3. Verallgemeinerung des Priestertums

Wie das schon zitierte Wort „omnis sanctus sacerdos” (s.o.) zeigt, ist dem mittelalterlichen kanonischen Recht der Begriff des Priestertums aller Gläubigen nicht fremd. Die rechtliche Wirkung jenes Satzes war jedoch gering. Tragend und formbildend  war das in der Hierarchie verfaßte besondere Amtspriestertum. Wesentlich anders ist die Stellung der amtslosen Gemeindeglieder in der alten und orientalischen Kirche. In der Antithese zur Exklusivität der Hierarhie wurde das Priestertum aller Gläubigen ein hochgeschätzter Haupt- und Grundsatz der reformatorischen Kirchen. Mit der überraschenden Schnelligkeit, mit der sich Revolutionen durchsetzen, war mit einem Schlage in der Reformation das tausendjährige Gebäude der kirchlichen Hierarchie zerstört und die Ordolehre gegenstandslos geworden. Jeder Christ war gleichsam reichsunmittelbar geworden, und mit Erstaunen stellte man fest, daß es auch ohne das bisher für unentbehrlich Gehaltene ging oder zu gehen schien.

Auch das Priestertum aller Gläubigen muß sich vor der Schrift rechtfertigen. Diese Rechtfertigung ist nicht so selbstverständlich wie es scheint. Und weiterhin ist zu fragen, was eben der in der Reformation geprägte Begriff aus der biblischen Erkenntnis gemacht hat.

Die neutestamentliche Forschung unserer Zeit hat einen doppelten Tatbestand erhoben: es gibt in der Hl. Schrift eine besondere Berufung zum Amt, zur Verkündigung und Leitung der aus der Verkündigung entstehenden Gemeinden und die geordnete Vielfalt des Geistesgaben in dieser Gemeinde. Jeder Gläubige empfängt eine besondere unverwechselbare Gabe des Geistes: Geister zu unterscheiden, zu weissagen, zungenzureden. Alle diese Gaben hängen zusammen; sie widersprechen sich nicht in ihrer Mannigfaltigkeit, denn sie sind Gaben des einen Geistes. Aber sie sind als Gaben auch deutlich voneinander zu unterscheiden. Die Gabe wird zugleich als Berufung verstanden, und man soll in dem Beruf bleiben, zu dem man berufen ist. Der Geist gibt, was ihm gefällt, und wir sollen bewahren, pflegen und üben, was uns gegeben ist, nicht nach dem streben, was uns versagt ist.

Die Fülle der freien Geistesgaben widerspricht nicht der Aussonderung

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und Aussendung, der besonderen Berufung zur Verkündigung, Mission, Leitung, wiewohl jeder Christ ein geborenen Missionar ist. Besondere Berufung und freies Charisma sind nicht Gegensätze; beides sind charismatische Tatbestände und zugleich aufeinander bezogen. Die Träger des freien Charismas beurteilen und prüfen das Tun der Träger der besonderen Berufung, aber diese lassen auch die Charismata nicht einfach wild wachsen, sondern prüfen als Geistträger die Geister, die sich hier kundtun. Alle Charismata sind eingebunden in das Ganze der ekklesia.16

Dieser doppelte Tatbestand und das Verhältnis beider schließt die Exklusivität jedes von ihnen aus. Das Charisma ist nicht auf die Träger der besonderen Berufung beschränkt — aber ebensowenig auf die Träger der vielfachen Charismata, etwa in dem Sinne, daß Auftrag und Vollmacht der besonderen Berufung von ihnen ausginge, die Gestattung des Handelns bei ihnen läge.17

Auch die besondere Berufung ist die ausdrückliche Indienstnahme eines bereits vorhandenen Charismas.18

Beides in seiner Unterschiedlichkeit ist zugleich zusammengeschlossen durch die Einheit des einen Geistes, der in beidem wirksam ist, so daß in der Gesamtheit der Gläubigen jeder und alle zusammen zur Mitwirkung und Auferbauung der ekklesia berufen, verpflichtet und berechtigt sind. In dieser allgemeinen Berufung gehen die besonderen Gaben ebensowenig auf wie aus ihr hervor, ebensowenig, wie sie in Gegensatz zur besonderen Berufung gestellt werden können. Niemand aber kann sich hier unverpflichtet und spezialistisch auf seine Berufung allein zurückziehen, da es immer um das Ganze geht. Aber diese Inanspruchnahme aller deckt eben nicht den ganzen Tatbestand.

Es fragt sich darum, ob die reformatorische Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen dem entspricht.19

Luther hat mit freimütigem Stolz das vielzitierte Wort geprägt, daß ein jeder Christ, der aus der Taufe kriecht, ein Papst, Bischof, Pfarrer usw. sei. Dieses Wort ist seither Programm und Modell für die Bestreitung hierarchischer Ausschließlichkeitsansprüche geworden. Es fragt sich nur, ob mit dieser zu Recht erfolgten Bestreitung der Ausschließlichkeit des kirchlichen Amtes zugleich das Richtige im Sinne des biblischen Vorbildes ausgedrückt worden ist.

Es ist, soweit ich sehe, selten genügen beachtet worden, daß ja von diesen getauften Christen immer nur wenige und keinesfalls alle zu geistlichen Ämtern berufen sind. Es wird hie also im Potentialis geredet: sie könnten es alle werden.20 Das Entscheidende ist dazu grundgelegt in der Taufe — eben deswegen kommt Entscheidendes hier nicht mehr hinzu. Aber der Heilige Geist gibt konkret und nur konkret in völliger Freiheit an Gaben, was ihm gefällt und wem zu geben ihm gefällt. Er gibt sich allen, aber jedem in personhafter besonderer Weise.

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Priestertum aller Gläubigen kann also nur heißen, daß alle Christen miteinander Priester sind, zugleich aber jeder Christ in besonderer Weise eine Gabe in der Gemeinde hat. Wenn wir diese Gaben nicht so zu erkennen vermögen, daß wir allen eine besondere Bezeichnung geben, so sind sie doch da, und jeder einzelne ist an die Gemeinde und an den Nächsten gewiesen, ihnen in einer unvertretbaren Weise zu dienen.

Wenn es erlaubt ist, alle diese Gaben als priesterliche zu bezeichnen, so hat jeder einen besonderen priesterlichen Beruf. Dieser kann in der Geisterunterscheidung, in der Krankenheilung, in der Weissagung, in der Diakonie, aber auch in der ὑπακουή liegen. Priestertum aller Gläubigen heißt besonderes Priestertum. Das Priestertum als konkrete personale Beauftragung und Bevollmächtigung ist nie bloße Allgemeinheit des Geistbesitzes. Der personale Charakter des biblischen Glaubens würde in dieser Anschauung nicht ausgedrückt, sondern vernachlässigt.

Diesen biblischen Akzent auf der Besonderung der Gaben hat der Begriff des Priestertums aller Gläubigen nicht nachhaltig und eindeutig gewonnen. Er hat vielmehr in einer bedeutungsvollen Verschiebung den Sinn des „allgemeinen Priestertums” erlangt. Die biblische Besonderung der Gaben in dem einen Geiste tritt zurück gegenüber der Betonung der Allgemeinheit des Geistes. Die Besonderung der Gaben erscheint als eine sekundäre Individualisierung, so wie sich der Strahl des Lichtes an verschiedenen Gegenständen verschieden bricht und sie zum Leuchten bringt. Die Besonderung liegt damit nicht mehr in der freien Verfügung des Geistes, der auch die menschlich gesehen Untauglichen tauglich, der die Stummen und die Steine reden macht. Die Besonderung liegt jetzt in den menschlichen Eigenschaften, auf die der Geist belebend trifft. Diese Vorstellung des allgemeinen Priestertums hat die humanistischen und pelagianischen Elemente, welche man zu bekämpfen auszog, in Wahrheit nicht ausgeschieden und überwunden. Man hat sich zwar von jeder Vorstellung freigemacht, welche in mehr oder minder feiner Form das Handeln Gottes und des Menschen zum Heil addiert. Und doch wird das menschliche Subjekt zu einer Voraussetzung des Heils.

Auch das Interesse an den besonderen Gaben wird immer schwächer. Wenn das Entscheidende in der Geistmitteilung überhaupt, oder in dem allen gemeinsamen, verschiedene geistliche Lebensformen geradezu ausschließenden Glauben liegt, ist die Besonderheit der Gaben notwendig von geringerer, sekundärer Bedeutung.

Tatsächlich hat auch der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen keineswegs die von der Ausschließlichkeit des Amtspriestertums verdrängten Charismata vervielfältigt und entbunden. Im Gegenteil. Die vorreformatorische Christenheit rechnet in einem grundsätzlich viel höheren Grade mit unterschiedlichen Berufungen, Gaben, Formen der Frömmigkeit und der geistlichen Gemeinschaft. So berechtigt der Kampf

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gegen die Formen der Möncherei und Werkgerechtigkeit war, so hat doch dieser hier gar nicht treffende Gedanke eine unendliche Uniformität und ein unüberwindliches Mißtrauen gegen alle besonderen Formen des Geistes hervorgebracht, gegen jede Berufung, die nicht als allgemeine jedermanns Sache ist. Die besonderen Charismata sind im Gegenteil als verdächtig und anomal weitgehend aus dieser Allgemeinheit in das Sektenwesen oder überhaupt aus dem Raum der Kirche verdrängt worden. Ohne Zweifel ging das Pathos, das Interesse, die Tendenz im Ganzen nicht auf das Besondere, sondern auf das Allgemeine. Das Amt verlor seine Gliederung und die Kirche die Vielfalt. Alles teilte sich eindeutig in Prediger und Predigthörer. Schwache Ansätze einer kirchlichen Diakonie in Armen- und Kastenordnungen gingen erstaunlich schnell verloren. Eine konkrete Anwendung des Gedankens des Priestertums aller Gläubigen lag in dem lange Zeit wirksamen Gedanken des Hausvaters als des Priesters der Hausgemeinschaft, aber auch hier in einer sehr allgemeinen Form, gerade nicht in der Differenzierung verschiedener Gaben, aus der Gemeinde herausverlagert und vollends abhängig von historisch-vergänglichen patriarchalischen Lebensformen. So hochzuschätzen die fromme Mutter ist, die ihre Kinder beten lehrt — die paulinische Fülle der Charismata, in dem sich die Gemeinde erbaut, ist mehr und anderes.

Mit diesem Gefälle zur Allgemeinheit tritt nun eben doch zu der richtigen Erkenntnis der Geistbegabung alles Gläubigen ein fremdes Element hinzu. Der Mensch wird durch Erwählung, Rechtfertigung, Taufe zu einem geistlichen Subjekt, dem dann alles anheimgegeben ist. Eben dies widerstreitet der biblischen Beschreibung des Verhältnisses von Christus und Gemeinde. Das „alles ist euer” heißt eben, daß alles in dem angebrochenen neuen Äon enthalten und den Bürgern des neuen Reiches anheimgegeben ist, nicht aber, daß jeder über alles gesetzt ist, zumal „nicht alles zuträglich ist”. Ein Gliedmaß am Leibe Christi ist nie etwas für sich allein, sondern eben nur Gliedmaß. Es ist als solchen identisch mit der besonderen Einfügung und Zuordnung, vermöge deren es eben Gliedmaß ist. Die Incorporation ist kein Accidens eines Heilsstandes, sondern dieser selbst. Wenn die Bausteine nicht tote Klötze, sondern lebendige Glieder sind, so sind sie eben in allem, was sie sind, in ihrer Besonderheit unvertretbar. Die Vorstellung gleicher Subjekte widerstreitet entscheidend dem personalen, unvertretbaren Charakter der Zuordnung des einzelnen zu Christus und seinem Leibe, der Kirche. Denn es geht nicht um die geistlichen Subjekte mit gewissen Qualitäten, sondern das besondere und konkrete Zugeordnetsein in der ebenso besonderen und konkreten Berufung und Geistverleihung. Eine so verstandene Allgemeinheit des Geistes würde der Einheit des Geistes in seiner Vielfalt gerade widersprechen. Mit der Sprengung der Ausschließlichkeit des priesterlichen ordo ist in keiner Weise der Subjektbegriff

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überwunden, der ihm zugrundeliegt. In diesem Subjektbegriff bleibt gerade jene potentielle Fähigkeit, nur daß sie losgelöst von besonderen Weiheakten jedem zugesprochen wird. An die Stelle einer Hinzufügung besonderer Fähigkeiten zu den allgemeinen tritt die Verallgemeinerung der besonderen Fähigkeiten. Gerade die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben in ihrer herkömmlichen Form ist wehrlos gegen ein solches Verständnis. Denn da der Glaube ein solcher des einzelnen ist, muß auch die Rechtfertigung als eine solche des einzelnen verstanden und dahin aufgefaßt werden, daß die Zuordnung zur Kirche eine konsekutive Folge ist. Der konstitutive Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Inkorporation kann so nicht mehr verständlich gemacht werden. Das theologische Postulat, daß beides identisch sei, reicht nicht aus, um den Sachverhalt gegen die mächtige individualistische Tendenz dieses Gedankens zu verteidigen. Solange ohnehin eine ungebrochene Kirchlichkeit bestand, mochte das nicht viel ausmachen — als dies nicht mehr vorhanden war und aus äußeren und geistesgeschichtlichen Gründen schwand, wirkte sich dieser Umstand in dem Verlust einer Lehre von der Kirche und darin aus, daß nun gerade die Individualisierung des Menschen unabhängig von der Kirche als dem Leibe Christi in schriftwidriger Weise als das eigentliche Wesen und Verdienst rechter biblischer Lehre und der Reformation gepriesen wurde. Das Evangelium wird mit einer Geschichtsphilosophie verwechselt, nach der der Mensch fortschreitend zu sich selbst kommt. Ob dies durch Offenbarung oder Vernunft geschieht, ist dann ein verhältnismäßig unwichtiger Unterschied. Das „esse cum Christo” kommt aus dem Blick oder wird bis zur Bedeutungslosigkeit sublimiert. Nun werden große geschichtliche Bildungen, die immer etwas von Notwendigkeit in sich haben, nie einfach vernichtet. Die Form, in der sie abgelöst werden, ist gerade umgekehrt der Vorgang der Verallgemeinerung. Seit es keine Herren mehr gibt, ist jeder ein Herr oder läßt sich wenigstens als solcher anreden. Das Eigentum wird nicht aufgehoben, sondern in Gemeineigentum überführt. Nie werden die Ansprüche einzelner einfach verneint: sie werden immer auf das Ganze übertragen. Damit verlieren sie ihr eigentlich fruchtbar Besonderes.

Das Wort „allgemein” ist der typische Leitbegriff für diesen soziologischen Vorgang. So hat auch die Reformation nicht das Papsttum durch das Priestertum aller Gläubigen überwunden, sondern im allgemeinen Priestertum verallgemeinert. Wenn wir das Papsttum als den Souveränitätsanspruch des Menschen über das Wort Gottes und den Heiligen Geist bekämpfen, so haben wir selbst das Papsttum bis in die letzte Hütte verbreitet. Das bewirkt nicht nur den Verlust der Mannigfaltigkeit im Leben der Kirche, sondern vor alledem eine allgemeine Verführung der Geister. Das Papsttum verkörpert den Anspruch, daß ein bestimmter Hoherpriester exklusiv über alles und alle richte: nunmehr beansprucht

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jeder Christ, allein und ohne die Gemeinschaft des Glaubens zu jeder Zeit über alles zu richten.

Mit dem besonderen Priestertum aller Gläubigen, seiner Umsetzung in das allgemeine Priestertum aber schwindet überhaupt das Verständnis für das, was Priestertum ist — es gibt weder besonderes noch allgemeines Priestertum mehr — und schließlich rühmt man sich dessen sogar als religiösen Fortschritts. Soweit es aber erhalten bleibt, und aus der geistlichen Notwendigkeit hervordrängt, besteht keine Bereitschaft mehr, es in seinem Dienst konkret anzunehmen.

Das Priestertum — als besonderes in Gestalt und Vollzug verderbt — verliert mit der Verallgemeinerung selbst im Begriff sein wirkliches Wesen und seine Konturen. Es wird mit Dingen verwechselt und gleichgesetzt, die löblich und gut, aber kein Priestertum sind.

Daraus entsteht zwangsläufig eine sog. forensische Rechtfertigungslehre, die in einer Reihe ständiger innerer Rechtfertigungsakte sich immer mehr von allem Leiblichen und Konkreten, zugleich von allen konkreten Verpflichtungen und Folgen entfernt. Schließlich muß daraus die intellektuelle Selbstverurteilung werden. Mit dem selten begründeten und um so leidenschaftlicher verteidigten Postulat, daß die remissio peccatorum zugleich schon Wiedereingliederung in den Leib Christi bedeute, ohne konkreten Bezug auf die sanctorum communio, wird sie aus dem Lebenszusammenhang dieser communio herausgerissen und zur individuellen Selbstgewißheit des geistlichen Subjekts. So wird die Souveränität Gottes zur Begründung eines ekklesiologischen Doketismus und zur Rechtfertigung eines idealistischen Personbegriffs mißbraucht. Nach den gleichen geistigen Fallgesetzen, nach denen die sakramentale Kirche der Vergegenständlichung des Heils verfällt, verfällt die Kirche des Wortes dem gegenstandslosen Idealismus. Hier hat keiner dem anderen etwas vorzuwerfen.21