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In dem erwähnten Gutachten zur Ordnung der Trauung schildert Mahrenholz die frühchristliche Lage wie folgt (S. 12):
„Die Kirche beschränkte sich in älterer Zeit darauf, die Ehe von Christen auf ihre Zulässigkeit nach den göttlichen Geboten zu prüfen, wobei der Bischof als der geistliche Vater der Christenfamilie (so Ignatius) oder die Gemeinde (so Tertullian) das Urteil sprach, also eine dem heutigen Aufgebot entsprechende Handlung. Bei Tertullian kommt eine Segnung im Gemeindegottesdienst hinzu, die in der Folgezeit als eine der weltlichen Eheschließung nachfolgende Handlung immer deutlicher hervortritt, ohne jedoch verpflichtend zu sein. Die eigentliche Eheschließung dagegen bleibt nach wie vor eine weltliche Handlung.”
Das erste Anliegen des Ignatius ist freilich positiver als es hier erscheint:
„Es ziemt den Nupturienten, in Übereinstimmung mit dem Urteil (meta gnomes) des Bischofs zu heiraten (ten henosin poieisthai), damit die Heirat sei ,kata kyrion’ und nicht ,kat’ epithymian’. Alles solle zur Ehre Gottes geschehen.” (Ep. ad Polycarpum c. 5)21
Hier haben wir bereits das ganze Problem des kirchlichen Eherechts in nuce vor uns. Die kommentierenden Worte Mahrenholz’ erschließen freilich nicht den Rechtsgehalt dieser Vorgänge und Vorstellungen. Sie enthalten zwei Rechtsbegriffe: Aufgebot und Urteil. Das Aufgebot ist eine öffentliche Kundmachung, um die Geltendmachung bestehender, sonst verborgen bleibender Rechtshindernisse für ein beabsichtigtes Rechtsgeschäft hervorzurufen, damit nicht durch ihre Übergehung ein anfechtbarer Rechtsakt entsteht. Daraus ergibt sich, daß das Aufgebot nur ein Mittel und Teil innerhalb eines Rechtsvorganges ist, der durch ein Urteil abgeschlossen werden muß. Es gibt kein Aufgebot für sich allein. Der Sinn des Aufgebots als kirchenrechtlicher Handlung wird durch den Wandel der weltlichen Eheschließungsformen nicht berührt. Es dient der Vorbereitung der jurisdiktionellen Entscheidung über die Gewährung der kirchlichen Trauung, aber auch der damit verbundenen Rezeption der Eheleute als solche durch die Gemeinde. Es wäre verfehlt, das Aufgebot durch ein Fürbittengebet für die zu schließende Ehe zu ersetzen. Auch diese würde ja gleichzeitig als Publikation wirken — und wenn dann ein in der Gemeinde vorhandenes skandalon als Hindernis geltend gemacht würde, würde eine ganz schiefe Lage entstehen. Gerade eine von der Gemeinde her denkende Theologie würde sich mit einem solchen, aus dem Mißverständnis des kirchlichen Rechtshandelns stammenden Vorschlag selbst widersprechen. Andererseits beschränkt sich das Urteilsverfahren keineswegs darauf, nur die durch Aufgebot provozierten Einwände zu prüfen (wie etwa das Bestehen einer
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anderweitig, bis dato unbekannten Ehe). Vielmehr werden immer ex officio die etwa sonst bekannt werdenden Einwände geklärt. So auch nach Mahrenholz der altkirchliche Bischof, wenn er die Zulässigkeit der Ehe nach göttlichen Geboten erwägt. Genau das gleiche tut mutatis mutandis der moderne Standesbeamte auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Personenstandsrechtes.22
Bei Vorliegen endgültiger oder vorläufiger Ehehindernisse muß er die Entgegennahme der Consenserklärungen und die Registrierung ablehnen. Etwas sehr ähnliches tut der Bischof. Wenn wir Mahrenholz folgen dürfen, so prüft er die Zulässigkeit der Ehe nicht nach menschlichem Recht in Hinblick auf ihre bürgerlich-rechtliche Wirksamkeit, sondern in Hinblick auf die göttlichen Gebote. Dies ist um so bemerkenswerter, als nach dieser Darstellung für die Zeit des Ignatius eine Segnung der Ehe noch nicht regelmäßig anzunehmen ist. Bischof oder Gemeinde, oder beide zusammen üben unzweifelhaft eine Jurisdiktion über die Ehe aus: warum? Beanspruchen sie damit, Regeln für die Gültigkeit der Eheschließung an sich aufzustellen? Keineswegs. Sie sind vielmehr noch vor der Frage der Segnung veranlaßt zu prüfen, ob sie dieses Paar in der Gemeinde als Eheleute aufnehmen und anerkennen können. Das Verhältnis der Geschlechter und die Ehe als Stiftung Gottes haben ein solches Gewicht, daß die Gemeinde nicht davon absehen kann, ob sich ihre Glieder hier nach Gottes Wort verhalten. Weder bürgerliche Wohlanständigkeit noch kirchliche Gesetzlichkeit, sondern das Wissen um die Mächtigkeit des Geschlechtlichen und der Gehorsam gegen Gottes Gebot für diese fundamentale Lebensbeziehung nötigen dazu, hier keine Unklarheiten zu lassen. Diese Frage verstärkt sich naturgemäß noch, aber entsteht nicht erst, wenn die Segnung der beginnenden Ehe in Rede steht. So entsteht aus dem Akt der Rezeption der Eheleute als solcher das kirchliche Eherecht, aus der frage der Einsegnung das kirchliche Trauungsrecht. Beides kann und darf der Sache nach nicht auseinanderfallen.
Was ist nun im Eherecht zu entscheiden? Nicht die bürgerliche Rechtsgültigkeit der Ehe als solche, welche (vor einem staatlichen Personenstandsrecht) in der Betätigung der Eheschließungsfähigkeit für sich bestehen oder im Rahmen eines solchen Rechts von Amts wegen gewährleistet sein mag. Es geht auch nicht eigentlich um die Beobachtung einer Summe göttlicher Gebote über die Ehe oder deren Eingehung. Es geht vielmehr um die Frage, ob diese sich der Gemeinde präsentierende oder gar in facie ecclesia zu schließende Ehe überhaupt eine Ehe ist. Diese Frage entscheidet sich an Hand einschlägiger Schriftaussagen, denen wir deshalb verpflichtende Vorstellungen entnehmen. Es geht dabei auch nicht um die abstrakte definitorische Bestimmung des Wesens der Ehe, sondern um die Frage, ob hier die göttliche Stiftung, selbst ohne eine Kenntnis von ihrem Stifter, in der Sache selbst
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angenommen worden ist. Daß das nicht selbstverständlich ist, zeigt sich an vielen Fällen, wo dieses biblische Verständnis von Ehe als einer für alle Menschen gültigen Lebensform noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Kann etwa die Kirche eine polygamische Ehe in der Gemeinde recipieren, dulden oder einsegnen? Immer ist sie gefragt, was sie selbst, und nicht die Welt, unter Ehe versteht. Sie muß sich deshalb auch zu denjenigen Ehehindernissen stellen, welche im weltlichen Recht bestehen. Wenn sie etwa für sich den Grundsatz bejaht, daß Geschwisterehen nicht zulässig sind, so hat sie kraft eigener Entscheidung ein Ehehindernis als ihrem Eheverständnis entsprechend angenommen, während sie weitergehende innerweltliche Scheidungen vielleicht verwirft. Hiermit vollzieht sie nie eine Gehorsamspflicht gegen die weltliche Gewalt, deren Sache es sei, solche Dinge zu entscheiden, sondern entscheidet selbst über ihre eigene rechtliche Konformität oder Nichtkonformität. So kann es etwa vorkommen, daß sie die weltlichen Ehehindernisse für unzureichend ansieht. Das ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Sie kann aber auch in die Lage kommen, solche Hindernisse zu bestreiten und zu mißachten, so wenn sie etwa das Ehehindernis der Rassenverschiedenheit im Dritten Reich nicht anerkannte und Ehen zwischen Christen verschiedener Rassen traute. Die Freiheit, die sie hier in Anspruch nimmt, ist nicht eine Freiheit an sich, sondern eine Rechtsfolge aus dem Taufrecht, demzufolge die eschatologische Gemeinschaft der Kirche die innerweltliche Scheidung zerbricht. In dieser Richtung hat auch das kirchliche Ehe- und Trauungsrecht zum Abbau ständischer Ehebeschränkungen sowohl im Altertum wie im Mittelalter wesentlich beigetragen. Es kann aber auch umgekehrt sein, daß der Inhalt der Ehe im weltlichen Recht so sehr verlorengegangen ist, daß das in ihm als Ehe bezeichnete Verhältnis nicht mit Sicherheit mehr als solches angesprochen werden kann. Wenn etwa eine reine Conventional- und Vertragsscheidung oder gar eine einseitige Registerscheidung, wie in den ersten Jahren der Sowjetunion, geltendes Recht ist, kann auch nicht mehr regelmäßig ein Ehewille zu einer grundsätzlich auf Lebenszeit angelegten Vergemeinschaftung unterstellt werden. Die Kirche wird dann Veranlassung haben, sich eines wirklichen Ehewillens insbesondere dann zu versichern, wenn nun die kirchliche Einsegnung begehrt wird — abgesehen von ihrer besonders dringlichen Verkündigungsaufgabe in einer solchen Lage.
Die beiden Jurisdiktionen über dieselbe Ehe, die der Kirche und die des Staates, orientieren sich deshalb an ganz verschiedenen Gesichtspunkten — und ein jeder entscheidet nur über das, worüber er zu entscheiden hat —, die Kirche über Reception der Eheleute und Gewährung der Segnung, der Staat über den bürgerlich-rechtlichen Bestand, der nun ja keinen Segen, aber doch ebenso die bürgerliche Anerkennung des Rechtsstandes und ggf. die Förderung mit weltlichen Mitteln23 enthält. Nemo aliud jus transferre potest quam ipse habet.
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Luther und die Reformation haben sich mit Leidenschaft gegen die kirchliche Jurisdiktion in Ehesachen gewendet und gemeint, in dieser Sache hätten Kirche und Theologen „nichts zu ordnen”.24
Der berechtigte Kern dieser Haltung lag darin, daß 1. die mittelalterliche Kirche eine ausschließliche Jurisdiktion über die Ehe beansprucht hatte, 2. sie die Ehehindernisse in gesetzlicher Auslegung vor allem alttestamentlicher Texte uferlos ausgedehnte, die Gewissen beschwerte, Unklarheiten geschaffen hatte, deren sie selbst nicht Herr wurde, und 3. aus beidem, noch dazu in peinlicher Weise, materiellen und Machtgewinn gezogen hatte. Aber das Erbe eines normativen Rechtsbegriffs, den die Reformation übernommen hatte, führte zu dem noch heute nachwirkenden Fehlschluß, daß dort, wo die Kirche selbst die positiven Normen nicht zu geben habe, sie der jurisdiktionellen Entscheidungen enthoben sei.
Die reformatorische Kritik hatte zunächst aus grundsätzlichen und praktischen Gründen nur dieses eine Ziel gekannt: die Beseitigung der bischöflichen Ehejurisdiktion.25 Aber da es weder ein gesetzlich formuliertes Eherecht noch eherechtliche Instanzen gab, trat dadurch ein Vakuum ein. So konnten weder Ehestreitigkeiten entschieden noch der von den Reformatoren auf das entschiedenste abgelehnten Tendenz zur Selbstscheidung gewehrt werden. In diese Lücke traten zunächst die Reformatoren selbst, indem sie in ihren Schriften, dann aber auch in Gutachten zu bestimmten Fällen Stellung nahmen, generell und speziell bestimmte Entscheidungen begründeten.26 Mit maßgeblicher und unmittelbarer Autorität urteilten sie nicht nur theologisch, sondern rechtstheologisch, so Luther, Melanchthon, Bugenhagen, Butzer, Zwingi usf.27 Ordneten sie zwar nicht die — ohnehin gewohnheitsrechtlich geregelte — Eheschließung, so doch mit größter Wirkung die Ehescheidung. Denn die theologische Begründung und Anerkennung der Scheidung entgegen dem kanonischen Scheidungsverbot war für die bürgerliche Anerkennung ausschlaggebend. Praktisch entschied sich die Frage regelmäßig an der (Wieder-)Trauung, der kirchlichen Freigabe der Wiederverheiratung. Da die Eheschließung zwar gewiß nicht mehr durch die Kirche, nicht notwendig in der Kirche, aber ebenso sicher nicht ohne die Kirche geschah, verlagerte sich die Frage in die Zuständigkeit der Pfarrer, die nunmehr entscheiden mußten, ob sie diese Ehen einsegnen könnten. Luthers Traubüchlein selbst bestätigt dies indirekt. Er proklamiert zu Beginn jenen Grundsatz, daß die Kirche hier als in einer weltlichen Sache nichts zu ordnen habe; doch sei die Kirche schuldig, auf Begehren „für der Kirchen oder in der Kirchen sie zu segnen, über sie zu beten oder sie auch zu trauen”. Grad und form der Mitwirkung der Kirche ist hier bewußt offengelassen. Eben darum mußte entschieden werden, ob die begehrte Trauung nach Gottes Wort zulässig sei. Für diese Entscheidung erwiesen sich aber die Pfarrer als sehr ungeeignet; auch die
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Verweisung an die Superintendenten behob die Schwierigkeiten nicht. So kam man nach verhältnismäßig kurzer Zeit, noch zu Lebzeiten Luthers, zur Bestellung der fürstlichen, aus Theologen und Juristen gemischten Konsistorien, zu Ehegerichten. Nach Hesse war dies „eine schwer errungene vermittelnde Lösung, welche mit der ursprünglichen reformatorischen Auffassung der Ehegerichtsbarkeit als eines Anliegens der weltlichen Obrigkeit nicht mehr in Einklang gebracht werden kann”.28 Aber in der unvermeidlichen Übernahme rechtstheologisch-kirchenrechtlicher Verantwortlichkeit durch sämtliche Reformatoren zeigte sich, daß jener polemische Grundsatz in seiner Einseitigkeit ebenso wenig dem Tatbestand gerecht wurde, wie die ausschließliche geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen auf der römischen Seite.
Die von den Reformatoren entwickelten Grundsätze gingen als verbindlich in zahlreichen Kirchenordnungen über.29
Als Luther und Melanchthon, Butzer und andere, 1540 Philipp dem Großmütigen jenen verhängnisvollen Beichtrat gaben, der ihm eine Doppelehe erlaubte, als die beiden letzteren der Trauung beiwohnten und sie damit legitimierten, da übten sie insgesamt kirchliche Jurisdiktion aus an Stelle der nicht mehr vorhandenen bischöflichen Autorität und Gerichtsbarkeit.30
Luther hatte gemeint, nach einer spätmittelalterlichen Praxis einen Beichtrat geben zu können, der, dem forum internum ausschließlich zugehörig, geheim bleiben müsse und könne. Das gemeinsame theologische Gutachten widerriet dem Landgrafen den Schritt, verbot ihn aber auch nicht. Für den Landgrafen aber war es erklärtermaßen entscheidend, daß er, wenn auch nicht sofort, so doch nach einer gewissen Zeit die zweite Ehe öffentlich bekannt geben, mit seiner zweiten Frau sich in der Kirche, auf Reisen usw. sehen lassen könne. Er hatte sich hierzu auch ausdrücklich gegenüber seiner Schwiegermutter, Frau v.d. Saal, verpflichtet. Dieses Ziel ließ er in seinem Brief an die Reformatoren geschickt zurücktreten. Weit mehr aber als die Reformatoren getäuscht wurden, haben diese sich selbst über die unvermeidliche Konsequenz der Freigabe der Doppelehe getäuscht. Denn die Ehe ist ihrer Natur nach ein öffentliches Rechtsinstitut.
Die Tatsache dieses heute unbestrittenen Mißgriffes hat für uns nur noch historische Bedeutung, wichtig dagegen sind die grundsätzlichen Erwägungen, die zu ihm geführt haben. In einem Brief von 1540 hat Luther selbst dem Landgrafen vorgehalten, dieser könne sein Verhalten nur in foro interno, coram deo als gerade noch gerechtfertigt halten, er müsse aber damit rechnen, daß er in foro externo, von der Welt nach dem geltenden Gesetz verurteilt werde. Hatte Philipp seine Absicht der Publikation geschickt zurücktreten lassen, so hatten die Reformatoren in ihrem Gutachten diese notwendige Folge ebensowenig klargelegt, sondern nur entschieden die Geheimhaltung gewünscht, ohne
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die Alternative mit Namen zu nennen. In dem erwähnten Brief findet sich das berühmt gewordene Wort Luthers, daß „Not Recht brechen, aber nicht Recht schaffen könne”. Es gibt keine bessere Kritik an Luthers Verhalten als dieses sein Wort, welches leider auf ihn zurückfällt. Denn was taten er und seine Mitgutachter? Sie sollten ja nicht den Ehebruch oder ein banales Konkubinat rechtfertigen, sondern (wie Philipp) beides gerade durch einen wirklichen Eheschluß vermeiden. Das heißt aber genau: sie schufen Recht in einem einzelnen Fall, und durchbrachen nicht nur Recht. Die Trauung (in Anwesenheit von Melanchthon und namhafter Zeugen) bedeutete institutionellen Vollzug und Anerkennung dieser Ehe durch die Kirche.
Warum aber verkannte dies Luther? Die mangelnde Voraussicht der späteren Veröffentlichung kann man dabei, so bedenklich sie ist, außer Betracht lassen. Der eigentliche Grund des Irrtums liegt vielmehr darin, daß sein Gesetzesbegriff auf einer falschen Rechtsontologie aufgebaut war. Recht war für ihn nur erzwingbare Regel, von der er kraft evangelischer Freiheit im Gewissensfall dispensiert werden könne. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium verflachte sich so in der konkreten Anwendung in das Verhältnis von Regel und Ausnahme.
Diese Ausnahme aber trug hier nicht soweit, daß sie, wiewohl von der Kirche vollzoge, auch nur vor der Gemeinde vertreten werden konnte, wenn schon nicht vor der Welt.
Der gewiß selbst schuldigen, aber doch begreiflicherweise überraschten Landgrafen wurde dann später die volle Schärfe dieser Dialektik aufgelastet. Er durfte sich „notfalls” einer gnädigen Verzeihung seines Handelns durch Gott getrösten, sollte aber die gesetzliche Verdammung als verdient tragen. Die Verkennung der Tatsache, daß auch der einzelne, singuläre Rechtsakt des Eheschlusses gegen das Gesetz eben auch Recht, und nicht nur „Ausnahme” war, erklärt nun schließlich auch, warum die theologischen Gutachter die Unvermeidlichkeit der Öffentlichkeit verkannten. Und selbst eine tatsächlich geheimgehalten Doppelehe wäre immer noch auf Öffentlichkeit angelegt gewesen.
Auf alle Fälle haben die Reformatoren hier geistliche Jurisdiktion über die Ehe ausgeübt, wobei sie nicht nur getäuscht wurden, sondern in der Sache selbst irrten, und zwar nicht zufällig, weil sie sich der Maßstäbe durch eine falsche Scheidung von forum internum und externum beraubt hatten.
Es macht mir auch hier die in A. Sprenglers und meinen Arbeiten über die Entwicklung des Evangelischen Eherechts aufgewiesene Neigung Luthers Beschwer, bei getrennten Ehen die Geschlechtsnot als Gewissensfall zu werten.32 Einmal setzt sich hier das geistliche Amt — das spielt bei Philipp von Hessen auch eine Rolle — einem unvermeidlichen Mißbrauch aus — es verschwindet damit aber zugleich die Substanz der Ehe als Stiftung und öffentlicher Status, das überindividuelle Moment.
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Dieselbe Verwechslung von Norm und Entscheidung, dieselbe Verdeckung der Sachfragen durch die Abwehr der Mißbräuche findet sich in der einschlägigen Darstellung von Johannes Heckel.33
Heckel behauptet hier rundheraus, daß es kein materiales kirchliches Eherecht, sondern allein ein Trauungsrecht geben könne, weil a) hier die Kirche nichts zu regieren habe, b) die leibliche Kirche keine Rechtsgewalt über die gläubigen Christen habe, zumal der geistliche Mensch von niemandem gerichtet werde, c) weil die kirchliche Aufstellung von Ehehindernissen eine Beeinträchtigung der Freiheit des Christenmenschen sei. Gleichwohl will er mit Luther den kleinen Bann im Dienst der Schlüsselgewalt etwa gegen die angewendet wissen, die ihre Ehe aus anderen als in der Schrift zugelassenen Gründen scheiden lassen. Es ist bemerkenswert und gewiß nicht zufällig, daß also die Scheidung kirchlich beurteilbar sein soll — ein Vorgang a posteriori —, daß aber die Eingehung der Ehe — ein Urteil a priori über die Bedingungen wirksamer Eheschließung — aus der Beurteilung ausgeklammert wird. Hier werden deutlich Glaube und Gerechtigkeit zu inhärenten Qualitäten des Christen. Daß der Christ nicht gerichtet wird, heißt, daß er nach geistlichen Urteil unsträflich sich verhalten wird. Es kann aber niemals Inhalt seiner christlichen Freiheit sein, etwa eine bigamische oder Inzestehe einzugehen. Die Freiheit ist also materiell bestimmt durch die auch ihm von Gott vorgegebene und gestiftete, angebotene Institution der Ehe.34 Und vollends bei der Ausübung der Schlüsselgewalt geht es nun offensichtlich auch wieder nicht ohne materielle Grundsätze des Eherechts, etwa Erlaubtheit oder Unerlaubtheit der Scheidung. Also hat hier, wenn schon gewiß nicht eine Gesetzgebung, vollends nicht für jedermann, die Exegese und kirchliche Dogmatik ihren legitimen Platz. Innerhalb dessen geht es dann zweifellos nicht ohne bestimmte inhaltliche Aussagen über die Ehe ab. Wenn das Verlassen des Ehegatten den Kirchenbann verwirken läßt, warum soll dann die Kirche nicht die Eingehung bigamischer Ehe gegen das Wort von der una caro verwerfen, zumal sie die Trauung verweigern muß?
Auch Hesse35 verwechselt bei der Untersuchung der Rechtsstruktur des Wiedertrauungsrechts Norm und Entscheidung. Er legt einen überholten positivistisch-normativen Rechtsbegriff zugrunde. Die Entscheidung über die Wiedertrauung ist nicht weniger kirchenrechtliche, jurisdiktionelle Entscheidung, weil die von ihm36 zusammengestellten Regelungen in den Gliedkirchen der EKD zur Vermeidung von falscher Gesetzlichkeit weitgehend auf konkrete Entscheidung gestellt sind. Aus praktischen Gründen, wegen des in Geschichte und Gegenwart, offenbar nicht zufällig aufweisbaren Versagens der Pfarrer und Superintendenten in der Handhabung eines so offenen Entscheidungsrechts fordert Hesse de lege ferenda ein von ihm sog. „negatives evangelisches Ehescheidungsrecht”, d.h. das grundsätzliche Verbot der Wiedertrauung bei
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gewissen, regelmäßig unbiblischen Scheidungsgründen, insbes. wegen Geistesstörung, Geisteskrankheit oder ansteckender oder ekelerregender Krankheit,37 aber auch wegen bloßer objektiver Zerrüttung.38 Die drei ersten Punkte sind in der Tat diejenigen, an denen sich die Kritik der Kirche an der weltlichen Gesetzgebung entzünden muß. Bei § 48 (objektiver Zerrüttung) freilich verkennt Hesse das dem Tatbestand immanente Element nichtjudiziablen Verschuldens. Die Bedeutung dieser Frage für das Kirchenrecht ist jedoch eine ganz andere. Gerade die umfassendste Untersuchung der Entwicklung des evangelischen Scheidungs- und Trauungsrecht zeigt nämlich, daß die Kirche nicht darum herum kommt zu urteilen, was Ehe im konkreten Fall ist. Das geschichtliche Ergebnis führt trotz des falschen Rechtsbegriffs zur Bestätigung, ja zur bekräftigenden Forderung dessen, was im rechten Verstande hier kirchliche Jurisdiktion ist.
So haben tatsächlich die altlutherische Kirche und ihre Theologen keineswegs das Eherecht in tot oder weltlichen Gewalt anheimgeben wollen und können.39 Man behandelte die Ehesachen aus casus conscientiae,40 so Chemnitz und Carpzov:
(Chemnitz, Exam. Conc. Tridentini loc. XIV. de matr.): „Quia matrimonium in Ecclesia norman habet ipsum verbum Dei et caussis matrimoniorum multi accidunt casus conscentiarum: Ecclesia igitur non potest prorsus et simplicire: sicut in caussis hereditatum, successionum et similibus”. (Carpzov, Iurisprud. Consist. libr. II tit. 1, des. 21 no. 7): „Matrimonium non est contractus tantummodo civilis, sed res conscientiae et tale negotium, cui character spiritualis est impressus, quippe foedus matrimonii sanctissimum, non tam a contrahentium consensu, quam Dei auctoritate et voluntate dependet.” 41
Sie betrachteten sie also nicht als weltlich Ding schlechthin, sondern als causa mixta, und zwar praktisch in der zeitbedingten Form der aus fürstlichen Juristen und Geistlichen gemischten Konsistorien. Die Kirchen entwickelten damit nicht eine Ehegesetzgebung, aber ein Richterrecht in Ehesachen, das für die Fortentwicklung bestimmend war.42
In Fragen des Schließungsrechts waren die Staaten fast sämtlich von einer gesetzgeberischen Regelung, die der Moderne selbstverständlich erscheint, noch weit entfernt. Dagegen haben beide Kirchen in wesentlicher Übereinstimmung vom 16. Jahrhundert an in steigendem Maße begonnen, die kirchliche Eheschließung förmlich zu regeln, so auch die lutherischen Kirchenordnungen. Die bis dahin nur gewohnheitsrechtliche Verbindung kirchlicher und weltlicher Eheschließung wurde nunmehr zur positivrechtlichen Ordnung. In Scheidungssachen begann der kirchliche Einfluß vom 16. Jahrhundert ab langsam zu fallen, in Schließungssachen stieg er noch fortlaufend an, um sich im Zeitalter der Aufklärung in Richtung auf eine Staatsdienerschaft der Kirche in Ehesachen zu entleeren. Die Bezeichnung der Ehe als weltlich Ding und ihre Verweisung
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in die obrigkeitliche Regelung bedeutete also weder eine wirkliche konstruktive Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat auf diesem Felde, noch ließ sie die dauernd verbleibenden kirchlichen Aufgaben im rechten Lichte erscheinen. Sie bezeichnet noch nicht einmal wirklich das, was die Kirchen der lutherischen Reformation aus guten Gründen zu tun veranlaßt gewesen sind. Hat die römische Kirche durch die unechte Gleichung von consensus, Sakrament und tridentinischer Form die Dinge nur gewaltsam und also eigentlich nicht übereingebracht, so verdeckt das gern wiederholte und allzu mißdeutbare Schlagwort von der „Ehe als weltlich Ding” einen sehr viel komplizierteren Tatbestand, den wir erst jetzt anfangen zu Ende zu bedenken.
Albrecht Oepke und Gerhard Delling legen übereinstimmend 1. Kor. 7, 39 gegen die Mischehe aus.43
Paulus will die Folgerungen aus dem „esse cum Christo” ziehen und beschäftigt sich damit, welche Folgen die Mischehe für das Verhältnis zu Christus haben werde. Man vergleiche damit Heckels Lutherinterpretation, die Kirche dürfe keine Ehehindernisse aufstellen, da sie gegen die libertas christiana verstießen. Mahrenholz zitiert ohne Vorbehalt ein Wort Luthers:
„Darum wisse, daß die Ehe ein äußerlich leiblich Ding ist wie andere weltliche Hantierung. Wie ich nun mag mit einem Heiden, Juden, Türken, Ketzer essen, trinken, schlafen, gehen, reiten, kaufen, reden und handeln, also mag ich auch mit ihm ehelich werden und bleiben, und kehre dich an der Narren Gesetze, die solches verbieten, nichts … Ein Heide ist ebenso wohl ein Mann und (oder) Weib und (ebenso) gut geschaffen als St. Peter und St. Paul und St. Lucie, geschweige denn als ein loser falscher Christ.” 44
Man vergleiche mit diesem Lutherwort die Verse Shakespeares im „Kaufmann von Venedig”.45 Nach abgeschlossenem Geschäft lädt Antonio, der königliche Kaufmann, Shylock zum Abendessen ein. Dieser erwidert:
„Ich will mit euch handeln und wandeln, mit euch stehen und gehen, und was dergleichen mehr ist: aber ich will nicht mit euch essen, mit euch trinken, noch mit euch beten.”
Als er dann doch widerwillig der Einladung folgt, geht ihm unterweilen die Tochter mit einem Christen durch.
Shakespeare weiß also noch den Unterschied zwischen dem Commercium und der Lebensgemeinschaft auszudrücken, die sich in der Gemeinsamkeit des Mahles vollzieht. Gebet und Mahlgemeinschaft werden nebeneinander als vergleichbare Formen der Kommunikation genannt. Commercium und Tischgemeinschaft sind wesentlich verschiedene Formen und Grade der Vergemeinschaftung. Das Lutherwort setzt gewaltsam commercium und connubium, das ja noch mehr ist als Tischgemeinschaft, in eins. Dieses Pathos der Äußerlichkeit, der Weltlichkeit, welche
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alle Unterschiede einfach als nicht vorhanden betrachtet (auch gegen die ganze soziale Wirklichkeit, in der Luther selbst lebte und in der kein Mensch so dachte), ist ein neuer Ton.
Nun ist schon die Gleichsetzung von commercium und connubium fragwürdig. Wenn Kirche und Ehe in der Darstellung der Rechtslehre Luthers bei Heckel als die beiden großen, von Gott gestifteten Institutionen erscheinen, so kann eben die Ehe nicht schlicht mit Handel und Wandel ineinsgesetzt werden. Wenn „weltlich” nicht „profan” heißen soll, so sollten solche Unterschiede sorgfältig festgehalten werden. Das geistliche und folgeweise auch kirchenrechtliche Problem der Mischehe ist nicht dadurch geschaffen worden, daß die römische Kirche ein Mischehenverbot erließ (welches der protestantischen Kirchenrechtslehre bis 1800 ziemlich selbstverständlich war), sondern aus der Konkurrenz zweier umfassender Lebensverhältnisse, des Glaubens und der Ehe. Jene Äußerung Heckels ist reaktiv und läßt sich als systematische nicht halten.
Bemerkenswert ist die Methode. Die Folgerung des Mischehenverbots wird unter den Begriff des Gesetzes gebracht und in dialektischer Antithese daraus die Freiheit begründet und beschrieben. Damit wird dann der ganze Tatbestand beiseitegeschoben, in jener Dialektik zerrieben. Der wahre Christ, der justus et liber, weiß das im Grunde ebensogut wie der Apostel und bedarf nicht dessen abwägender Weisung. Auf der anderen Seite dagegen wird zugleich das Verbot der Mischehe deswegen abgelehnt, weil ja auch die Heiden die allen Menschen von Gott gegebene Ehe besäßen und der fromme Heide besser sei als der Namenschrist. Diesen beiden entgegengesetzten Typen, der Idealchrist und der Namenschrist, dienen gleichmäßig dazu, die konkrete Bindung zu spiritualisieren. Die Wirklichkeit der biblischen wie der heutigen Gemeinde ist eine ganz andere.
Mit einer bemerkenswerten Unabhängigkeit äußert sich Albrecht Oepke.46 Die Geschichte der Ehe sei, das Christentum nicht ausgenommen, weithin eine Leidensgeschichte. Das „geistige” Eheideal, welches man dem Christentum zugeschrieben habe, sei in Wahrheit von der Philosophie erarbeitet worden — demgegenüber sei das Christentum eher konservativ, wenn nicht rückschrittlich. Aber: „Schon in der weithin glücklichen Kombination atl.-jüdischer und hellenistischer Elemente lag neues. Die Energie, mit der es die Ehe als göttliche Ordnung im Gegensatz zu aller wildwuchernden Sexualität, oft auch gegenüber dualistisch-negativer Enkratie geltend gemacht hat … ist schlechthin neu und einzigartig. Allerdings kam durch das Zusammenwachsen von Motiven verschiedener Herkunft ein Zwiespalt … hinein, den es … nur notdürftig heilen konnte. Aber wieviel liegt nicht in der Forderung des Ignatius, daß die Ehe kata kyrion, im Sinn des Herrn geschlossen und geführt werden solle … Von positiver Bedeutung war es auch, daß die
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Ehe in der Kirche zum Sakrament zu werden begann. Es beruhte zwar … auf sprachlichem Mißverständnis … und war mit der überragenden Bedeutung von Taufe und Herrenmahl … kaum verträglich. Es war aber doch ein Zeugnis dafür, daß die Kirche die Ehe als ein Heiligtum Gottes zu würdigen willens war.”
Zwei Gedanken scheinen mir besonders bemerkenswert: Einmal die Beobachtung, daß eine solche Institution voll der reichsten Möglichkeiten sich keineswegs etwa wenigstens zur Aufdeckung des Ideals (geschweige allmählicher Verwirklichung desselben) entwickelt. Bei unendlicher Wandelbarkeit, unendlichen gedanklichen Bemühungen und einer Fülle von rechtlichen Gestaltungen wird doch immer wieder die in ihnen enthaltene Möglichkeit zugleich gebraucht wie verkannt und gleichsam mißhandelt, mißgestaltet. Die Institutionen als uns dargebotene Möglichkeiten sind größer als die praesenten Kräfte der Menschen als einzelner und als Gruppen. Unser Bemühen um das Grundsätzliche ist immer nur ein Moment in diesem Geschehen und kann nie das ganze in den Griff bekommen: um so mehr hat es seinen Platz in dieser Oekonomie.
Zweitens hat Oepke den Mut, gegen einen exegetischen Purismus die Kräfte zu bezeichnen und zu bejahen, die aus der Schrift, nicht gegen diese, aber doch nicht einfach deduzierbar das biblische Eheverständnis in der Geschichte dargestellt und verwirklicht haben. Das war aber doch nur dadurch möglich, daß gerade an diesem wichtigen Punkte Gesetz und Evangelium nicht in einem so negativen Verhältnis gesehen wurden wie in der lutherischen Theologie. Die Lehre von der Ehe unter dem Evangelium konkretisierte sich in einzelnen Weisungen und Grundsätzen, die nur für sich gesehen gesetzlich erscheinen könnten. Die sakrale und naturale Ehe dagegen wurde nicht einfach sublimiert, sondern mit strenger Positivität auf die Grundlage göttlicher Stiftung gestellt. Daraus entstand die starke institutionelle Kraft kirchlichen Eheverständnisses, welche sich durch die ganze Kirchengeschichte hindurch erweist.