Der Gedanke des Opfers begegnet der Kritik, die in Kap. II/4 formuliert wurde. Werk und Dienst unterscheiden sich vom Opfer dadurch, daß sie gefordert werden, während das Opfer frei dargebracht wird. In Werk und Dienst folgt der Mensch dem Anspruch Gottes, der ihn in Beschlag genommen hat, der ihn als sein Geschöpft fordert — oder versucht wenigstens, ihm zu folgen, ihm Genüge zu tun. Werk und Dienst sind Versuche des Gehorsams, das Opfer ist ein Versuch der Freiheit. Werk und Dienst unterliegen dem Urteil der Gerechtigkeit, einer freien Gerechtigkeit oder einer solchen, die sich — ohne sich etwas zu vergeben — zugleich mit der Forderung in der Lohnverheißung schon selbst gebunden hat.34
Das Opfer dagegen spricht die Gnade an und zielt auf sie. Das Opfer nimmt seinen Ausgang von der Schuld und will sie tilgen, aber es überschießt sie zugleich grundsätzlich mit seiner Freiheit, es ist nie nur geschuldete Erfüllung, es ist freie Erfüllung und zugleich freie Zuwendung überhaupt.
Das Opfer entspricht seinem inneren Sinngefüge nach der
Gnade.
1. Der Opferbegriff geht von der Hypothese, der Opfernde von
Hoffnung, Glauben, Erwartung aus, daß er von Gott erwählt sei. Er
erwählt nicht erst Gott zu seinem Gegenüber. Er erwählt zugleich
die Opfergabe als eine opferfähige, die als besonders
ausgezeichnete, als Erstgeburt, als Spitzenfrucht Gott gleichsam
von Natur zugehört.
2. Der Opfernde wendet sich Gott in einem konkreten Akt zu.
3. Das Opfer ist auf Annahme angewiesen, die nicht gefordert und
erzwungen werden kann. Es sieht sich immer unter der Drohung der
Verwerfung.
4. Das Opfer als Akt der Freiheit spricht Gott auf seine Freiheit
an.
5. Mit der Annahme des Opfers wird der Opfernde in eine
Kommunikation hineingenommen.
Die Analogie zu dem in umgekehrter Richtung laufenden Gnadengeschehen ist deutlich. Die gesamte Gerechtigkeitsproblematik mit den ihr zugehörenden Begriffen ist hier streng ausgeschlossen. Nur bei strenger Trennung des Gerechtigkeitskreises von dem Kreise des Gnadenrechts kann eine sinngemäße Interpretation des Opfers durchgehalten werden.
Die Trennung der Opfergabe von der Person des Opfernden ist hier in eminentem Maße sinnwidrig.
Auf das beim Werk über das Verhältnis von Person und Gegenstand
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Gesagte kann verwiesen werden. Die Opfergabe ist noch nicht deswegen zum Opfer untauglich, weil sie der gegenständlichen Welt angehört, von der Innerlichkeit des Menschen und seiner so verstandenen Personalität ausgeschlossen, als Nicht-Mensch erscheint. Das setzt eine Spaltung der Welt in Innerlichkeit und Äußerlichkeit voraus. Das ist nicht nur eine erst geschichtlich erwachsene Anschauung von tiefer Lebenswidrigkeit. Es bedeutet vor allem die Erklärung eines Lebensvorganges mit grundsätzlich unangemessenen Mitteln. Denn jene Trennung von Innen und Außen kennt nur aktiv-kausale oder Kausalität analoge Verknüpfungen, nicht aber die ihr völlig fremden Wirkungen der Gabe, des Verzichts, sie kennt nur die actio, nicht die passio.
Auch das Opfer ist ein Rechtsvorgang. Die Eigenart dieses Vorgangs ist freilich dem normativen Rechtsdenken unzugänglich. Wer fordert und zu fordern hat, ist in gewissem Sinne schon im Besitz. Sein Rechtsstatus ist durch die Forderung schon vorgezeichnet und nur noch zu erfüllen, auszufüllen. Das Geschuldete zu unterbieten, begründet neue, verstärkte Schuld. Die Gabe des Opfers dagegen intendiert ein schöpferisch Neues, wenn sie ihre Wirkung tut, ihr Ziel erreicht. Der Anspruch folgt aus einer bestehenden Verpflichtung — die Gabe schafft die Verbindung erst neu. Der Ansprechende will das Seinige — mit Recht. Der Gebende will den anderen erst in Verbindung bringen, ihm damit Recht geben, gegen sich selbst.
Daß die Gabe verpflichtet, Gemeinschaft schafft, indem sie vorweg gibt und das Wagnis der Verschwendung, des Fehlgehens, des Ausschlagens, kurz das Wagnis der Freiheit eingeht, das Gegen seliger denn Nehmen ist, hat uns als Rechtsvorgang schon genauer beschäftigt.
Opfer im Rechtssinne ist die inkonditionale Hingabe mit dem Ziele
der Kommunikation. Sie erscheint in vielfachen Formen und findet
ihre Grenze dort, wo ihre Inkonditionalität in den
Vertragscharakter übergeht. Wie der restituierenden Gnade die
instituierenden Akte freier Zuwendung entsprechen, so auch dem
Opfer die Akte freier Auftragung, Anheimgabe.
Jene Rechtsform tritt auf:
1. im Königtum
2. in staatsrechtlichen Unterwerfungsakten
3. in der Begründung des Gefolgschaftsverhältnisses
4. im Lehnsverhältnis
5. im Gelöbnis
6. im Eid
7. im Kirchenrecht auch bei Profeß und Konsekration.
Zu 1. Auf den Zusammenhang von Königtum und Opfer hat in besonders eindrücklicher und tiefer Weise Leopold Ziegler35 hingewiesen. Das Königtum gründet nicht in der Zweckvorstellung, daß einer herrschen müsse, es erschöpft sich nicht in der Monarchie als einer der
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klassischen Verfassungsformen. Die Königsherrschaft gründet darin, daß der König in repräsentativer Weise für das Volk Gott gegenübersteht, ein ihm ausgesetzter und preisgegebener ist, der mit und für seine Preisgegebenheit sein Opfer und das Opfer des Volkes darbringt und allein, unvertretbar, darzubringen berufen ist.36
So verbinden sich Königtum und Priestertum nicht als religiös-sakrale Hypostasierung weltlicher Herrschaft, sondern von der Existenzsituation selbst her. Wer da herrscht, ist Schicksal, Schuld und allen guten und bösen Mächten in einer gefährlichen Weise ausgesetzt. In dieser Ausgesetztheit und aus ihr heraus vermag er nur zu herrschen. Die Abstreifung sakraler Formen und Vorstellungen ändert an dieser Lage nichts. Diese Preisgabe umschließt den immer neuen Versuch der Kommunikation, der Hingabe. Auch der Richter vermag nur zu richten, in jener grundsätzlicher Verbindung von Herrschaft und Solidarität.37
Wenn in der theologischen Lehre vom dreifachen Amt Christi jene Ämter in einer so archaischen, aller Gewaltenteilung vorausgehenden Verbindung vorgestellt werden, so haben sie ihren Einheitspunkt eben im Opfer.38 Es handelt sich gerade nicht um eine neue Form und Epoche der Herrschaft von äußerster Spiritualität als radikale, aktive und zur radikalen Aktivität spornende Forderung, sondern um die Herrschaft durch und vermöge des Leidens — judex quia passus.
Zu 2. Die sehr verschiedenen Unterwerfungsakte sind die Akte der inkonditionalen Annahme der Gnadenverleihung, welche jener frei entsprechen.
Zu 3/4. Gefolgschaft und Lehensverhältnis sind gemeinsam dadurch gekennzeichnet, daß sie eben nicht wechselseitige Verträge auf Leistung und Gegenleistung sind. Vielmehr trägt der Mensch sich oder sein Besitztum oder beides zusammen einem Herrn inkonditional an, in der freien und gewagten Erwartung, daß dieser sich ebenso ihm verbinden werde, ihm ein Recht einräumen werde. Auf beiden Seiten erfolgt freie Bindung und freie Rechtshingabe.
Zu 5/6. Ebenso gibt sich im Gelöbnis der Mensch dem Empfänger des Gelöbnisses einseitig hin und unternimmt es, dadurch ein besonderes Verhältnis herzustellen. Auch der Eid nimmt auf ein solches Verhältnis Bezug, um durch die potentielle Selbstpreisgabe zur Verdammung des falschen Eides seine Wahrhaftigkeit und Beständigkeit unter Beweis zu stellen.
Die Theologie verwendet nicht nur das Bild des Priesterkönigtums, sondern auch den Dienst- und Lehnsgedanken, ohne das von ihr Gemeinte völlig klar auszudrücken. Sie hat insbesondere zum Lehnsgedanken eine romantisch unklare Zuneigung. Denn für ihre Intention ist der Dienstgedanke als Dienstvertrag nicht voll verwendbar, weil im Vertrag der Dienstherr nicht der einseitig Fordernde, sondern auch der Verpflichtete ist. Der Lehnsgedanke wiederum reicht nicht völlig aus,
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weil das Lehnsverhältnis nicht schon ein vorgegebenes ist, sondern erst durch Selbstauftragung des Menschen zustande kommt. Paßt dort nicht die Bindung Gottes, so hier nicht die eigentümliche Freiheit des Menschen.
Hier zeigt sich eine echte Antinomie zwischen der Verpflichtetheit und der Freiheit, zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Jean Louis Leuba hat diese beiden Linien mit einer nicht ganz sinngemäßen Terminologie als „Institution und Ereignis” in eine Parallele zu stellen versucht, die nicht durch einen Oberbegriff zu vereinen und zusammenzuführen sei: es ist die durchhaltende Inanspruchnahme des Menschen durch Gott in der Schöpfung und im Alten Bunde auf der einen, der freie Einsatz der Gnade auf der anderen Seite.39
Denn gerade die Gnade ist Institution, eben im neuen schöpferischen Einsatz der Freiheit.
Die Durchführung des Rechtsgedankens ist zum Verständnis des theologischen Tatbestandes unentbehrlich. Erst unter dieser Voraussetzung stellt sich parallel ebenso eine kritische Frage, welche die Rechtsgedanken schon enthalten: es fragt sich, ob der Mensch imstande ist, den geforderten Gehorsam zu leisten, es fragt sich, ob er die Freiheit des Opfers, der Selbstpreisgabe wie der Auswahl der Gabe besitzt.
Die menschliche Möglichkeit des Gehorsams und der Freiheit
bestreitet das Evangelium,
es vereint sie in dem
alleinigen vollkommenen Gehorsam und der alleinigen Freiheit des
Opfers Christi,
es setzt Gehorsam und Opfer
neu — per Jesum Christum dominum nostrum. Ethos des Dienstes und
Kultus des Opfers erscheinen neu in der Nachfolge — und die
Aussonderung dessen, was geopfert wird und geopfert werden kann,
ist in der konkreten Einsetzung des heiligen Mahles der
menschlichen Entscheidung entnommen, so gewiß alles, was wir sind
und haben, in diese Kommunikation dann hineingenommen ist und
werden soll.
So gewiß Dienst (am Nächsten und der Welt) und Opfer (ad deum) hier zusammenfallen und ihren Vereinigungspunkt haben, so sollten sie doch nicht einfach ineinsgesetzt oder vielmehr das Opfer durch den (einer neuen humanen Ethisierung preisgegebenen) Dienstgedanken verdrängt und vereinseitigt werden. Wird aber, gleichviel in welcher theologischen Vorstellung, als tertius usus oder sonstwie — die Möglichkeit des neuen Gehorsam gelehrt, so muß auch eine neue Freiheit secundum Christum, die Freiheit eines neuen Opfers in der Kraft seines Opfers gegeben sein. Beides kann nicht durcheinander beantwortet, das eine nicht durch das andere ersetzt werden. Das ethische Mißverständnis des Evangeliums, d.h. genauer seine ethische Vereinseitigung ist hier ausgeschlossen.
Der Jurist kann zur Klärung der in der evangelischen Theologie
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streitigen Frage des Opfers durch Beseitigung hier wirksamer rechtlicher Mißverständnisse beitragen.
Die Erfüllung des Geschuldeten ist niemals Opfer, sei es Dienst, sei es Hinnahme der Strafe. Opfer ist ein Akt der Freiheit. So kann die Übernahme fremder Schuldverpflichtung Opfer sein. So spricht auch die Heilige Schrift von der stellvertretenden Schuldübernahme, Strafübernahme Christi als Opfer.
Auch die religiöse Pflicht des Kultus ist, sofern sie eben geschuldet wird, auch wenn sie Opfer genannt wird, eben nicht Opfer. Es ist Gottes Freiheit, und nicht des Menschen Verdienst und Anspruch, wenn Gott sich durch ein solches Opfer ansprechen läßt. Die radikale Interpretation menschlicher Existenz in der Schrift sieht den Menschen so verschuldet, daß ihm schon deswegen keine Freiheit bleibt, Gott durch Opfer auf Freiheit anzusprechen. Von dem konkursreifen Schuldner, der nur durch meine Langmut sein Leben fristet, lasse ich mir nichts schenken, auch nicht als Bezeugung freundschaftlicher Gesinnung und Dankbarkeit. Denn alles, was er hat, gehört ja doch eigentlich mir.
Diese Schuld tilgt das Opfer Christi, es löst die Schuldknechtschaft. Eben darum kann der Mensch jetzt wieder opfern — in neuer Freiheit — und nur durch und in der Freiheit, die er so empfangen hat, und in der neuen Existenz, die er empfangen hat, nicht unter Rückgriff auf die alte Lage oder eine irgendwie überhaupt von eh und je durchhaltende Möglichkeit.
Die Verwirrung dieser Frage stammt aus der Anschauung, daß Opfer seinem eigentlichen Begriff, seiner eigentlichen Intention nach gefordertes Versöhnungsopfer zur Tilgung von Schuld sei. Jedoch konnte auch im alten Bund nur auf Grund des Bundesschlusses im Raum der Bundesfreiheit geopfert werden. Indem die Kritiker des Opferbegriffes vom Opfer als Versöhnungswerk ausgehen, sind sie versucht, jede Erneuerung des Opfers in diesem Sinne zu mißdeuten. Vielmehr ist das stellvertretende Leiden Christi als geschuldetes Strafleiden wie als freies Opfer zugleich die Wiederherstellung der begrifflich zum Opfer notwendigen Freiheit, genau so wie er wieder ermöglicht, zum Vater Vater zu sagen, zu beten.
Die römisch-katholische Theologie hat ein lebhaftes Interesse am Opferbegriff, ohne daß das Verhältnis des Opfers Christi zum Handeln des Menschen jedoch hinreichend deutlich wird. So heißt es in einem Bericht über Yves Congars Arbeit „Structure du sacerdoce Chrétien”:40
„Congar gibt … der Ansicht Ausdruck, daß die Kirche auch im eucharistischen Opfer ,ihre Tat der Gabe ihres Hauptes hinzufügt’. Sie entwickelt und aktualisiert das Opfer, als das er sie (die Kirche?) am Kreuz dargebracht hat: sie vollendet im Leib, was er als Haupt getan hat: sie vollendet in sich Christus, während sie zugleich all das von ihm empfängt, worin sie ihn vollendet. So erfüllt sich im Leib die
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Reife und das Wachstum dessen, der alles vollbracht hat und in sich schließt, aber doch nun unser Mittun verlangt. So wird das Geheimnis seines Opferfestes das Geheimnis des unsrigen …”
Die zunächst geradezu pelagianisch anmutende Forderung („hinzufügt”) wird dann jedoch in mystischen Identitäts- und Korrespondenzvorstellungen und im Gedanken der Entfaltung ausgelegt. Die Unvertretbarkeit des Handelns Christi, der da sagt, er müsse mit einer Taufe getauft werden, mit der die Jünger nicht getauft werden könnten, und der echte Gedanke der Teilhabe am Opfer Christi und an der von ihm wiederhergestellten neuen Freiheit sind nicht zu einem überzeugenden Ausgleich gekommen.
Erkennt man, daß Gnade und Opfer Korrespondenzbegriffe freier Zuwendung sind, so bestätigt der Jurist, was der Theologe van der Leeuw41 zum Opfer sagt:
„Wir können nicht mit Luther einen Widerspruch darin sehen, daß derselbe Gegenstand zugleich empfangen und dargebracht wird. Im Gegenteil, das ist gerade das Wesen des Opfers, das zu gleicher Zeit Darbringung und Empfang ist. Der Hauptmann, dessen Worte in der Messe vor der Kommunion stehen, sagt, daß er nicht würdig ist, daß der Herr unter sein Dach tritt: er tritt aber zugleich unter das Dach des Herrn. Das non sum dignus, ut intres, und das introibo ad altare Dei sind eine Begehung und eine Tat Gottes. Das wurde schon in der altchristlichen Liturgie ausgesprochen an der Stelle, wo das Volk in der Anamnese Dank opfernd vor den Herrn tritt, mit den Worten: ta sa ek toon soon soi prospherontes kata panta kai dia panta. Am schönsten ist das verstanden worden in dem Weihnachtslied von Paul Gerhardt:
„Ich steh an deiner Krippen hier,
O Jesulein, mein Leben,
Ich komme, bring und schenke Dir
Was Du mir hast gegeben”.”
Im Danksagen liegt hier nicht nur die Paradoxie, daß wir zugleich darin die Gabe empfangen und sie in diesem Danksagen zugleich zurückschenken. Die Paradoxie geht noch weiter: Danksagen ist Antwort geben auf eine Gabe: aber erst durch diese Antwort wird mit die Gabe ganz zuteil.
Das von van der Leeuw angeführte Lutherzitat aus der Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche” heißt:
„… der Widerspruch, daß die Messe ein Opfer sein soll, weil wir die Verheißung empfangen, das Opfer aber geben. Nun kann aber nicht ein und derselbe Gegenstand zugleich empfangen und dargebracht werden, kann auch nicht von demselben Menschen zugleich gegeben und empfangen werden.” 42
Luther hat, wie Vilmos Vajta gezeigt hat, das Evangelium durch
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Interpretation des Testamentsbegriffs ausgelegt, und eben den Opfergedanken mit der Begründung bekämpft, dieser verneine alle Elemente des Testamentsbegriffs:43
„Zu einem Testament gehören nach Luther folgende Momente: zuallererst ist ein Testator erforderlich, der sich auf den Tod vorbereitet und das Testament aufstellt; zweitens das Testament selbst, in dem der Wille des Testators Audruck findet; dritten das Siegel des Testaments, mit dem der Testator die Gültigkeit des Testaments bestätigt; viertens das Erbe, das durch das Testament testamentiert wird; und schließlich diejenigen, die das testamentierte Erbe erhalten sollen. Bei der Applikation dieser Züge auf die Auslegung der Messe als Testament kann Luther folgende Schilderung geben: der Testator ist Christus, der sich auf seinen Tod bereitet und durch die Einsetzungsworte (das Testament) seiner Menschheit Vergebung der Sünden (das Erbe) schenkt, und als Zeichen des Testaments schenkt er seinen Leib und sein Blut in Brot und Wein (dem Siegel). (8, 444, 29): impossibile sit idem sacrificium et testamentum esse.” 44
Was schon van der Leeuw von der allgemeinen Phänomenologie der Religion her mit Recht bestreitet, kann der Jurist hier, da sich Luther selbst auf das Feld des Rechtes begibt, mit noch mehr Einzelheiten richtigstellen. Es ist das Opfer nicht die Negation der evangelischen Gnade, sondern ihr dialektischer Gegenbegriff — nicht die Zerstörung oder Leugnung, sondern die Wiederbringung, Darbringung der (vorausgesetzten) Gnade. Diese dialektische Zugehörigkeit des Opfers zur Gnade gewährleistet seine Legitimität.
„Luther erinnert an das urkirchliche, leibliche Opfer, indem er auf diejenigen Momente in der Messe seiner Zeit hinweist, die noch Spuren jenes ursprünglichen christlichen Opfers tragen. Als solche Momente betrachtet er das Kollektengebet, das Offertorium und die Elevation im Meßritual. Luther meint, sie seien ursprünglich Gebete über den gesammelten irdischen Gaben gewesen, die durch Wort und Gebet in Dienst genommen werden sollten, um dem Nächsten, der ihrer bedurfte, zu helfen. Luther setzt aber nun hinzu, daß dieses leibliche Opfer nun in der Kirche (in der Messe) aufgehört habe. Statt dessen sollen wir dort ein geistliches Opfer darbringen, nämlich ,uns selb und allis was wir haben’. Hat Luther damit die Verbindung zwischen Gottesdienst und leiblichem Opfer gebrochen, das er doch als einen christlichen Brauch in der Urkirche angesehen hatte? In der praktischen Ordnung hatte er sicher nicht die Absicht, die urkirchliche Sitte des Sammelns von leiblichen Gaben bei der Abendmahlsfeier wieder zu beleben. Aber es ist eine Frage von prinzipieller Reichweite, ob er damit gegenüber dem Verfall des leiblichen Opfers resigniert hat?” (Vajta, S. 310). Vajta führt dann anschließend aus, daß Luther den vorbelasteten Begriff des Opfers durch denjenigen des Berufs ersetzt habe (S. 312).
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Indessen sind dies eben keine möglichen Synonyma. Daß im Opfer der Mensch und die ganze geschöpfliche Welt mit ihm und durch ihn Gott in Freiheit wiedergebracht wird, spiritualisiert sich zunächst in die Innerlichkeit des Generalbegriffs „Glauben” als Transformator dieser Begriffe, entleiblicht sich und ethisiert sich in die direkte Beziehung des ethischen Handelns. Letztlich wird der Kultus durch das Ethos ersetzt. Die „Testamentseite” (mit Luther), die Sakramentseite (mit Melanchthon zu sprechen) wird die überwiegende, ja fast alleinige. Es ist genau das, was Vajta als Frage nach der „Resignation” Luthers gemeint hat und glaubte verneinen zu können und was Rudolf Stählin als Verlust der liturgischen Struktur bemerkt hat.45 Und schließlich ist Mißbrauch, Vergesetzlichung, Säkularisation des Berufsgedankens kaum geringer als die des Meßopfers — aber die Dimension des Opfers ist eben doch verschwunden.
Es ist tragisch, daß der Eifer um die Alleinigkeit der Gerechtigkeit und Gnade Gottes das Verständnis für die Frucht dieser Gnade, die Freiheit, verkümmern läßt.
Jene Verwirrung der Rechtsbegriffe erklärt — abgesehen vom Zeitproblem — den größten Teil der Vorwürfe und Bedenken, welche William Nagel in seinem Aufsatz „Das Opfer im evangelischen Gottesdienst” 46 zusammenträgt.
Im Bericht über die fünfte Tagung des Theologischen Convents Augsburgischen Bekenntnisses47 (1951) wird sehr klar vom Opferproblem gesagt:
„Im Alten Testament gibt es keinen Priester ohne Opfer. Das gilt nicht nur vom levitischen Priestertum. Der Opferdienst gehört zum Wesen des Bundes, und das Opfer ist für das Bundesvolk grundlegend. Wenn nun aber im Priestertum und Opfer Christi Priestertum und Opfer des alttestamentlichen Bundesvolkes zur Erfüllung kommen und das Priestertum der Christen von daher lebt, kann das Christentum dann überhaupt anders denn als Opfer und Priestertum verstanden werden? Sicherlich gilt dies nicht im satisfaktorischen Sinne. Solange aber Opfer als Leistung verstanden wird, solange sind die biblischen Aussagen über Opfer und Priestertum — auch betr. Christus und sein Opfer — nicht zu verstehen: dies ist schon eine durch die Sünde entstellte Auffassung . Es muß die Frage nach dem Ursinn von Opfer und Priestertum gestellt werden. Liegt dieser Ursinn nicht darin, daß der Mensch nur in der Hingabe wirklich Mensch sein kann? So wären Opferleben und Priestertum integrierende Bestandteile christlichen Glaubenslebens, sie sind Kernpunkte und Abbild neuen Lebens. Glaube darf nicht nur als Nehme-Hand verstanden werden, sein Wesen ist Selbsthingabe, beschlossen im Opfer Christi. Zum Glauben gehört ein Handeln, eine Leiturgia im Gottesdienst und anderswo.” 48
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Wenn unter uns so gern und mit soviel Nachdruck von der Königsherrschaft Christi gesprochen wird, so gehört dazu ein Verständnis des royalistischen Verfassungsrechtes des Reiches Gottes. Nicht die negative Bestreitung aller Herrschaft, welche gemeinhin nicht die Herrschaft beseitigt, sondern sie nur verschärft, sondern ihre Begründung im Opfer und ihr Verständnis als Stellvertretung sollte hier entscheidend sein.
Es ergibt sich demnach
1. Die Angemessenheit und Unentbehrlichkeit der präzisen
Rechtsgedanken für das biblische Kerygma, — sie nehmen ihm nichts
an Transparenz, sondern eröffnen diese erst bei sinngemäßer
Auslegung gerade in Richtung auf die Eschatologie.
2. Dienst und Opfer, Gehorsam und Freiheit dürfen nicht getrennt,
aber müssen unterschieden werden und sind nicht zu verwechseln
und ineinszusetzen.
3. Es wird die Aussage Gerhard Gloeges verständlich, daß im
Bereich des ersten wir des dritten Artikels sehr wohl der Mensch
als cooperator Gottes angesprochen werden kann49 unter
strengem Ausschluß des Bereichs der Christologie. Damit ist
vielleicht ein Beitrag zur Klärung der Frage des Lohngedankens
gegeben, dessen Verlust Günther Bornkamm (a.a.O.) bedauert.
Schließlich ist dem Dienstrecht der Kinder und Freigelassenen
sein Ort gegeben. Dieses nimmt freilich Ausgang, Struktur und
Gehalt von dem priesterlichen Opfer Christi.
Die Gedanken über das Opfer in Gottesdienst und christlichem Leben, die im Bereich der lutherischen Theologie vom Fuldaer Convent formuliert wurden, nimmt in bestimmterer Weise Regin Prenter auf, wenn er sagt:50
„In diesem Sinne muß nicht nur daran festgehalten werden, daß das Abendmahl ein wahres Opfer ist, sondern auch daran, daß es die ewige Gegenwart des Opfers von Golgatha in der Kirche ist. Ja, es muß gesagt werden, daß wir beim Abendmahl nicht nur Abendmahlselemente und Gebete als Opfergabe unserer Liebe darbringen, sondern das Gedächtnis (,anamnesis’) seines einmaligen Opfers für uns als die einzige Liebesgabe, die wir zu entrichten vermögen. Durch die Polemik gegen die römisch-katholische Meßopferlehre sind diese Gedanken in der evangelischen Theologie stark in den Hintergrund getreten, was zur Folge hatte, daß die Gabe des Abendmahls allzu oft einzig als Stärkung der privaten Frömmigkeit aufgefaßt wurde und daß der Gedanke von der Liebe in moralistischer Richtung abgelenkt wurde, entweder so, daß man ihn als ein erreichbares Ideal zur Verwirklichung in der einen oder anderen Form von sozialem oder privatem Altruismus verkündigt, oder in der Weise, daß man ihn als das übermenschliche Ideal verkündigt, als ,das, auf das sich einzulassen niemand von uns träumt, weil es unser Leben sprengen würde’, und wovon wir darum nur zu unserer eigenen Verdammnis
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hören. Aber das Opfer der Liebe ist nicht die Liebe als Gesetz. Es ist die Liebe als Gabe. Indessen sind die Opfergedanken biblisch. Und man bekommt niemals einen Begriff davon, was das Abendmahl im Neuen Testament bedeutet — und im übrigen auch nicht davon, was es bei den Reformatoren bedeutet —, wenn man nur ständig aus traditioneller Angst vor Worten wie ,Opfer’ und ,Darbringung’ darum herumgeht.”
Gabe und Opfer sind eins, Gnade und Opfer korrespondieren — in der Sache wie in der Struktur —, und wer vom Opfer nichts mehr wissen will, kann auch die Gnade nicht bewahren.