Wir sahen, daß besonderes Priestertum ganz gewiß gerade dort nicht zu begründen ist, wo man es traditionell am ehesten sucht: in der
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kultisch-liturgischen Verrichtung adversus deum. Hier handelt der Amtsträger mit der Gemeinde, als praecipuum membrum der Gemeinde, aber weder kumulativ noch gar exklusiv zu ihr. So heiligt sich Jesus priesterlich für sein Volk (Joh 17); das Priestertum nach 1. Petr. 2 ist dagegen ein solches seines Volkes, das ihm zugehört, nicht dasjenige vieler einzelner, ihm vergleichbarer Priester. Wer opfert, ist hier die Gemeinde des Priestertums unter Vorantritt eines dieser Glieder. Hier wird die radikale Solidarität Christi mit seiner Gemeinde sichtbar.
Eben darum aber ist es genau umgekehrt, wo es um die Zuwendung, den Zuspruch und die Austeilung der Gnadengaben geht. Eben hier vollzieht sich das, was der Mensch nicht an sich selbst vollziehen kann: Richten und Begnadigen, alles dies vice Christi. Hier wird der Grund sichtbar, der zur Ausbildung des besonderen Priestertums geführt hat. Wie kann gerichtet, gemahnt, verwiesen, wie zugesprochen und freigesprochen, kurz wie gebunden und gelöst werden, wenn nun eben der dazu Berufene nicht in Unabhängigkeit dem anderen gegenübersteht? Deshalb ist bei aller geistlichen Hilfe der Ehegatte eben nicht der rechte Beichtiger, ebensowenig der nahe, durch tausend Gemeinsamkeiten verbundene Freund. Deswegen beichten mit Recht viele fromme Katholiken nicht dem Ortspfarrer, sondern einem fremden Priester, nicht um sich dem Ernst der Beichte zu entziehen, sondern um dieses Verhältnis aus nicht dazugehörigen Bindungen zu lösen. Um dieser Heteronomie willen muß der regelmäßige Amtsträger herausgenommen und dabei selbst einer strengen Heteronomie unterworfen werden. Es ist eine völlige Verkennung, daß eine solche Herausnahme durch wissenschaftlich-theologische Bildung, d.h. einen höheren Grad theologischer Bewußtheit, die gewiß auch nötig ist, erreicht werden kann. Darauf die Kirche zu bauen, ist idealistischer Kulturprotestantismus, abgesehen davon, daß die Bildung des Pfarrerstandes unmöglich eine so hohe Anforderung erfüllen kann. Priester kann nicht sein, wer sich nicht dem priesterlichen Dienst des fremden Urteils und des fremden Losspruchs bereitwillig unterzieht. Unter dieser harten Bedingung ist diesen vicarii instrumentales das Amt der Schlüssel anvertraut — nicht exklusiv, aber separative und specialiter.27
Demnach gibt es drei Anschauungsweisen vom Priestertum:
1. Priester und Laien sind
als Stände der Kirche durch einen ontischen Charakter ein für
allemal so unterschieden, daß der geweihte Priester als solcher
etwas besitzt, was dem Laien abgeht. Er ist eigentlich ein
qualifizierter Laie.
2. Alle Christen sind
Priester, so daß es dadurch gegenstandslos wird, vom Laien zu
sprechen. Durch die Verallgemeinerung fällt jedoch der
Gegenbegriff fort, so daß sich gerade der Priesterbegriff selbst
entleert. Eigentlich ist so der Laie ein unvollkommener,
inaktiver, unzulänglich unterrichteter, verhinderter Priester,
etwas, was es nicht
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geben dürfte. Von da aus werden immer wieder hochgespannte und
ebenso unerfüllbare Forderungen an diesen Laien gestellt, er aber
auch allzu leicht idealisiert. Auf beiden Seiten ist ein
mehrschichtiger Tatbestand auf eine Linie gebracht und
damit verfehlt. Die folgerichtige Durchführung muß daher immer
irgendwo mit der Wirklichkeit zusammenstoßen; je konsequenter,
desto mehr. Die beiden Antinomien, die von Aussonderung und
Verbundenheit und diejenige der Handlungsrichtung sind aufgelöst;
sie lassen sich eben nicht eindeutig verrechnen. Weder der
humanistisch-optimistische Stufengedanke noch die radikale
Gleichheit entgeht diesem Fehler, weil es ein gemeinsamer Fehler
der Methode, der Denkform ist.
3. Alle Christen sind
wirklich Priester und Laien zugleich, je nach der Rolle, in die
sie treten: als Handelnde sind sie Priester, als Empfangende
Laien.
Innerhalb dieses
priesterlichen Handeln scheiden sich dann wiederum noch die
Rollen:
a) adversus deum sind alle
Priester in Opfer und Fürbitte, und dieses Handeln steht, weil
hier das Volk
Christi — selbst in der
äußerlichen Vereinzelung — gemeinschaftlich handelt, dem Laientum
näher.
b) adversus hominem dagegen
ist der zum Vicariat Christi Ausgesonderte und Bevollmächtigte
gerade als einzelner wirklicher Priester. Diese Ausformung des
Priestertums der Christen ist besonderes Priestertum.
c) adversus hominem ist
schließlich ein jeder kraft der ihm verliehenen Gabe außerhalb
des besonderen Amtes in besonderer Weise ein Priester — in der
Auferbauung der Gemeinde durch das Charisma wie in der
Diakonie.
Es wird aus dem Gesagten deutlich, daß weder mit den formalen Begriffen „allgemeines” und „besonderes” Priestertum noch mit den Begriffen „Priester” und „Laie” im Sinne des ausschließenden Gegensatzes die Wirklichkeit des Priestertums ausgesagt und festgehalten werden kann. Jene Allgemeinbegriffe zeigen vollends nur das geringe sachliche Interesse an, welches nicht bis zu inhaltlichen Bestimmungen durchträgt.28
Jene drei Gestalten des Priestertum treten auch in drei gänzlich
verschiedenen soziologischen Formen auf:
1. Im ersten Fall
handeln alle
in der Gemeinde
gemeinschaftlich. Soweit ein Amtsträger als Sprecher, Liturg,
Vorbeter hier auftritt, ist er primus inter pares, im engeren
Sinne „Ältester”, presbyteros im Sinne relativer Unterschiedenheit. — (Congregatio im
echten Sinne, als Volk.)
2. Im zweiten falle aber
handeln gerade einzelne oder mehrere einzelne in gleichen oder
vergleichbaren Verrichtungen gegenüber der Gemeinde miteinander
oder unabhängig voneinander analog. (Episkopat im echten Sinne,
als Väter.)
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3. Im dritten Falle handeln viele in wesentlich verschiedenen Verrichtungen nebeneinander zur Auferbauung der Gemeinde und des Liebesdienstes gegenüber jedermann überhaupt. (Diakonie im echten Sinne, als Brüder.)
Die erste Form ist eine gemeindlich-gemeinschaftliche, in welcher nur praecipua membra hervortreten, aber keine grundsätzlichen und gegenständlichen Unterschiede. Auf die Ältesten in diesem Sinne trifft in besonderem Maß das Wort des Chrysostomus zu, daß das Volk das priesterliche Pleroma des Bischofs sei. Es ist wesentlich, ob die Gemeinde mit und hinter ihm steht. Und seine Last ist um so größer, je mehr er für sie stehen muß, die nicht da sind und stehen. Die scharfe Trennung des römisch-katholischen Priesters von der Gemeinde — im Gegensatz zur orientalischen Kirche! — stammt aus einem tiefen Pessimismus über die Gemeinde als „Welt”, welcher in nicht zufälligem Gegensatz zu dem sonstigen Optimismus der katholischen Anthropologie steht.
Die zweite Form kann man als die „episkopale” bezeichnen, wenn man den eigentlichen Wortsinn des „schauen auf jemand”, „episcopein”, nicht so sehr die historische Form des Episkopen- und Bischofsamtes im engeren Sinne im Auge behält. Diesem episkopalen Typus gehören dann zu: Verkündigung und Spendung der Sakramente, aber auch die consolatio fratrum und das Hausvateramt.
Die dritte form kann man als die diakonale bestimmen — vielerlei Dienste, die sich unterscheiden, aber nicht widersprechen, die aber der Prüfung und Einordnung bedürfen, die im übrigen als Dienst an der Welt von unübersehbarer Vielfalt sind. Es handelt sich also in dieser Typologie nicht um den Unterschied von Amtsträger und Dienst außerhalb des Amtes, sondern um eine Inhaltsbestimmung allgemeiner Art. Alle drei Formen kommen im Amt wie außerhalb des Amtes vor, wie schon die inhaltlichen Bestimmungen, die Beispiele zeigen. Daß die einen Verrichtungen spezifisch im Amte, andere allen zukommen, ergibt sich dabei von selbst. Es gibt nicht den Amtsträger an sich, den Laien an sich, sondern dies richtet sich nach der Rolle, in der ein jeder handelt. Gerade damit ist der ursprüngliche Sinn von ordo wiedergewonnen.
Ohne Berücksichtigung dieser sachlichen und soziologischen Unterschiede ist gedankliche Verwirrung in diesem Bereich schwer zu vermeiden. Daß die geschichtlichen Amtsformen nicht einfach diesen Unterschieden gefolgt sind und diese nicht rein darstellen, daß damit umgekehrt also nicht jene Amtsformen gemeint sind, liegt auf der Hand. Trotzdem schlagen diese Kriterien bis zu einem gewissen Grade in den geschichtlichen Amtsformen durch, auch wenn es etwa in breitem Maße gemeindeleitende Presbyter gibt oder Presbyter und Episkopen als synonyme Bezeichnung.
Demnach gibt es ein dreifaches Priestertum der Gläubigen. Weder als Priester noch als Laie ist jedoch der Christ ein autarkes geistliches
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Subjekt. Sodann geschieht alles, was hier überhaupt geschieht, immer per Jesum Christum dominum nostrum. Das ist so allgemeine Lehre der Kirche, daß mit dem Hinweis auf diesen Satz die Unterschiede der Auffassung nicht dargestellt und ausgetragen werden können.
Gibt es demnach in der Entfaltung des besonderen Priestertums aller Gläubigen drei Hauptrichtungen, die episkopale, die presbyterale und die diakonale, so ist damit noch nichts darüber gesagt, wieweit dem bestimmte Ämter entsprechen. Umgekehrt kommen vielmehr alle drei Richtungen in der Form des Amtes als ständiger Zuordnung, als Berufung und Bevollmächtigung zu dauernder Widmung, wie in aktualer und zeitlich begrenzter Form vor. Es hat daher die Kirche nicht falsch gelehrt, wenn sie die drei Ämter lehrte, wie auch die anglikanische Kirche an diesen ausdrücklich festhält.29 Es darf darüber nur nicht verkannt und beiseitegestellt werden, daß es an seinem Platze und in seiner Form jene drei Formen der Verrichtungen am Leibe Christi auch außerhalb des Amtes gibt. Die Kirche, die nur die drei Ämter hätte, wäre ebenso unvollkommen und gelähmt, wie wenn sie ohne Ämter wäre. So wenig wie das Amt des Diakonen dem diakonischen Dienst des Christen überhaupt etwas wegnehmen kann und soll, sowenig die Mitwirkung am episkopein und das Sprechen für die Gemeinde coram deo. Am allerwenigsten gibt es nur ein im Grundsatz undifferenziertes Amt. Sowenig das Amt der Kirche körperschaftlich begründet und verstanden werden kann, sowenig kann es aber auch einem geistlichen „Zweck”-Gedanken entstammen: es hat seinen Sitz im Leben, seinen Ursprung und seine Würde aus und im Gottesdienst der im Namen Jesu Christi versammelten Gemeinde, der ekklesia.
Kehren wir zu unserem rechtssoziologischen Ausgangspunkt zurück.
Aus der radikalen Aussonderung ergibt sich jene rechtliche
Drittwirkung:
1. im Verhältnis von Kirche
und Imperium, Staaten, Welt überhaupt, die sich durch Auftreten
einer Größe eigener Rechtsexistenz bemerkbar macht (vgl. Kap.
XVIII),
2. innerhalb der Kirche im
Verhältnis von Amt und Gemeinde.
Aus der Unvertretbarkeit des priesterlichen Handelns ergibt und vertieft sich die Drittwirkung des Zweierverhältnisses dahin, daß beide Partner immer nur in der Unterschiedenheit am anderen den Dienst vollziehen können, zu dem sie berufen sind, in der Unterschiedenheit miteinander verbunden und verschränkt, und in der Verschränkung voneinander unterschieden, füreinander einstehend. Systematisch verbinden sich hier Trinitätslehre und Christologie.
So zeigt sich, daß die Kirchenrechtsverneinung Sohms und Emil Brunners kein bloßes „Mißverständnis der Kirche”, nicht nur die spirituale Zersetzung einer geschichtlichen, aber eben letztlich eben doch nur historischen Form, auch kein einfacher Irrtum ist: es ist die Erzetzung des
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römischen Papsttums durch das Papsttum aller Gläubigen, der Souveränität Eines durch die Souveränität jedes einzelnen. Man kann nicht sicherer dem Irrtum zur Linken verfallen, als wenn man sich am Irrtum zur Rechten orientiert.
Verbinden wir nun die Gedanken über das Priestertum mit denjenigen über das Gnadenrecht, so ergibt sich folgendes:
Wir haben gesehen, daß der Gnadenbegriff sich nicht auf die Restitution eines zerstörten Verhältnis beschränkt, sondern eine vielfältig beschriebene institutionelle Neueinsetzung einschließt. Es wurde schon erwähnt, daß in den verwendeten Rechtsbildern eine mehr auf die einzelne Person und eine mehr auf die Gemeinschaft hindeutende Linie unterschieden werden kann, obwohl sie andererseits sachlich untrennbar und sprachlich nahezu synonym erscheinen. Unter dieser Voraussetzung ist jene Unterscheidung doch von heuristischer Bedeutung. Diese tritt hervor, wenn wir ihren rechtlichen Gehalt ins Auge fassen, der in der Bildung konkreter Vorstellungen ja immer mehr oder minder bewußt mitwirkt, mitschwingt.
Die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht ist nicht kategorial, sondern historisch. Am allerwenigsten kann etwa der Bereich des Familienrechts (Kindschaft!) als ein wesentlich privatrechtlicher Bereich verstanden werden. Deshalb hat auch Luther alle Ämter, Ordnungen, Hierarchien aus der Ehe und Familie hervorgehen lassen können.
Aber gerade das Kirchenrecht ist nun doch in einem merkwürdigen Maße von der Durchsetzung dieser Scheidung beeinflußt und unterwandert worden. Die Wendung gegen bestimmte Formen der Juridifizierung, die Vorstellung eines rechtsfreien, transjuristischen Gottesverhältnisses hat vermöge der Existenzialität der Rechtskategorien eben nicht eine rechtsfreie, sondern eine bürgerlich-privatistische Anschauung hervorgebracht und hervorbringen müssen. Kindschaft und Freiheit des Eigentums („Alles ist euer…”) treten in einen falschen Gegensatz zu Bürgerrecht und Anteil an den munera Christi. Das Bürgerrecht selbst wird zunehmend individualistisch und partikularistisch verstanden. In der Kirche treten jetzt die falschen Gegensätze von Individuum und Gemeinschaft, von Subjektivität und Objektivität usf. auf. Statt daß die Kirche sich als der Ort heiler Gemeinschaft bewährt, wird sie selbst zur Quelle der unheilbaren Spannungen, welche die Welt mehr und mehr zerrütten. Sie hat offensichtlich vor diesen nichts voraus. Gerade die falsche Entrechtlichung, d.h. Selbsttäuschung über die rechtlichen Strukturen ihres opus proprium hindert die Richtigstellung der falschen Verrechtlichung. Das ist die tragische Folge der Verweisung des Rechtes in die Außensphäre, die zunehmend im Sinne determinierter Objektivität, reiner Immanenz mißverstanden und verzerrt werden muß. Infolge dieser Verkehrung erscheinen dann die Kirche als Gemeinschaft, als Bürgerschaft, und das Amt in der Perversion des Dienstgedankens als Mittel zur
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Entfaltung des individuellen Gottesverhältnisses reiner Innerlichkeit, während sich gerade die Charismata im priesterlichen Dienst des Amtes wie jedes einzelnen entfalten sollen. Als ein geistlicher Wohlfahrtsstaat hat die Kirche alles zu geben, aber niemals in einem wesentlichen Sinne zu verpflichten, während sich auf der Gegenseite, mit dem Reiz des Schauders betrachtet, das unerbittlich folgerichtige transsubjektive System der römischen Kirche vollendet. Infolgedessen ist dann auch das protestantische Kirchenwesen mehr und mehr außerstande, sein eigenes Widerbild in der römischen Kirche zu überwinden, ja auch nur als Korrektur wirksam zu werden. Die für äußerlich, verfügbar, unwesentlich erklärten Bereiche kirchlicher Ordnung und kirchlichen Lebens können selbst bei Vorliegen evidenter Bedürfnisse nicht mehr wirksam geordnet werden, weil sie so vergleichgültigt sind, daß die Überwindung von Eigennutz, Beharrungsvermögen, Partikularismus nicht mehr als Folge konkreter Lebensgemeinschaft ernsthaft gefordert werden kann. Die Zurückdrängung der Gemeinschaftsseite, des öffentlichen Charakters christlicher Existenz führt zur Stärkung dessen, was Karl Barth rundheraus als heidnischen Ahnenkult bezeichnet hat, weil die konkreten Gemeinschaftsformen als indifferent und eben darum als geistlich ungefährlich erscheinen. Trotzdem werden zur Verteidigung überlieferter Mißbräuche die schlechtesten theologischen Argumente ins Feld geführt. Jene Unterscheidung hat also gerade die unkontrollierte, unbehebbare Vermischung herbeigeführt.
Dieses einseitig privatistische Verständnis neuer Existenz stimmt nun genau überein und mündet in die undifferenzierte Vorstellung eines allgemeinen Priestertums, welches wie ein egalitäres Bürgerrecht wirkt und aufgefaßt wird. Von der Perspektive der Individualexistenz kann das Gewicht, Recht und Unrecht geschichtlicher Gemeinschaftsformen nicht zulänglich beurteilt, können diese daher auch nicht gestaltet werden.