konnte nur der Geist sie recht ins Praktische übersetzen. Auf ihn vertrauend hatten die Hirten der Kirche seit den Aposteln die göttliche Weisungen rechtlich ausgelegt. Die großen und auch kleineren Konzilien formulierten Leitsätze, canones: viele Lehrer und Bischöfe taten das gleiche, und mit besonderem Anspruch formulierten die Päpste des fünften Jahrhunderts ihre Bescheide, die Dekretalen. Das ging dann als Präjudiz von einer Generation in die andere”.
Er sprich dann zunächst von dem Einfluß der Herrscher auf die Wahlen und ihrem Vorstimmrecht und fährt dann fort:
„Dahin also hatte sich’s mit den Kanones als Richtschnur lebendig
ausgebildet. Aber jetzt brachten die Reformer einen neuen Ansatz:
die Kanones waren Gesetz. Was sie nicht sagten, stand in
dem Verdacht, von Übel zu sein, solang es nicht durch
Kirchenbeschlüsse formell geheiligt wurde. Und demnach erachteten
die Reformer, von ihren Autonomiegedanken gelenkt: da in den
Kanones vom Herrscher nichts steht, und da dessen Vorstimme eine
„freie”, nämlich eine autonom-klerikale Wahl nicht zuläßt, ist
die Mitwirkung des Herrschers unkanonisch. Sie nahmen daher den
Herrscher als Außenstehenden ... Die Kanones lagen vor als ein
vielschichtiges, durch tausend Verhältnisse bedingtes Material.
Das mußte gesichtet werden, wenn es wirken sollte, und hier tat
der burgundische Kardinal Humbert von Silva Candida den
entscheidenden Schritt: im Geiste der Reform verfaßte er eine
zielbewußte Auswahl aus der Masse in einer Kanonessammlung, die
allen späteren die Richtung wies. Mit seiner Art des
Herausgreifend und Aufreihend veränderten die alten Worte ihr
Gewicht, leicht sogar ihre Bedeutung ... Aus langen Mahn- und
Lehrbriefen wurden Einzelsätze ausgeschnitten: aus lebendigen
Anweisungen wurden Paragraphen, und aus der Reihung der
Paragraphen entstand — noch nicht zwar ein Gesetzbuch, aber doch
ein Ansatz dazu ...
So erwuchs aus alten Worten
etwas Neues für eine ohnedies anders gewordene
Welt2”.
In den vorsichtig abgewogenen Worten wird die ganze Problematik der Kirchenrechtsgeschichte sichtbar. Aus der Regel des geistlichen Lebens der Kirche wird das definitorische Gesetz. Aber eben hier wird sichtbar, wie eng und relativ die Gleichung Recht = Gesetz an diese Revolution gebunden ist, wie wenig gerade diese Vorstellung aus dem Geist der Freiheit und der Freiheit des Geistes geboren ist.
Die gleiche Rationalisierung sprengt das Verhältnis von Herrscher
|21|
und Kirche. Hat die Kirche ein einzelnes, souveränes Oberhaupt, so kann dies nur entweder der Papst oder der Fürst im Besitze der Suprematie (wie in England), des Summepiskopats (wie in den Ländern der Reformation) sein. Gerade die Subjektstellung hebt das in sehr verschiedenen Formen mögliche Zusammenwirken auf. So wird denn auch dem souveränen Papsttum nur die partikulare fürstliche Souveränität entgegengestellt.
Der hier festgestellte weltgeschichtliche Bruch in Geist und Ordnung der Kirche einschließlich ihres Verhältnisses zur Welt ist ein bisher unbewältigtes Faktum, etwas anderes als ein Moment in einem romantischen Abfallschema.
Est ist daher von der Sache her sehr fraglich, ob der Codex von 1917, der sich als kanonisches Recht versteht und der in Kanones eingeteilt ist, die Strukturmerkmale des kanonischen Rechts überhaupt noch aufweist. Denn wenn man an die Stelle der Kanones Paragraphen setzte, würde sich gar nichts ändern: nicht durch die Struktur, nur durch den Gegenstand unterscheidet sich der Codex von einem weltlichen Gesetzbuch.
Wenn sich Luther selbst wie die Bekenntnisschriften gegen das mittelalterliche Papstrecht auf das Konziliarrecht der alten Kirche berufen, so ist doch weder eine Wiederaufnahme der Grundsätze noch eine Fortbildung des älteren kanonischen Rechts in bewußter Arbeit erfolgt; wohl aber ist in vielfacher Weise die kanonistische Rechtstradition in der nach-reformatorischen Kirchenrechtslehre, insbesondere der Konsistorialgerichtsbarkeit wirksam geworden.
Der sachliche und formelle Übergang vom kanonischen zum Kirchenrecht als dem jeweiligen Recht beliebiger Kirchenkörper bedeutet eine bedenkliche Verschiebung. Das Recht der Kirche verliert sowohl seine Einzigartigkeit wie seine Verbindlichkeit für die allgemeine Kirche, aber auch den Charakter als geistliche Lebensregel oder wenigstens den nahen Bezug auf eine solche und den analog verfassten Lehrbestand. Es wird unversehens zum Körperschaftsrecht eines — oder mehrerer — Subjekte „Kirche”. Während sich diese Relativierung und die Wandlung von der geistlichen Entscheidung und Lebensregel zur Ordnungsform vollzieht, dient seit jenem Wittenberger Vorgang, vor allem aber seit Aufklärung und Idealismus der Begriff des Kanonischen Rechts unbesehen als polemisches Schlagwort. Dieser Verdammung sind weder die großen Leistungen noch die wirkliche Probleme und Entartungserscheinungen dieses Lebensgebietes der Kirche bekannt3.
Da wir nicht die Freiheit habe, um der Sache willen einen schlechteren Begriff gegen einen besseren, aber durch historische Erfahrungen und Ressentiments belasteten auszutauschen, so werden wir auch nicht vom (auf die Körperschaft hinlenkenden) Begriff „Kirchenrecht” zum kanonischen Recht zurückkehren können. Es hinge freilich nichts daran,
|22|
wenn wir die Sache recht festhalten könnten4. Aber nur im Bewußtsein dieser Problematik und im Zusammenhang der Gesamtentwicklung kann vom Kirchenrecht gehandelt werden.