Im Sinne einer gemeinsamen Überzeugung der evangelischen Theologie begreift Schlink a.a.O. den biblischen Gerechtigkeitsbegriff als justitia salutifera, als eine Gerechtigkeit, in der zugleich der Heilswille Gottes sich durchsetzt. Als Gerechtigkeit im Sinne der weltlichen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie setzt er ohne weitere Erörterung die zukommende Gerechtigkeit als gegeben voraus: diese Gerechtigkeit gibt jedem das Seine nach Verdienst: sie schützt den Guten und hilft ihm zu seinem ihm zustehenden Recht, und gibt ebenso dem Rechtsbrecher die ihm zukommende Strafe. Sie ist verteilende wie ausgleichende Gerechtigkeit (justitia distributiva et commutativa). Eben durch diesen Vollzug fördert, schützt und heilt sie, soviel an ihr ist und von ihr erwartet werden darf. Schlink hat nun durchaus recht mit der Meinung, daß die biblische und weltliche juristische Gerechtigkeit wesentlich voneinander verschieden sind. In diesem biblischen Begriff der justitia salutifera überschießt das Gnadenmoment die nur zukommende Gerechtigkeit des Juristen. Aber eben in der Ausscheidung des Gnadenmoments, in der Trennung und Entgegensetzung von Recht und Gnade zeigt sich der geschichtliche Ort beider Begriffe. Recht und Gnade sind in dem einen in Konjunktion, im anderen in Disjunktion. Beide Gerechtigkeitsbegriffe aber sind in vollem Umfang rechtliche. Ihr Unterschied ist lediglich ein geschichtlicher. Der biblisch-theologische ist ein vorrationaler, der sog. juristische ein rationaler. Das rationale Denken hält Antinomien nicht mehr durch und läßt die Gegensätze in getrennten Begriffen auseinander fallen.
Daß dieser rationale Gerechtigkeitsbegriff absolut genommen wird, beruht auf dem geschichtlichen Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft. Dieses Selbstverständnis baut sich erstens auf der Trennung von der Theologie auf und hat ihr eine verborgene antitheologische Tendenz mitgegeben.16 Es beruht zweitens auf der idealistischen oder rationalistischen Voraussetzung, daß durch ihre wissenschaftliche Arbeit die Rechtsbegriffe recht eigentlich erst in ihrer geistigen Bedeutung zur Hebung und Ausbildung kommen, so daß das vorwissenschaftliche Recht zwar ein Gegenstand der historischen Forschung, kaum aber ein solcher der rechtssystematischen Deutung und Bedeutsamkeit sein kann.
Wenn die Theologie nun wesentliche theologische Aussagen auf dem Gegensatz jener beiden Gerechtigkeitsbegriffe aufbaut, so grenzt sie
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damit nicht Theologie und Rechtswissenschaft gegeneinander ab, sondern baut auf den Sand der Rechtsgeschichte. Sie kann auf diese Weise weder den Gegensatz von Gnade und Gerechtigkeit, noch von Evangelium und Gesetz noch denjenigen der beiden Regimente zulänglich ausdrücken.
Der Nachweis, daß die Theologie sich in jedem Falle auf dem Boden eines bestimmten geschichtlich erwachsenen Rechtsverständnisses befindet, zwingt sie zunächst einmal, sich der Tatsache bewußt zu werden, das ihre eigenen wesentlichsten Aussagen in Rechtsbegriffen beschlossen liegen, von solchen gar nicht abgelöst werden können. Die Frage, was diese Verwendung von Rechtsbegriffen für die biblische Verkündigung des Heilshandelns Gottes bedeutet, ist in ihrer vollen Schärfe und Tragweite solange nicht gestellt worden, als man meinen konnte, sich den rechtlichen Aussagen gleichsam gegenüber zu befinden, während man selbst spezifisch „theologisch” redete. Die rechtliche Ausdrucksweise gewann dadurch den Charakter des Uneigentlichen oder Bildhaften und schien ihre eigentliche Berechtigung im Bereiche des „Gesetzes” zu haben. Diese Scheidung und Gegenüberstellung ist damit unmöglich geworden.
Zweitens ist dadurch eine Überprüfung des von der Theologie allzu selbstverständlich gebrauchten Rechtsbegriffs notwendig geworden. Sie kann zur Gewinnung dieses Rechtsbegriffes auch nicht einfach auf das zurückgreifen, was ihr die Jurisprudenz als eine angeblich autonom-weltliche Wissenschaft darbietet. Diese selbst ist eine geschichtliche Größe und in ihrem Selbstverständnis mit der Zurückbildung und Beiseitestellung gerade der Kategorien und Phänomene verknüpft, deren Durchdenkung für die Theologie entscheidend ist — der Phänomene des Gnadenrechts nicht nur für sich allein, sondern auch im Verhältnis zu anderen Formen. Für die Revision dieses Rechtsbegriffes ergeben sich nun einige Hinweise:
1. Die Sollensforderung ist nicht das entscheidende und umfassende Wesensmerkmal des Rechts, sondern ein Teilmoment, welches in verschiedenen Rechtsformen und geschichtlichen Zeiten einen verschiedenen Stellenwert besitzt: im fordernden, normativen Recht steht sie voran, im gebenden Gnadenrecht folgt sie nur als Grenzbestimmung, nicht als Inhalt.
2. In den beiden Rechtskreisen des fordernden und des gebenden Rechts sind gegenläufige, wesentlich unterschiedene Beziehungen und Existenzsituationen erfaßt und dargestellt. Es handelt sich nicht darum, denselben Tatbestand einmal seinsmäßig, indikativisch, einmal sollensmäßig, imperativisch auszudrücken. Er handelt sich vielmehr um verschiedene Vorgänge.
3. Redet der Theologe in Rechtsbegriffen von der biblischen Botschaft — und er kann das gar nicht vermeiden, ohne das biblische Kerygma
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zu verleugnen — so sind zwar Forderung und Gabe nicht einfach
getrennt: es fordert die dargebotene Gabe die (freie) Annahme und
zieht zugleich als angenommene personale Treuverpflichtung nach
sich. Aber gebende, in Freiheit setzende Gnade und forderndes
Gebot lassen sich nicht gleichzeitig aussagen. Von der Gnade kann
vollends nicht imperativisch gesprochen werden. Der Glaube
identifiziert mit vollem Recht im Ursprung wie im Ziel Gnade und
Gerechtigkeit, in actu, in der konkreten Wendung auf den Menschen
können sie gleichzeitig weder ausgesagt noch vollzogen noch
erkannt werden. Nicht von ungefähr hat der große Physiker Niels
Bohr die Barmherzigkeit (Gnade) und die Gerechtigkeit als
Eigenschaften Gottes als das wesentlichste Beispiel für das
Komplementaritätsgesetz angeführt. Erscheinungsweisen des
Gleichen, die sich für unsere Erkenntnis dennoch als
gleichzeitige ausschließen.17 Zugleich aber kann die
Rechtslehre zeigen, daß die Gnade sachlich überwiegt, zeitlich
vorausgeht. Es ist vom Rechte her das Evangelium der Gnade
leichter zu begründen als Gebot und Gesetz. Denn jedem Gebot
geht notwendig die freie Verleihung eines Rechtsstatus voraus,
welcher die Voraussetzung für jeden zu erhebenden Anspruch ist.
Gerechtigkeit und Gnade stehen auf zwei Seiten des gleichen
Blattes. Kein sterbliches Auge kann beide zugleich lesen. Weder
die Anknüpfung an eine relativ intakte noch die
dialektisch-kritische Zuordnung zu einer total korrupten Natur
führt von der Gerechtigkeit zur Gnade. Nicht die Zuendeführung,
sondern die Befreiung von der Gerechtigkeitsfrage ist die
Voraussetzung der Gnade. Die freie schöpferische Gnade ist
gerecht als die neue Schöpfung, in der Gerechtigkeit wohnt. Weil
das komplementäre Verhältnis von Gerechtigkeit und Gnade als Form
des Verständnisses noch nicht gegeben war, het der
Protestantismus diesen Durchbruch nicht vollziehen können: so
fiel er aus der Fremdherrschaft des Papsttums in die
selbstbereitete und darum so viel schwerer abzuwerfende
Knechtschaft seines eigenen Kritizismus, aus dem kein Weg in die
Freiheit der Gnade führt.
Die Gnade fordert nicht mehr,
als daß wir sie annehmen — und in ihr bleiben.
Die zuvorlaufende
Vergemeinschaftung in der freien Zuwendung ist die Voraussetzung
für jeden konkreten Rechtsakt, das connubium für die Ehe, das
commercium für den Handel usf. Dieselbe Erscheinung, die der
Theologe als gratia praeveniens beschreibt, ist grundlegend für
alles Rechtsleben, wenn man es einmal vom tötenden Begriff
ablöst, als lebendigen Vorgang versteht.
Es verkündet die Rechtslehre
den „Triumph der Gnade” durchgreifender, grundsätzlicher, in
reicherer Entfaltung als manche Theologie. Manche Theologie zeigt
dieselben Umdeutungen und Verkürzungen des Gnadenbegriffes, die
in der säkularen Rechtswissenschaft hervortreten
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und deren Ursachen klar nachgezeichnet werden können.
4. Die hier dargestellte Rechtsstruktur der Gnade, die Struktur
der Gnade als Rechtsphänomen enthält alle die Momente
und wesentlichen Merkmale, um welche die evangelische
Verkündigung leidenschaftlich gekämpft hat:
a) Gnadenratschluß Gottes und stellvertretende Gesetzeserfüllung
— immanente Trinität
b) unverdiente Gnade (sola gratia) — ökonomische Trinität
c) konkreter personaler Zuspruch — ökonomische Trinität
d) Notwendigkeit glaubender Annahme, Ausschluß des Verdienstes
und der Mitwirkung (sola fide)
e) Versetzung in die Freiheit vom Gesetz unter das Gesetz der
Liebe
f) personales, nicht sachlich-inhaltlich bedingtes,
inkonditionales Verhältnis zwischen dem Geber und dem Empfänger
der gnade
g) eschatologische, nicht immanente Bedingtheit dieses personalen
Verhältnisses.
In dieser Entfaltung recht
verstanden ist der Rechtsbegriff der Gnade die Summe des
Evangeliums. Man kann
daher, man muß sogar von einer Gestalt der Gnade sprechen. Nun wird gerade eine solche
Gestaltbeschreibung Bedenken und Sorge einer „Ontologisierung”
erwecken. Dem steht aber einmal der Vorgangscharakter
entgegen, der sich nicht auf einen in den Griff zu nehmenden
„Begriff” einengen läßt. Es zeigt sodann der Übergang vom
Anspruch auf die Gnade, daß es gar nicht um die Umsetzung einer
imperativischen in die indikativische Form der Sachaussage über
den gleichen Gegenstand handelt, sondern um eine ganz andere
Richtung und Weise des Handelns. Der Gegensatz der Denkformen
zwischen Seinsaussage und fordernder Beschlagnahme trifft nicht
den Unterschied und Gegensatz dieser beiden gegenläufigen Formen
personalen Handelns.
Sodann zeigt die praktische
Gegenprobe, daß die Preisgabe eines strukturierten Gnadenbegriffs
als mehraktigen, differenzierten, aber sinngemäß vollkommen
ineinandergreifenden Vorgangs es unmöglich macht, den vollen
Gehalt der Gnade im Blick zu behalten. Die Gnade muß dann, wie es
die Entwicklung des juristischen Gnadenbegriffs zeigt, als
Durchbrechung einer geschlossenen, dem Kausalzusammenhang
entsprechenden Vernunftgesetzlichkeit mißverstanden werden. Die
mirakelhafte Durchbrechung der Kausalgesetze im Mißbrauch und
Mißverständnis der Sakramente wiederholt sich, nur abgelöst vom
gegenständlichen Substrat der Elemente im spiritualen Mirakel der
Innerlichkeit. Der Kausalnexus wird zum (negativen) Bestimmungsgrund, zur Bedingung der
Möglichkeit geistlichen Geschehens. Der Strukturverlust des
Gnadenbegriffes bedeutet unweigerlich einen Verlust am
Verständnis überhaupt. Wer den Gnadenbegriff
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aufrechterhalten will, kann es nur, wenn er seine Struktur festhält. Tertium non datur.
5. Die Einsicht in das Wesen der Gnade (oben 3) löst den Streit über das deklaratorische und konstitutive Handeln der Kirche. Weder die Sorge um eine Anmaßung konstitutiven Handelns noch die umgekehrte um die Entleerung kirchlichen Handelns zum bloßen Reden trifft den Tatbestand: konstitutives und deklaratorisches Handeln sind nur zwei Seiten des Gleichen. Eindeutig ist aber, daß die Gnade das Amt fordert. Das Amt transzendiert nach dem Gesagten grundsätzlich den Funktionsbegriff und kann durch ihn nicht zutreffend bezeichnet werden.
6. Der Theologe wird redlicherweise zugeben müssen, daß der
verpflichtende Charakter der Gabe in der Theologie keine
wesentliche Rolle spielt, aus der Rechtfertigungs- und
Gnadenlehre fast verschwunden ist. Der betont imperativische
Charakter der Verkündigung und Theologie haben diesen Gedanken
völlig zurücktreten lassen.
Luther setzt sehr deutlich
Forderung und Gabe einander entgegen und zwar als Gesetz und
Evangelium:
„Das Gesetz gebeut und
foddert von uns was wir thuen sollen, ist allein auff unser thun
gericht und steht ym foddern, denn Gott spricht durch das Gesetz:
das thue, das lasse, das will ich von dir haben. Das Euangelion
aber predigt nicht, was wir thuen odder lassen sollen, foddert
nichts von uns, sondern wendet es umb, thut das widderspiel und
saget nicht: thue dis, thue das, sondern heyst uns nur die schos
herhalten und nemen und spricht: sihe, liber mensch, das hat dir
Gott gethan”;18 ferner:
„Lex docet quid debeas et quo
careas, Christus dat, quod facies et
habeas”.19
Wenn hier Forderung und Gabe
sich als Gesetz und Evangelium gegenüberstehen, so wird damit die
ganze Gegensätzlichkeit zwischen der lutherischen und der
reformierten Lehre von Gesetz und Evangelium sichtbar: im Sinne
der letzteren kann Karl Barth das Gesetz als Form des Evangeliums
bezeichnen. Als Zeugnis der Gnade Gottes ist das Gesetz selbst
Gnade. Es bedeutet eigentlich ein verheißendes „Du
wirst”.
Die Konzeption Luthers hat
die stillschweigende Wirkung gehabt, daß nur das fordernde Gesetz
als Recht aufgefaßt wurde. Damit wurde die verhängnisvolle
Gleichung: theologisches Gesetz — juristisches Gesetz — Recht
eingeführt. Der Rechtscharakter und die Rechtsstruktur der Gnade
konnte nicht mehr verstanden werden, zumal für den Bereich des
Gesetzes die Axiome der antik-humanistischen Rechtsphilosophie
außer der Erörterung blieben.
In der reformierten, noch
stärker humanistisch beeinflußten Linie wird die Gnade als
geschichtlich geschehende umgangen und
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ausgeschieden: denn das Gesetz als Zeugnis von der geschehenden
Gnade und als Verheißung des „Du wirst” läßt zwischen der
Vergangenheit und der Zukunft genau die Präsenz der Gnadengabe
offen und unbesetzt. Indem hier streng alle Erfüllung in den
Glauben an die Erfüllung durch Jesus Christus verlegt wird, so
wird doch an keiner Stelle der Rahmen und die Kategorie der
Forderung und des Anspruchs durchbrochen. Und was nun immer dem
Menschen gesagt und von ihm legitim getan werden kann, steht
alles im Bereich dieser kategorialen Struktur.
D.h. aber: Luther benutzt
noch in voller breite die Gabestruktur der Gnade, wenn auch nur
noch, um einen rein außerrechtlich verstandenen
heilsgeschichtlichen Vorgang darzustellen. Gegenwärtige,
verständliche und begriffene Rechtswirklichkeit ist ihm die Gnade auch nicht
mehr. Für ihn findet sich die Gabe im Recht nicht mehr vor. Aber
er weiß noch, was sie ist. Die von Barth heute eindrucksvoll
repräsentierte reformierte Lehre benutzt die Gnade nur noch als
traditionelle Chiffre, deren Inhalt gültiger göttlicher
Willensakt, deren Form Forderung ist.
Da die theologische
Gedankenbewegung sich teils in der gleichen Linie bewegt wie die
Wandlung des Wirklichkeitsverständnisses ihrer Zeit, teils direkt
die Rechtsvorstellungen ihrer Umwelt unbewußt voraussetzt und
benutzt, teils einfach sozialgeschichtlich bedingt ist, kann man
doch nicht umhin, hier eine fortschreitende Verbürgerlichung der
Rechtsvorstellungen und der mit ihnen verbundenen, in ihr
ausgedrückten Theologie festzustellen.
Daß die Gabe die stärkste
Verpflichtung ist — mehr als die Forderung — diese Einsicht in
einen fundamentalen Tatbestand habe ich in der heutigen Theologie
nur be zwei sehr unterschiedlichen Theologen gefunden — bei Adolf
Schlatter und bei Gerardus van der Leeuw. Dem Ineinander von
Empfangen und Geben hat Schlatter in seiner Ethik viele
Aufmerksamkeit gewidmet.20
Während Schlatter sich um die
Einheit von Gesetz und Evangelium mühte, gegen ihre
Auseinanderreißung anging, bietet van der Leeuw die ganze
ursprüngliche Tiefe des Vorgangs des Gebens. „Dare ist
Sich-in-Beziehung-Setzen-zu”, dann: „Teilhaben an einer zweiten
Person mittels eines Gegenstandes, der aber eigentlich kein
Gegenstand ist, sondern ein Stück des eigenen Selbst”. — „,Geben’
ist etwas von sich selbst in das fremde Dasein bringen, so, daß
ein festes Band geknüpft wird”.21
Die blasse Ethisierung ist
hier ebenso überboten wie die flache Trennung von Person und
Gegenstand des Handelns, von Subjekt und Objekt. Daß Geben
seliger als Nehmen ist, zitiert hier auch van der Leeuw. Es ist
nicht ein ethisches Postulat, sondern eine erfahrene Wirklichkeit
— und diese gehört nicht allein dem Bereich der Religion,
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sondern auch dem des Rechtes an. Man könnte jenen biblischen Satz
sehr wohl auch über eine Phänomenologie des Rechtes
schreiben.
Die Tradition der
abendländischen Rechtsphilosophie orientiert sich seit der Antike
allein am Problem der Gerechtigkeit. Die Gnade erscheint, wenn
überhaupt, als incidentes Ereignis, nicht als Phänomen und
denkerisches Problem. Gnadenrecht als gelebte Rechtsform, als
allgemein verständliche Anschauungsweise ist noch in der Antike
vorhanden in der „clementia Caesaris”, und dann in großer Breite
in den jungen Völkern, die zu Trägern des Christentums werden,
und deshalb die Gnadenbotschaft unmittelbar in ihren
Rechtsanschauungen auffassen können. Mit dem Wiederauftreten
einer rationalen Rechtslehre und Rechtsphilosophie muß auch das
Gnadenrecht wieder zurücktreten — da es nicht normativierbar ist.
Von neuem wird die Gerechtigkeitsproblematik allein bestimmend —
der Gnadentypus zurückgedrängt und mißverstanden. Die
reformatorische Theologie beider Konfessionen hat diese, aus der
Antike stammende und dem aufsteigenden Bürgertum soziologisch
entsprechende Tradition, die zugleich die Tradition der
akademischen Gelehrsamkeit war, nicht durchbrochen, sondern voll
aufgenommen. Wilhelm Windelband hat mit Bedauern vermerkt, daß
die Reformation keinen ihrer Bedeutung entsprechenden Philosophen
hervorgebracht habe und deswegen auf eine Erneuerung der
scholastischen Philosophie angewiesen gewesen
sei.22
Das Gleiche gilt in
vielleicht noch höherem Maße von der Jurisprudenz. Bei einem
entsprechenden Juristen hätte es sich zeigen müssen, ob eine
wirkliche Durchbrechung der antik-scholastischen Tradition
gelang. Seither lebt die reformatorische Theologie in dem
Selbstwiderspruch, dem unmöglichen Versuch, das Evangelium der
Gnade imperativisch darzustellen.
Diese Entwicklung hat die
Reformation in geschichtliche Abhängigkeit vom bürgerlichen
Rechtsdenken, von der bürgerlichen Sozialkonzeption
gebracht. Denn das bürgerliche Rechtsdenken bedeutet die Ablösung
des Gnadenrechts durch das Gerechtigkeitsrecht. Ja, die
Reformation erscheint geradezu als die Durchsetzung bürgerlichen
Denkens und bürgerlichen Lebensformen in der Kirche. Statt die
mißverstandenen, überdeckten und verbogenen Formen des
Gnadenrechtes wieder zu Blüte zu bringen, die Neuentdeckung der
freien Gnade Gottes mit überwältigender, befreiender Kraft zu
entfalten, bereitete man dem Ethizismus den Weg, der in
Aufklärung und Idealismus sich unwiderstehlich entfaltete und nun
zahlreiche Anknüpfungspunkte bei der Reformation vorfand.
Bürgerlichkeit und theologischer Spiritualismus gehen als
Verwandte Hand in Hand — ethisierend, rechts- und
gestaltfeindlich. So wie die Reformation noch große Musik
und
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Malerei, aber keine bedeutende Architektur hervorgebracht hat, so fehlt ihr die Fähigkeit zur rechtlichen Gestaltung. Das Luthertum baut mit den Trümmern des Alten weiter, der Calvinismus erzeugt wesentlich bürgerliche Rechtsformen, denen ein pneumafremdes Vernunftelement von vornherein eingestiftet ist. Das Ende des bürgerlichen Zeitalters macht diese Gebundenheit und Begrenztheit der reformatorischen Kirchen und ihrer Theologie überaus schmerzlich spürbar. Die Kraft der alten Kirchen, welche die Reformation nicht zu überwältigen vermocht hat, liegt darin, daß sie unter der Kruste der Mißbildungen und theologisch-philosophischer Mißdeutungen das Gnadenrecht entschlossen üben, während die reformatorischen Kirchen die freie Gnade verkündigen, aber nicht austeilen. Wenn die alten Kirchen wüßten und sich auf das beschränkten, was sie verkündigen, so wären wir der Einheit der Christenheit um vieles näher. In dieser paradoxen Lage befinden sich die hart streitenden Kirchen.
7. Der Rechtsvorgang der Gnade ist ein — horribile dictu — in allen Formen seiner Anwendung institutioneller. Die Struktur der Gnade ist identisch mit der Struktur institutioneller Vorgänge. Eine Theologie der Gnade, die tendenzmäßig anti-institutionell ist, die damit das Verständnis für das Wesen institutioneller Vorgänge verliert, diese immer vom Mißbrauch her auslegt, ist bürgerlich, aber nicht evangelisch. Wer vollends soviel Rechtsfremdheit, Rechtsangst, Angst vor der Gesetzlichkeit mit sich trägt, kann unmöglich die befreiende Kraft der Gnade erfahren, die entsprechende theologische Erkenntnis recht bewahrt haben. Die Entscheidungsfrage der Kirche liegt nicht im Mythusproblem — typisch einer Frage der Aussage und bürgerlicher Wissenschaftlichkeit: in dem Maße, in dem die hier angeschnittenen Fragen hervortreten, geht es darum, sich zwischen Bürgerlichkeit und Evangelium zu entscheiden.
8. Das Neue Testament verwendet für den neuen Stand des Christen vielfältige Rechtsbegriffe in freiem Wechsel: wir sind Kinder Gottes, als solche auch Miterben, uns ist alles in Christo geschenkt und anheimgegeben, wir haben ein himmlisches Bürgerrecht, wir treten in das priesterlich-königliche Amt Christi mit ein. Die Ehe erscheint gleichnisfähig für das Verhältnis Christi zur ecclesia — die ecclesia ist die Braut — der Inbegriff der wahrhaft und endgültig Erwählten, im Stande der Erwartung, noch nicht der Erfüllung. Der Erwählung und befreienden Rechtfertigung entsprechen, wie wir jetzt an Hand der Beispiele institutionellen Gnadenrechts klarer sehen, alle die Rechts- und Statusformen freier Zuwendung in reicher Fülle, wie sie im weltlichen Rechtsleben vorkommen — nirgends ist Gesetz und Forderung, überall ein „In-den-freien-Stand-Setzen”. Daß diese Bildfähigkeit für das Verständnis und die Wertung der innerweltlichen
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Institutionen etwas bedeutet, mag hier nur angedeutet werden. Aber es muß hervorgehoben werden, daß der Stand der Freiheit keine bloße Freistellung in eine gestaltlose Spiritualität, sondern in eine vielfältig beschreibbare Fülle neuer und erneuter Bezüge bedeutet. Es ist bedachtsam der Unterschied festzuhalten, daß die Gnade im Rechtssinne Restitution, die anderen Vorgänge freier Zuwendung Institution sind, also der Gegensatz zwischen Wiedereinsetzung und Neueinsetzung. Aber der Zusammenhang beider erschöpft sich nicht darin, daß zwischen Restitution und Institution eine weitreichende Analogie der Struktur vorliegt. Schenkung etwa und Erbeinsetzung lassen vielmehr gewisse Züge der Gnade deutlicher hervortreten. Vielmehr vollendet sich die biblische Gnade als Restitution des Menschen coram deo in der Institution in den Stand des Christen, der in jenen frei verwendeten Rechtsbildern gezeigt wird. Das große biblische Gleichnis dafür ist dasjenige vom verlorenen Sohn. Ihm wird nicht nur seine Sünde vergeben, und er in den vorigen Stand des Sohnes versetzt, der ohne weiteres Aufheben im Hause des Vaters — noch dazu als der Jüngere! — von neuem weiterlebt. Er wird vielmehr mit Huldbeweisen überhäuft und in eine Stellung versetzt, die er vor seinem Auszug nicht besaß und deren Mißverhältnis zum natürlichen und Erstgeburtsrecht, dem zukommenden Recht des älteren Sohnes von diesem sehr deutlich empfunden wird. In derselben Linie liegt die Überzahlung der spät gekommenen Arbeiter im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, wo dies mit Schroffheit ausgesprochen wird. In jenen frei wechselnden Bildern — Erbe, Eigentum, Bürgerschaft, königliches Priestertum — wird dieser neue Gnadenstand sogar reich differenziert und eben einer ganzen Reihe zentraler Rechtsverhältnisse nachgebildet. So wenig öffentliches und Privatrecht kategoriale Unterscheidungen sind, kann man doch zwei Richtungen dieser Beschreibungen unterscheiden — eine mehr auf den Einzelnen (Kindschaft, Erbe, Eigentum) und eine mehr auf die Gemeinschaft abhebende (Bürgerrecht, Priestertum). Beides steht gleichberechtigt nebeneinander. Jedenfalls vermittelt die sozusagen nackte restitutio, die in eine gestaltlose Freiheit führt, keine zureichende Vorstellung von der Fülle des Gnadengedankens, welche sich in der Neuwerdung der gleichnishaft erhobenen institutionellen Lebensverhältnisse des Menschen ausfächert und ausprägt.
9. Es müßte mit dem vielberufenen Personalismus der Theologie einmal Ernst gemacht werden. Solange die Begriffe Gnade und Gerechtigkeit als subjektlose erscheinen, muß zwangsläufig der Unterschied zwischen der Gnade und Gerechtigkeit Gottes und derjenigen der Menschen in der Sache selbst, d.h. im Begriff gesucht werden. Hier hilft die schlichte Rechtsvernunft mit dem axiomatischen Satz weiter: nemo plus juris transferre potest quam ipse habet. Bei Beachtung dieses
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Satzes ist von vornherein klar, daß die Gnade und Gerechtigkeit
Gottes etwas anderes gibt als diejenige des Menschen. Jeder kann
nur das geben, dessen er mächtig ist. Gottes Gnade verleiht unter
Wiederherstellung des Verhältnisses dem Menschen einen neuen
Stand vor ihm selbst. Wer weltliche Gnade übt, restituiert ebenso
das menschliche Verhältnis unter Menschen, so wie es auch die
strafende Gerechtigkeit durch Zuweisung eines status negativus
verändert. Wie kann hier eine Vermischung zwischen göttlicher und
menschlicher Gerechtigkeit und Gnade überhaupt vorkommen? Subjekt
und Wirkung sind verschieden und durch den Wandel des Subjekts
auch die Wirkung. Die Struktur ist die gleiche. Bei rechtem
Verstande ist die Struktur der göttlichen Gnade und derjenigen,
die von Menschen geübt wird, durchaus die gleiche; das Verhältnis
welches sich darin vollzieht und restituiert, ist ein fundamental
verschiedenes. Nur die Subjektlosigkeit des abstrakten für sich
bestehenden Begriffes verdeckt das. Das heißt aber: um der
Folgerung einer durchhaltenden Strukturanalogie zu entgehen,
schafft man erst losgelöste abstrakt-metaphysische Begriffe,
deren Subjektlosigkeit ihren Sinn dahinfallen läßt und die
Theologie in falsche Unterscheidungen drängt. Der Gnadenbegriff
ist keine immanente Denkstruktur, welche über dem Handeln Gottes
und der Menschen steht. Menschliche Gnade wird nur geübt, wo
göttliche Gnade zuvor erfahren worden ist — und das geschieht nur
im Glauben. Die menschliche Gnade, die sich am Vorbild der
göttlichen Gnade aufrichtet und sie abbildet, wird nicht nur
nicht mehr geübt, wenn göttliche Gnade nicht mehr glaubend
erfahren wird, sondern sie geht sogar als Begriff verloren.
Der Gnadenbegriff kann
außerhalb der Theologie in seiner ganzen Fülle, Mehrschichtigkeit
und Sinnhaftigkeit nicht festgehalten werden, man zersetzt und
bestreitet ihn bewußt, oder man läßt ihn einfach fallen — ja man
mißversteht ihn selbst dort völlig, wo man ihn wieder zu Hilfe
nehmen will, wie es Radbruch tut.
10. Die Entgegensetzung von Gnadenrecht und Gerechtigkeitsrecht
darf nicht verdecken, daß sie beide Ausdruck des
Herrschaftswillens Gottes sind. Aber die Richtigstellung des
Verhältnisses von Gnade und Gerechtigkeit wird, wie mir scheint,
erleichtert, wenn man für den Bereich der Gerechtigkeit das ihr
eingestiftete Verhältnis von personaler Entscheidung und
durchhaltender Sachbindung und Sinneinheit der Entscheidungen ins
Auge faßt und klärt.
Daß es sachlich sinnlos und
terminologisch irreführend ist, von der Verrechtlichung der Gnade
zu sprechen, weil diese in ihrem ganzen Umfange ein
Rechtsphänomen ist, wurde schon ausgeführt. Daß die Vorstellung
verdienter Gnade sinnwidrig ist, daß auf die Gnade kein Anspruch
bestehen kann, hat die reformatorische Theologie immer mit Recht
entschlossen betont — so tut es auch Schlink a.a.O. Die
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von ihm geprägte polemische Formel von der „Vergesetzlichung” der Gnade ist dem Gemeinten näher als das Wort von der Verrechtlichung. Trotzdem ist auch dieser Begriff für das Gemeinte unangemessen. Es enthält nämlich die Rechts- und Verfassungsgeschichte eine eigentümliche Dialektik zwischen der Unbindbarkeit der Souveränität des Richters und Gesetzgebers auf der einen und der ständigen Selbstbindung in Rechtsprechung und Gesetzgebung auf der anderen Seite.
In dieser Dialektik gibt sich die gesetzgeberische Souveränität immer von neuem in gewissen Epochen so aus, daß sie sich nahezu erschöpft und schließlich sich ihre schöpferische Freiheit gegen ihre eigenen Setzungen wieder nehmen muß, gerade um ihre bewahrende Herrschaft noch aufrechterhalten zu können. Diese Entwicklung hat sich in unserer Rechtsgeschichte zu einer Zeit schon einmal vollendet, in welcher von generellen Rechtssetzungen in unserem heutigen Sinne nur in geringem Maße die Rede sein konnte. Das Mittelalter dachte nicht in generellen Regelungen, sondern in konkreten, statusbegründenden Akten der Verleihung, Privilegierung, Lizenzierung usw. Diese Rechtssetzungsgewalt gab sich schließlich so aus, daß im Dschungel der Privilegien und historisch wohlbegründeten Rechte die Gesamtordnung nahezu völlig verloren ging und die Freiheit der öffentlichen Gewalt durch Rechtsbrüche wieder erkämpft werden mußte. Darin liegt die Berechtigung des Absolutismus gegen den verrotteten ständischen Privilegienstaat.23
Für unsere Betrachtung zeigen diese geschichtlichen Tatsachen, daß der Anspruch auf die Gnade auch schon dort sinnwidrig auftreten kann, wo der Gesetzesbegriff kaum eine Rolle spielt, also auch in den Formen des konkreten personalen Privilegs. Daraus ergibt sich, daß die Vorstellung der „Vergesetzlichung der Gnade” zwar für unsere heutige Zeit zutrifft, welche auch die Versagung des Gnadenaktes noch beschwerdefähig machen will. Grundsätzlich ist der Begriff aber unangemessen. Daß der Mensch die förderliche Zuwendung in Beschlag nehmen will, ohne sich dabei selber inkonditional preiszugeben, ist eine allgemeinmenschliche Haltung, die in allen Formen und Epochen des Rechtes immer wieder auftritt. Weil das so ist, gibt es auch keinen Allgemeinbegriff für diese Erscheinung, die proteusartig in immer neuen Verwandlungen erscheint. Je mehr man diese Erscheinung aber mit einem bestimmten Begriff verbindet, desto mehr kommt man zu falschen Gleichsetzungen mit geschichtlichen Formen, die dadurch noch nicht abschließend negativ qualifiziert sind, sondern dennoch in ihrem Zusammenhang ihr historisch begrenztes Recht haben. Je mehr man also den Gesetzesbegriff zur Antithese zum Gnadencharakter des Evangeliums nimmt, desto mehr verdunkelt man das eigentliche sachliche Verständnis dessen, worum es hier geht. Gesetz in diesem Sinne ist nur dort, wo das Gesetz bereits auch innerweltlich vom Gesetzgeber und vom
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Richter, von Entscheidung und Vollzug sinnwidrig abgelöst ist.
Die Gnade im strengsten Verstande ist ein institutioneller Rechtsakt. Aus dem Widerspruch, daß eine Theologie der Gnade anti-institutionell geworden ist, kann man die Größe des römischen Mißbrauches, aber auch die Stärke des vordringenden bürgerlichen Rechtsdenkens ermessen.
Die Gnade bedarf der konkreten personalen Zuwendung, sie fordert die Annahme durch den Glauben und das Bleiben in der neu geschenkten Freiheit nach dem Gesetz der Liebe. Sie steht unter der Verheißung der Zukunft und der Drohung des tödlichen Herausfallens aus diesem Lebensraum. Die schenkende Gnade setzt in ihrem Wagnis das Gesetz ihrer Liebe durch und richtet es zugleich auf. Die eigentümliche Verbindung von Gabe und Forderung, die in der Gnade stattfindet, als diejenige von Indikativ und Imperativ zu bezeichnen, verkürzt das, worum es geht, nämlich die kraftvolle Gegenläufigkeit beider. Diese Spannung wird aufgelöst zugunsten bloßer unterschiedlicher Aussageformen für etwas Einheitliches. So droht vermöge der Bindung an die Denkstruktur der Wörtlichkeit die Einsicht in die Macht des Wortes Gottes zu schwinden, welches darin am mächtigsten ist, daß Gott in ihm sich selbst gibt.
In seiner Heidelberg/Marburger Antrittsvorlesung beschreibt Ulrich Wilckens24 die jüdische Apokalyptik wie folgt:
„Die Apokalyptik versteht die Tora in ihrer Struktur nicht als ein Bündel göttlicher Einzelanweisungen, sondern als eine grundsätzlich einheitliche Größe: als die eine und entscheidende Gabe Gottes an die von ihm erwählte Heilsgemeinde, die die Tatsache der Erwählung Israels den Gliedern der Gemeinde umfassend zuspricht und zugleich nur eine einzige Forderung stellt: dem erwählten Gott treu zu bleiben. Der Besitz des Gesetzes ist für die Erwählten der göttliche Ausweis ihres Erwähltseins, und so gilt es für sie nicht, in jeder Situation des Lebens für sie speziell geltende, und darin ungeschichtlich-allgemeine Einzelanweisungen zu erfüllen, sondern vielmehr an dem Gesetz bzw. den Geboten überhaupt festzuhalten, sie zu ,bewahren’, ihnen zu ,gehorchen’, sie nicht zu ,verachten‘ — wie die Terminologie in bezeichnendem Unterschied zur entsprechenden Terminologie des Rabbinats lautet, wo vom ,Tun’ und der Erfüllung bzw. von der ,Übertretung’ dieses oder jenes spezifischen Gebotes aus dem Gesetz gesprochen wird”.
Diese Beschreibung der Apokalyptik als einer bestimmten, klar umrissenen Theologie entspricht genau dem, was hier als Gnadenvorgang entwickelt worden ist. Es zeigt durchaus nichts Singuläres, weist auch keine bemerkenswerten Besonderheiten auf: der Gabecharakter führt zur Konzentration auf die eine Forderung der (personalen) Treue und stellt dies unter die Drohung des „Herausfallens”.
Freilich liegt in der Gleichung Gabe = Gesetz eine Erschwerung und
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Versuchung, die auf die Länge schwer zu überwinden sind. Wenn der Gott in der Wolke sich und den von ihm gnädig gestifteten personalen Bund gerade im Gesetz manifestiert, so liegt darin in der Tat die Versuchung, dieses Gesetz nicht primär und wesentlich in der Treue, sondern in einzelnen Geboten und schließlich einer Anhäufung von Vorschriften zu sehen. Dann wird das in der Gabe enthaltene Anspruchselement zum bestimmenden Ausgangspunkt. Die Anspruchsstruktur verdrängt die Struktur der Gabe. Auch diese Rationalisierung und materiale Ausfüllung, Versachlichung eines personales Verhältnisses ist nichts grundsätzlich Besonderes.
Der Gleichung Gnade = Gesetz wird dann in der Tat ein Ende bereitet, wenn „Christus (im Blick auf seinen stellvertretenden Tod für alle durch das Gesetz als Sünder Ausgewiesenen) als der von Gott geschenkte neue Heilsort der kata charin Erwählten und kata charin Gerechtfertigten verkündigt wird” (S. 292). Deswegen sind „alle für die Struktur der paulinischen Soteriologie so entscheidenden Ausdrücke wie ,syn Christo’, ,en Christo’, ,Christou einai’ … in der Tat aus der fundamentalen Vorstellung einer den Christen vermittelten Teilhabe am eschatologischen Geschick Jesu zu verstehen, die ihrerseits wiederum darin gründet, daß der Tod Jesu als hyper hemon geschehen verstanden wird” (S. 290).
Auch dies liegt alles, und zwar ohne jene Versuchung, im Zuge der Gnadenstruktur. Es ist jetzt der deus manifestatus nicht in lege, sondern in carne (mit Calvin zu reden). Und wenn das „syn”, „en”, der Genetivus possessivus nicht entleert wird, so ist eben die sakramentale Gemeinschaft das Moment, in dem der personale Charakter dieser Gnadengemeinschaft am schärfsten ausgedrückt und am ehesten bewahrt wird.
Die mit dem Akt der Gnadenzuwendung geschenkte, unkonditionale Freiheit bedarf freilich der genauen rechtlichen Auslegung, wenn sie nicht mit Sicherheit mißverstanden und mißbraucht werden soll.
Es wurde schon hervorgehoben, daß die Gnade ihren Charakter als solche verliert, wenn sie durch Bedingungen belastet wird. Dasselbe gilt aber auch, wenn sie nur formal festgehalten, aber der Stand der Freiheit durch ein materiales, beschreibbares Gesetz bestimmt vorgestellt wird. Aber andererseits ist die Gnade ein Akt souveräner Herrschaft. Diese Herrschaft wäre in Frage gestellt, wenn die Freiheit den Begnadigten diesem gnädigen Herrn gleichstellte, ihn selbst zu einem zweiten Souverän machte. Das würde darauf hinauslaufen, daß der Herrscher lediglich pflicht- und verdienstgemäß eine dem Begnadigten gerechterweise zukommende, unverlierbare Eigenschaft, die Vollberechtigung wiedergegeben hätte. Gerade der Begnadigte bleibt vielmehr herrschaftsunterworfen.
Der eine Freiheitsbegriff ist der naturrechtliche, in welchem bestimmte
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materiale, rational erkennbare Rechtssätze grundlegender Art zum Seins- und deshalb Sollensbestande des Menschen gehören. Der andere ist der idealistische, nach welchem der Mensch als freier ein Subjekt sittlicher Selbstbestimmung, frei von allen außerhalb seiner liegenden Bestimmungsgründen sein muß.
Der eine Begriff verletzt die Gnade, der andere den Geber der Gnade. Beide Alternativen muß man ausscheiden, um den personalen Charakter der Gnade zu wahren. Der Inhalt der Freiheit, welche ja kein Vakuum ist, ist deshalb aus dem Charakter des personalen Verhältnisses zu bestimmen, in welches der Begnadigte durch die Gnade eintritt. Dieses Verhältnis umschließt immer auch den Mitmenschen, den Nächsten.
Aus der Unfreiheit kommend, ist er schon um dieser geschichtlichen Herkunft willen ein Freigelassener. Als solcher ist er nicht nur zur Dankbarkeit verpflichtet, sondern gehört auch von da ab zum weiteren Lebenskreis des Herrn, der ihn freigelassen hat, zu seiner familia in weiterem Sinne, zu seiner Klientel. Unter der Voraussetzung, daß er (erst) nunmehr rechtsfähig ist, auf eigene Rechnung handeln kann, bleibt er dem Herrn verbunden: dieser behält ein Recht, den Erwerb an sich zu ziehen. Der Klient und Familiar bleibt ihm verantwortlich. Er läßt ihn nicht nur frei, sondern gibt ihm auf seinen Gütern eine Existenz, indem er ihm Dinge zur Verwaltung anvertraut, für die er nun verantwortlich ist. Denn der Sklave kann zwar faktisch für den Herrn arbeiten, aber er kann weder für sich selbst Rechte erwerben noch den Herrn rechtlich vertreten. Beides wird in dem Haushaltergleichnis vorausgesetzt.25
Dieses Rechtsverhältnis der Klientel, der Familiarität ist zwar nicht schlechthin die begriffliche Folge des Gnadenaktes. Aber sie ist doch ein sehr sinngemäßer Ausdruck für die Folgen, wenn der Gnadenakt sich nicht auf den Erlaß einer begrenzten Schuld und Strafe, sondern auf die Beseitigung der völligen Unfreiheit, der Sklaverei und Knechtschaft bezieht. Wer eine partielle Strafe zu tragen hat, ist ja gerade ein verantwortlicher Freier, kein von vornherein ganz Verfallener. Dagegen entsteht aus der (totalen) Befreiung ein neues Zuordnungsverhältnis, das an das alte, geschichtlich zurückliegende erinnert, es aber nicht mehr ist. So können auch die biblischen Haushalter als Freigelassene vorgestellt werden, welche abzurechnen haben und bei Bewährung ihrer Treue zu ihres Herrn Freude, zum Gastmahl der Hausgemeinschaft eingehen dürfen.
Eine andere biblische Rechtslage ist die des verlorenen, wiederaufgenommenen Sohnes. Bei ihm ist nicht davon die Rede, daß er etwas anvertraut bekommt und sich verantworten muß. Er wird ohne weiteres zum Gastmahl geladen. Aber er ist jetzt eben nicht Rechtsperson im Sinne unseres bürgerlichen Rechts. Er ist wie die Haussöhne vieler antiker Rechte überhaupt nicht sui juris, keine rechtliche Vollperson
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neben dem Vater, er ist geehrter, durch den Vater freier Sohn, kein zweiter Vater. Er handelt immer nur für den Vater, immer nur im Einvernehmen, in selbstverständlicher Gemeinsamkeit und ebenso selbstverständlichem Gehorsam, — er hat, wiewohl ohne gegenwärtiges Recht gegen den Vater, Anteil an allem, was dieser hat. Er ist nicht emanzipiert, sondern eins mit dem Vater. Die Vorstellung der abstrakten rechtlichen Vollpersonalität jedes Einzelnen ist eine verhältnismäßig späte Vorstellung. Zunächst ist immer der Familienstand der Rechtsstand.
Ich vermag die Stellung der biblischen Haushalter nicht als diejenige des Menschen unter dem Gesetz im Gegensatz zu derjenigen des wiederaufgenommen Sohnes unter dem Evangelium zu verstehen und beide in Gegensatz zu stellen. Beide stehen m.E. unter der Voraussetzung der (evangelischen) Freiheit. Aber es sind nun doch sehr unterschiedliche Lagen, welche die Christenheit zur Grundlage ihres Selbstverständnisses und ihrer Frömmigkeitshaltung genommen hat.
Das evangelische Christentum sieht gerade die durch das Evangelium befreite Existenz unter der drängenden Verantwortung für das neu geschenkte Leben. Dieser Begriff der Verantwortlichkeit ist das A und O seiner Frömmigkeit — es kommt nicht zur Ruhe darüber, ohne daß es deshalb eine Gerechtigkeit aus den Werken verträte. Es geht ihm nicht um das zu verdienende Heil, sondern um die zu bewährende Freiheit. Aber es sieht das Eingehen zu des Herrn Freude so sehr in der Eschatologie, daß ihm jeder Schein einer Vorwegnahme als theologia gloriae verwerflich erscheint. Hier liegt der eigentliche Grund, weshalb dem Abendmahl dort eben doch nur eine sekundäre Bedeutung zugemessen wird und weshalb es seinen Charakter als eschatologisches Freudenmahl und Eucharistie verliert. Der Versöhnung ist der Glaube gewiß, und auf diese Gewißheit wird der stärkste Akzent gelegt — darüber hinaus aber gibt es keine gegenwärtige Gemeinschaftsbegründung. Infolgedessen wird auch der Kirche eine so geringe präsentische Bedeutung eingeräumt, die sichtbare Kirche als unscheinbare zeitliche Form der zukünftigen allein wesentlichen gegenübergestellt. Mit der Entwertung des Präsentischen der Trennung und Entgegensetzung von Präsens und Futurum in der Lehre von der Kirche verliert die Kirche aber ihren Gemeinschaftscharakter und ihre Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung. Es gibt sehr wohl eine kirchliche Solidarität, diejenige der loyalen Arbeiter im Weinberg, aber keine sanctorum communio. Diese Solidarität umfaßt deshalb hauptsächlich die aktiv Arbeitenden und strahlt darüber hinaus nur schwach aus. Nur in engeren Gemeinschaften, die mit einem gewissen Rigorismus ihre Glieder aktivieren, reicht dieses Bewußtsein weiter, besitzt dann aber etwas Gewaltsam-Künstliches. Es erweist sich hierin, daß sanctorum communio eben auch ein sächlicher, nicht allein ein personaler Begriff ist, und daß erst die Gemeinsamkeit
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der Teilhabe Gemeinschaft zeitigt, noch nicht in vergleichbarem Maße die Verantwortung.
Diese hat jeder für sich auszumachen. Die Forderung vereinzelt, die Teilhabe verbindet. Von der (im einseitig personalen Sinne, wie Werner Elert gezeigt hat, mißverstandenen) sanctorum communio redet der Protestantismus deshalb so viel, weil sie ihm in der Tiefe unerreichbar ist. Es ist darin etwas von der glühenden Phantasie des Wohllebens, welche die Völker der Wüste entwickeln.
Die umgekehrte Richtung der Frömmigkeit und des Selbstverständnisses zeigen die sakramentalen Kirchen. In ihnen steht die Präsenz des sakramentalen Geheimnisses als proleptische Eschatologie im Vordergrund. So fühlt sich jeder, trotz aller Schuld, Last und Plage des irdischen Lebens schon hier einbezogen in die himmlische Gemeinschaft. Dementsprechend ist das Glaubensinteresse an der Kirche sehr hoch entwickelt. So ist es folgerichtig, wenn die einen ganz entschieden dem Ethos vor dem Kultus, die anderen dem Kultus vor dem Ethos den Vorrang geben. Wo beides entartet und von engen Herzen und Köpfen aufgenommen wird, da sinkt es in ethischen Rigorismus, Skrupulantentum und dialektischer Quälerei auf der einen, in Ritualismus und Laxheit auf der anderen Seite ab — erst hier wird recht eigentlich die Haltung gesetzlich. Bis es soweit ist, stehen beide Haltungen immer noch unter der Voraussetzung des Evangeliums. So entsteht die Paradoxie, daß die Protestanten im Ganzen gesehen mit gesetzlicher Strenge und oft allzu bürgerlicher Wohlanständigkeit sich so benehmen, als ob sie sich durch ihre Werke die Seligkeit verdienen müßten, während die ethische Haltung in den sakramentalen Kirchen ohne Zweifel durch die Präsenz sakramentaler Vergebung und Gemeinschaft bis zu einem bemerklichen Grade entschärft wird, so daß ihr nicht die radikale Sachlichkeit und Selbstkritik eignet, welche der Protestantismus entwickelt hat.
Entscheidend ist also immer die materiale Bestimmung des Freiheitsbegriffs, richtiger das Verständnis der personalen Relation, in welcher der befreite Mensch verfaßt ist, in welcher er überhaupt nur besteht. So bewährt sich hier der rechtstheologische Generalsatz, den ich früher schon formuliert habe:
Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der religiösen oder pseudoreligiösen Rechtfertigungsidee, d.h. dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott oder dem an seine Stelle gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip.26
Nicht eine lex prägt, formuliert den Glauben, auch nicht die nova lex charitatis, sondern ein bestimmt verstandenes Verhältnis, in welchem der handelnde Mensch sich zu dem ihn Verpflichtenden vorfindet. Die nova lex setzt dieses Verhältnis voraus.
Die beiden Rechtsverhältnisse — freigelassener Knecht und restituierter Sohn — scheinen sich nun kontradiktorisch gegenüberzustehen,
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so wie die aus ihnen entstehenden Glaubenshaltungen kaum miteinander zu vereinen sind. Dennoch ist es eine sinnvolle Paradoxie. Der gnädige Herr entäußert sich durch den Gnadenakt nicht seiner Herrschaft: er richtet sie gerade auf. Er will mit seinem Werk zuendekommen, sein Zeil erreichen, aber eben durch und in der gewährten Freiheit. Der Knecht Gottes, der die ganze Last der Verantwortung auf sich nimmt, und das Kind Gottes sind in ein und demselben biblischen Wort pais zusammengefaßt.
Der Christenheit fällt es unendlich schwer, beides zusammenzusehen und zu leben. Denn es ist in der Tat der evangelische Begriff der Freiheit ein dialektischer: je freier der Haushalter gestellt, je ferner er auch vom Herrn erscheint, desto größer wird seine Verantwortlichkeit. Je näher der Sohn dem Vater ist, desto weniger kommt ein Handeln für ihn in Betracht, desto weniger eigene Rechte übt er aus. Nur wenn der Vater den Sohn aussendet, sich also von ihm trennt, zeigt sich die größere Vollmacht, die vollkommene Stellvertretung durch den Sohn gegenüber der Pflichtarbeit der Haushalter. Die selbst entscheidende, aber verantwortliche Mündigkeit ist also Ausdruck relativer Ferne. Sie wird überboten durch die präsumtive Lebens- und Willenseinheit des Sohnes mit dem Vater in der Geborgenheit unter der präsenten Autorität des Vaters. Von hier erklärt sich patriarchale Autorität und Autoritätsbereitschaft in den sakramentalen Kirchen im Ursprung, vor dem Mißbrauch. Wenn beides nicht in der Kirche das bloße und böse Abbild weltlicher Autonomie und weltlicher Herrschaftsunterworfenheit sein soll, dann muß alle Kraft darangesetzt werden, um diese Dialektik durchzuhalten. Deshalb hat die römische Kirche durch die Zerstörung der — wenn auch vielleicht manchmal unbequemen — altkirchlichen Gemeinderechte ebensosehr in unberechenbarem Maße verloren, wie die reformatorischen Kirchen durch den Verlust der Tradition bischöflicher Autorität. Freilich ist dieser Verlust sehr tief begründet in der Zerstörung des Gottesdienstes.
Oder bedeutet diese doppelte Deutung evangelischer Existenz in der Freiheit eine Notrolle, die Einheit der Kirche sprengende Komplementarität, vermöge deren wir jeweils nur das ein erfaßt, das andere ebenso aus dem Blick verloren haben? Die Spannung zwischen Haushalterschaft und Kindschaft, zwischen Restitution und Institution macht die Spannung des inneren Gefüges der Kirche aus (nicht das Verhältnis von „Innen” und „Außen”), und an dieser Spannung ist wesentlich mit ihre Einheit zerbrochen. Der Jansenist St. Cyran (Duvergier) sagt sehr weise: „Der christliche Glaube ist eine Reihe von Gegensätzen, welche durch die Gnade zusammengehalten werden”.