Der Nachweis, daß die Gnade ein mehraktiger und vielschichtiger Vorgang ist, und daß ihre Struktur sich in der Analogie wesentlicher Institute des bürgerlichen und öffentlichen Rechts wieder findet, entnimmt sie der Isolierung, in der sie durchgängig bisher gesehen wurde. Sie steht nicht mehr als einzigartige, dem Recht zwar zugewendete, aber doch zugleich ihm auch wieder wesensfremde Erscheinung neben oder über ihm.
Nach dieser Sicht umschließt nunmehr das Recht zwei wesentlich verschiedene Formenkreise, ähnlich wie ein Körper zwei Nervensysteme. Es ist der normative Formenkreis auf der einen und der statusrechtliche, institutionelle Formenkreis auf der anderen Seite. Der normative Kreis umfaßt Forderungen, die auf der relativen Gleichordnung von Fordernden und Verpflichteten beruhen und deren Erfüllung oder Verfehlung unter dem Urteil der Gerechtigkeit festgestellt werden kann. Der statusrechtliche Formenkreis umfaßt die Vorgänge der Einräumung des Rechtsstatus und dienen diesen selbst mit seinen Rechtsfolgen. Hier findet die Korrelation von Leistung und Folge nicht statt, welche für den normativen Rechtskreis kennzeichnend ist. Weder die Gnade und die bürgerlichen Rechtsakte unentgeltlicher Zuwendung wie Schenkung und Erbeinsetzung, noch auch die Einräumung öffentlicher Statusrechte wie der Staatsbürgerschaft, der Ämter usw. sind kausal und korrelativ bedingt durch eine vorausgehende oder folgende Leistung, sondern bleiben immer freie Wahl und Vergabung.
Keinen dieser sehr verschiedenen Zuwendungsakte vermögen wir dem Gerechtigkeitsurteil zu unterwerfen. Es paßt auf ihre grundlose Freiheit überhaupt nicht, weder positiv noch negativ. Wohl aber sind diese Akte der Zuwendung dem analog, was der Theologie als heilbringend bezeichnet. Es sind acta salutifera, in welchem der Stand des Menschen aus fremden, überlegenen Vermögen unverdient und unkonditional verändert, hergestellt, geheilt, vermehrt wird.
Der theologische Begriff justitia salutifera ist in der Doppelheit seines Inhalts ein paradoxaler Begriff, während der gängige Begriff der juristischen Gerechtigkeit nur eines dieser Momente enthält. Da hier der Mensch immer nur das Verdiente empfängt, kommt in Wahrheit nichts zu dem hinzu, was er schon hat und ist.
Der Irrtum des Theologen beginnt mit der Meinung, dieser Gerechtigkeitsbegriff decke den Gesamtbereich des Rechtes, als dessen
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Fundament, Hintergrund und allgemeinste Bestimmung. In Wahrheit gibt es im Recht nach dem Gesagten zweierlei:
Rechtsakte, -ordnungen, -verhältnisse und -folgen, die gerecht, aber nicht heilbringend sind, und solche, die heilbringend sind, auf die aber die Gerechtigkeitsfrage nicht paßt. Der Sinn der theologischen Frage nach dem Wesen der weltlichen Gerechtigkeit erschöpft sich aber nicht in der Erläuterung dieses Begriffs, sondern schließt die Annahme mit ein, daß mit diesem Gerechtigkeitsbegriff das Gesetz als Gesetz dieser Welt wesentlich gefaßt ist.
Stehen nun für unser juristisches Begriffsvermögen die freie Verleihung von Statusrechten und die Bereiche der normativen Gerechtigkeit nebeneinander, und verbinden sich beide auf der Ebene der Theologie zur paradoxalen Einheit der justitia salutifera, so ist nach dem Grund dieses Gegensatzes zu fragen.
Nun ist die Trennung von Status und Norm, von Gabe und Forderung nicht kategorial bedingt, sondern durchaus historisch. Nicht unser Wort Gerechtigkeit, wohl aber das lateinische Wort justitia bewahrt diese Tatsache auf. Die beiden Wurzeln jus (Geheiß) und stare, sistere (stehen machen) sind einander nicht kausal zugeordnet. Es handelt sich nicht um eine Statuierung des Gebots allein, sondern um Gebot und Verleihung, Einsetzung. Der Begriff der justitia ist keine sich über die Tatbestände erhebende Abstraktion, sondern kommt vom konkreten Vollzug des Prozesses her. Justitia ist das personale Handeln des Richters, ist Justiz, gerechtes Urteilen. Die Vollmacht des Richters gibt, spricht zu, was sie fordert und fordert zu respektieren, was sie gibt.10 Nicht allein im personalen und subjektiven Charisma des Richters verbinden sich justitia und salus, sondern auch in seinem Spruch, der jenseits der Gegensätze von konstitutiv und deklaratorisch des Recht sowohl findet wie schafft.
Die Trennung von Status und Norm und zweitens die Verdrängung des statusrechtlichen Rechtskreises aus dem juristischen und philosophisch-theologischem Rechtsdenken bezeichnet eine bestimmte geistesgeschichtliche und sozialgeschichtliche Entwicklung, auf deren Ergebnis sich der Theologe unvorsichtigerweise eingelassen hat. Der geschichtliche Ort dieser Anschauung ist aus ihren Elementen mit einem ziemlich hohen Grade der Bestimmtheit festzulegen.
In älteren Rechtsordnungen, dem römischen und germanischen Recht fehlen schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäfte nicht ganz. Aber sie spielen eine verhältnismäßig geringe Rolle, sind vereinzelte und Randerscheinungen. Im allgemeinen kann man nur einen Sachbesitz statusrechtliche einräumen, und aus diesem Übertragungsakt, der der Sache nach ein Verzicht ist, erwachsen dann Ansprüche auf Respektierung, aber auch auf Vollendung der begonnenen Rechtseinräumung, durch die ein „Recht an der Sache” begründet wurde. Anspruch ist so gesehen
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nur der Anspruch auf Vollendung eines schon anfangsweise Gegebenen. Der Verpflichtung liegt regelmäßig die verzichtende Gabe voraus — und wo diese Gabe wechselseitig ausgetauscht wird, bleibt auf beiden Seiten ein wesentliches Moment des Risikos, welches aus dieser Selbstentäußerung nicht ausgeschieden werden kann. Das heißt: ethische Sollensstrukturen sind als primäre dem Recht genetisch fremd, sie entstehen systematisch gesehen als sekundäre, geschichtlich gesehen als späte Formen.
Systematisch gesehen sind jene beiden Rechtskreise einerseits dem (öffentlichen und privaten) Personenrecht und dem Sachenrecht, andererseits dem Schuldrecht und dem Strafrecht zugeordnet. Aber der Ausdehnungsbereich von Statusrecht (Gnadenrecht) und normativem Recht (Gerechtigkeitsrecht) ist nicht ein für allemal kategorial bestimmt: ihre Ausdehnung unterliegt dem geschichtlichen Wandel — ohne daß jedoch der eine Typus den anderen vollständig verdrängen kann.
Der römische Prätor erkennt nur unter Aufbietung sehr großen Scharfsinnes auf schwierigen Umwegen und als Ausnahme Verpflichtungsgeschäfte rechtlich an. Aber das so zunächst nur geduldete Schuldrecht gleicht einem friedlichen Passagier auf einem Schiffe, der sich unterwegs in einen Piraten verwandelt und die statusrechtliche Besatzung über Bord wirft oder zur Bedienung der Maschinen in seinen Dienst zwingt, wo sie begreiflicherweise danach trachten, wieder zu ihrem Rechte zu kommen. Löst sich aber das Recht im wesentlichen in heteronome, gesetzliche oder autonome, vertragliche Verpflichtungen auf, so ist begreiflich, daß nunmehr nur noch der selbst rechtsunkundige Philosoph zu ermitteln braucht, was der Mensch dem Menschen schuldet und nach Maßgabe der Möglichkeiten des Rechtes dann zu tun verpflichtet werden kann. Die Ethisierung des Rechtes beruht also auf einem rechtsgeschichtlichen Vorgang, der erst hinter dem Philosophen liegen muß, damit er überhaupt so philosophieren kann.11
Das Recht ist ohne Wort überhaupt nicht denkbar. Aber eine Jurisprudenz des Wortes, d.h. eines Wortes, das wesentlich als Inanspruchnahme und Verpflichtung verstanden wird und das nicht zugleich statusbegründende Gabe ist, ist ein später Versuch, der die Fülle des Rechtslebens nicht umschließt, sondern wesentliche Elemente verkennt und beiseite drängt. Ein jeder solcher geschichtliche Gestaltwandel erzeugt Verständnislosigkeit für die frühere Form und setzt sich zugleich erst durch deren Mißdeutung und ideologische Verleumdung durch. Die Jurisprudenz des Wortes bedeutet sachlich eine Spiritualisierung, welches die Innerlichkeit und substratlose Wörtlichkeit gegen die angebliche Äußerlichkeit und Gegenständlichkeit des nicht mehr verstandenen statusbegründenden Realgeschäftes setzt; sie bedeutet eine Rationalisierung, weil die positive Antinomie zwischen Gabe und Verpflichtung nicht mehr durchgehalten, sondern aufgelöst wird und schließlich ein
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Eindringen kausaler Denkelemente. Die Mehrdeutigkeit des causa-Begriffs ermöglicht es, das Realgeschäft als bloße Rechtsfolge zu verstehen.
Nach diesen historischen Merkmalen kann man die fragliche Anschauung etwa in das 12. und 13. Jahrhundert versetzen, etwa an den Ausgang des Lehnssystems, in die Zeit der Durchsetzung bürgerlicher Rechtsformen und die beginnende Rezeption des römischen Rechts. Dieses konnte sich sicherlich vor allem deswegen durchsetzen, weil es selbst eine der Umformung vorgreifende rationale Form einer juristischen Spätkultur war. Das Königsglück, sein Charisma, zugleich seine konkreten und freien Gaben verbinden die Gefolgschaft zur realen Einheit und verpflichten sie nicht im Sinne des auf bestimmte Leistungen bezogenen und beschränkten Vertrages, sondern zur vollständigen Hingabe, zur Treue bis zum Tode. Im Lehnsrecht sind Gabe und Verpflichtung noch eigentümlich ungeschieden beieinander, schon in einer überreifen Form, dem Mißbrauch und Zersetzung sehr nahe. Verleihungsakt und Treuverpflichtung im Lehnsverhältnis sind sachlich aufeinander bezogen. Aber sie sind nicht konditional voneinander abhängig, sondern bedeuten auf beiden Seiten ein Vertrauenswagnis, bei dessen Scheitern erst nachträglich eine Auflösung des Verhältnisses in Frage kommt. In dem unkonditionalen Charakter dieses Verhältnisses kommt jene vorrationale Ungeschiedenheit der Strukturelemente noch zum Ausdruck.
Die dem bürgerlichen Rechtsdenken vorausgehenden Rechtssysteme, das ältere Gefolgschaftswesen wie das Lehnsrecht sind also wesentlich auf dem statusrechtlichen Denken aufgebaut, das sachlich auf den Verpflichtungscharakter der vorausgehenden Gabe mit personaler (nicht primär sachlich umschriebener) Bindungswirkung beruht. Es handelt sich also nicht um Randerscheinungen, Einzelinstitute, die zufällig analogisch aufgebaut sind, sondern um Bildungen, die stark genug waren, als Leitmotiv ganzer Sozialordnungen zu dienen.
Es kann sich hier wie anderwärts nicht darum handeln, spezielle geschichtliche Bildungen wie etwa das zeitlich so begrenzte Lehnsrecht zu idealisieren. Es geht vielmehr darum, den tiefen Wandel des Verhältnisses von Mensch und Mensch, Mensch und Welt zu erkennen und ernst zu nehmen, der für die Gestaltungs-, Verständnis- und Ausdrucksmöglichkeit geistlichen Lebens von entscheidender Bedeutung gewesen ist, und der geschichtlich an einem ganz anderen Ort steht als die kirchentrennenden Merkmale der Kontroverstheologie mit ihren kirchenrechtlichen Konsequenzen.
Die Verdrängung des Rechtsgedankens der verpflichtenden Gabe geht so vor sich, daß zunächst sich die Meinung durchsetzt, es sei die direkte Verpflichtung von Mensch zu Mensch, der consensus, das Eigentliche rechtlicher Kommunikation. Damit wird es nötig, den sachlichen Erklärungsinhalt möglichst wörtlich genau, vor allem schriftlich
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festzulegen, sodann ihr auszulegen. Rechtswissenschaft und Rechtsvollzug werden zum Buchwissen, zur Textauslegung in Gesetzen und Verträgen. Das Verhältnis von Mensch und Mensch bestimmt sich nunmehr durch inhaltlich umschriebene rechtliche und sittliche, spezielle und allgemeine Normen. Die statusbegründende Gabe interpretierte sich selbst und begründete inhaltlich nicht definierte personale Treuverhältnisse. Die scheinbar größere Direktheit des consensus läßt die Menschen nur noch durch die Vermittlung der Norm zueinander kommen, trennt sie also stärker als das statusverleihende Gnadenrecht. Der Genuß der selbstverpflichtenden Selbstverfügung, die Autonomie des Vertragsrechts mit dem ganzen Apparat sittlicher Verhaltensgrundsätze stärkt keineswegs die Kommunikation. Die scheinbar indirekte, sachvermittelte Kommunikation ist stärker und offener als die direkte, wortvermittelte. Die Ethisierung des Rechts bedeutet auch Entpersönlichung, Versachlichung.
Es macht aber die unendliche Überlegenheit des Rechtes über jede Ethik aus, daß das Recht in seiner Doppelstruktur von Gabe und Forderung die Postulate der Sittlichkeit in sich und auf seiner Ebene aufzunehmen vermag, ohne mehr als in Grenzfällen (die hier nicht interessieren) mit ihr in Konflikt kommen zu können. Zugleich aber und darüber hinaus, jenseits jeder denkbaren Forderung umfaßt das Recht freie, schöpferische Vorgänge, die wiederum in Freiheit setzen — aber eben unter keinem Titel gefordert werden können. Diese Freiheit der Rechtsverleihung überbietet das Höchste, was irgendeine Ethik zu denken und eben nur durch die Forderung zu bieten und zu leisten vermag.
Der Auseinanderfall der beiden Strukturformen des Rechts, der gebenden und des fordernden, führt nun aber für die Rechtstheologie dazu, daß Gerechtigkeit und Gnade unverbunden auseinander treten, die Gnade selbst nicht mehr als Rechtsphänomen, sondern nur noch als Durchbrechung des Rechtes verstanden werden kann. In eben dem Maße tritt die gesamte Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ausschließlich unter die Gerechtigkeitsfrage. Schließlich wird die Gnade zu einem bedeutungslosen, sinnwidrigen, unverständlichen Überbleibsel aus einem vorrationalen Rechtsdenken, welches für die wissenschaftliche Rechtslehre keine Bedeutung beanspruchen kann. Die Aufklärungsjurisprudenz schließlich bestreitet den Gnadenbegriff überhaupt als eine unzulässige Durchbrechung der immanenten Vernunftgesetzlichkeit des Rechtes. Jedoch geben die von Schlink a.a.O. zitierten Stimmen der Aufklärungsjurisprudenz gegen die Gnade nicht den eigentlichen dogmatischen Grund dieser Ablehnung wieder. Sie kennzeichnen nur die verkehrten Folgen, den Gedanken, die Gnade als Mittel der Billigkeit, zur Beseitigung von Härten, zur Berichtigung verfehlter Urteile zu benutzen. Billigkeit und Gerechtigkeit in dem hier gemeinten Sinne wäre in der Tat verdiente Forderung und deshalb nicht mehr unverdiente Gnade.
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Es handelt sich aber nicht allein und nicht zentral um eine Ablehnung der Irrationalität der Gnade aus einer allgemeinen rationalen Tendenz, sondern um die Konsequenz eines streng dogmatischen Glaubenssatzes einer philosophischen Weltanschauung. Der Rationalismus scheidet die äußere Welt von der humanen Welt des Bewußtseins, baut aber beide analog auf. Die äußere Welt unterliegt lückenlosen Kausalgesetzen, die humane Welt ebenso zusammenhängenden Vernunftgesetzen. Diese drücken sich in einem System sittlicher wie rechtlicher Ansprüche aus. Alles ist vermöge der Interdependenz der Vernunft normativ gefordert. Jede dieses System transzendierende, frei eingreifende Macht ist sinnwidrig und nicht existent, ist religiöse Superstition und menschliche Anmaßung. Deshalb ist auch die Freiheit des unverdienten Gnadenerweises sinnwidrig und muß in die Herstellung der geschuldeten Gerechtigkeit durch eine höhere Vernunfteinsicht umgedeutet werden. Indem zunächst die Einsicht in den Machtvorgang der zuvorlaufenden Genugtuung verlorengeht, bleibt nur die daraus hervorgehende Folge des Gnadenzuwendung übrig und muß nun ihres echten Grundes beraubt entweder als freie, wenn auch heilsame Willkür bejaht oder als solche verdammt und der immanenten Gerechtigkeit eingeordnet werden. Die Möglichkeit des Verständnisses ist jedenfalls mit der Preisgabe jenes fundamentalen Machtphänomens zerstört.
Die Hervorhebung bloßer rationaler Tendenzen gibt weder diese folgenschwere Entwicklung noch die aus ihr hervorgehende dogmatische Position einer großen entfalteten Weltanschauung wieder. In der Tat: wird alles ethisch oder rechtlich geschuldet, so kann nichts gegeben werden, wie es in der Gnade geschieht. Das leidenschaftlichste und wirksamste Glaubensinteresse dieser Lehre liegt in der Ausscheidung der Macht. Deshalb wird sie auch dort ausgeschieden und begrifflich verdrängt, wo sie nicht in Anspruch nehmende, fordernde, drohende, sondern gebende, förderliche, liebende Macht ist. Lieber keine Gnade, wenn sie nur um den Preis der Anerkennung dieser gnädigen Macht geschehen kann.
Auf einer anderen Linie steht der von Schlink zitierte Radbruch. Der Rationalität bekämpft die Durchbrechung der rechtlichen Vernunftgesetzlichkeit durch die freie Macht der Gnade. Radbruch dagegen, bedrängt von der Unzulänglichkeit menschlicher Rechtsordnungen, ruft mit bewegenden Herztönen diese Himmelsmacht herbei. Das ist rechtsphilosophischer Supranaturalismus: über dem zwingenden Normengebäude des Rechtes, welches seiner Anspruchsnatur folgt immer nur fordern kann und in seiner unvermeidlichen Unzulänglichkeit den Menschen verstrickt, liegt heilend und helfend die Übernatur der Rechtsgnade, die zweckfreie Sphäre, die das System rechtlicher Determinationen überschreitet. Radbruch ist weit entfernt vom Vernunftoptimismus der Rationalisten. Er ruft nach dem „ganz Anderen” der Gnade, ohne doch
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zu wissen, was Gnade ist, ohne zu vermögen, ihren Begriff zulänglich darzustellen. Es bleibt ein Hauch der Tragik an der Tatsache haften, daß auch ein so bedeutsamer Rechtsdenker weder den Ursprung noch das unverkürzte Wesen der von ihm beschworenen Erscheinung zu fassen bekommt.
Was sich in der Gnadenbestreitung des juristischen Rationalismus und der Umdeutung der Gnade bei Radbruch und den ihm folgenden Autoren vollzieht, ist zugleich Verlust wie Angriff; Verlust der Substanz des Religiösen im phänomenalen Sinne, Verlust auch der dogmatischen Substanz der christlichen Theologie. Die Annahme, daß die Zerstörung der Religion im phänomenalen Sinne die Verdunkelung des Evangeliums beseitigen und dieses nur um so heller erstrahlen lassen werde, wird durch die Geschichte des Gnadenbegriffes nicht bestätigt. Es wird damit nur die Verständnisvoraussetzung, ja ein wesentlicher Inhalt der christlichen Dogmatik beseitigt und preisgegeben. Andererseits zeigt sich, daß vom außertrinitarischen Monotheismus her der Weg in den ethischen Deismus nicht vermieden werden kann.
Der geschilderte rechtsgeschichtliche Entwicklungsgang enthält mehr und anderes als eine freilich unvermeidliche, niemals rückgängig zu machende Rationalisierung des Rechtsdenkens. Es handelt sich deshalb auch für uns nicht um einen Rückgang auf vergangene Formen, sondern um die Besinnung auf die Grundlagen menschlicher Existenz.
Es steckt in dem Übergang vom Gnadenrecht zum Gerechtigkeitsrecht nicht nur eine zwangsläufige Verwandlung der Sozialform, sondern vor allem ein fruchtbarer Optimismus, der die Grundlagen seiner Existenz voraussetzt und deren Erfüllung in der Bewährung sucht. Wo aber diese Grundlagen, diese Vorgegebenheiten nicht mehr selbstverständlich behauptet werden, da werden sie schließlich nur noch postuliert. In Wahrheit hat das Gerechtigkeitsrecht die Formen des institutionellen Gnadenrechts, Staatsbürgerschaft, öffentliches Amt, Erbrecht, Eigentum niemals aufzuheben vermocht und auch gar nicht aufheben wollen. Es hat sie nur nicht mehr verstanden und nicht mehr sachgemäß über sie gedacht. Erst Karl Marx, der konsequente Vollstrecker des bürgerlichen Rechtsdenkens, hat mit ideologischer Hellsicht und verzerrender Überscharfe die Gerechtigkeitsaxiomatik beiseite geschoben und ist auf die existenzbegründenden Fakten als Daten zurückgegangen. Darin liegt die Wirksamkeit seiner Kritik. Das bürgerliche Rechtsdenken hat nicht begriffen, daß sie die Frage nach der Existenz als Gabe und Gegebenheit nicht mit den Postulaten der Personalität und Freiheit, und den Axiomen der Gerechtigkeit beantworten kann, — ebensowenig die Theologie der Rechtfertigung, die im selben Zirkel verbleibt.
Aber seither sind wir aus dem Engpaß dieses Optimismus wie seiner Bestreitung herausgetreten und müssen uns in dieser Lage nur recht verstehen. Eine Existenzinterpretation allein in Kategorien der
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Entscheidung wird immer im Horizont der (in dieser Ausschließlichkeit bürgerlichen) Gerechtigkeitsaxiomatik bleiben. Geht es aber um die Begründung der Existenz coram deo in der Kirche und durch die Kirche, so kann dieses Geschehen nicht in den dünnen Faden einer Entscheidungsdialektik ausgezogen werden. Gnade ist mehr als Gunst der Entscheidung. Sie ist wirkliche, befreiende und verpflichtende Gabe. Der Gnadenbegriff ist aus dem Evangelium nicht auszuscheiden, er ist vielmehr sein Zentrum. Sonst ist der Glaube gegenstandslos. Der johanneische Satz „aus seiner Fülle haben wir genommen Gnade um Gnade” (Joh. 1, 16), wie der Reichtum der neutestamentlichen Aussagen überhaupt, setzt einen materialen Gnadenbegriff voraus.
Es sind hier in den verschiedensten Zusammenhängen rechtsgeschichtliche Tatsachen ins Spiel gebracht worden. Die gleichen Tatsachen, wenn auch nicht dieselben Fragen, haben vor Jahrzehnten Max Weber beschäftigt. Ich finde bei ihm einen großen Teil der Erkenntnisse bestätigt, welche mir eigenes Studium und eigene Besinnung zugebracht haben, soweit die unbestrittenen Tatsachen überhaupt für dne Kundigen der Bestätigung bedürfen. Freilich haben diese geistesgeschichtlichen, existenziell und anthropologisch überaus bedeutsamen Tatsachen ein besorglich geringes Interesse gefunden, so daß man schon suchen muß, um sie irgendwo anderweit dargestellt und ausgewertet zu finden. Die Webersche Darstellung12 macht freilich in erschreckendem Maße deutlich, wie sehr biblische und kirchengeschichtliche Tatbestände ganz unwillkürlich von Rechtsanschauungen her betrachtet und bewertet worden sind, die ausschließlich der Moderne angehören, und deshalb älteren Zuständen und Vorstellungen Gewalt antun. Die Betrachtung durch die Theologen ist keineswegs außerrechtlich: sie ist im Gegenteil in dezidiertester Weise von Rechtsbegriffen der Gegenwart geprägt, die sie aufgenommen haben. Es ist nebenbei die Frage, ob nicht wesentliche Teile der konfessionellen Kontroverstheologie ein anderes Gesicht erhalten würden, wenn die rechtsgeschichtliche Lage des 15. und 16. Jahrhunderts (nicht so sehr ihre Rechtsphilosophie) hinreichend in Betracht gezogen würden in den Auswirkungen, welche sie auf die Rechtsdimension der beiderseits verwendeten theologischen Begriffe gehabt hat. Es ist auf alle Fälle die Reformation sehr tief verwickelt in den geistig nicht bewältigten Umbruch aus dem statusrechtlichen in das verkehrsrechtlichen Denken.
Ich zitiere hier einige der Sätze Webers, die für unser Thema interessieren.
„Wir werden sehen, daß bis tief in sehr entwickelte Rechtszustände ursprünglich schlechthin jede Klage eine Klage ex delicto war, ,Verpflichtungen’ und ,Verträge’ dem Recht ursprünglich gänzlich unbekannt waren.” 13
„Der heute normale Zustand weitgehender ,Vertragsfreiheit’ hat
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keineswegs immer bestanden. Und soweit Vertragsfreiheit bestand, hat sie sich keineswegs immer auf dem Gebiet entwickelt, welches sie heute vornehmlich beherrscht, sondern zum sehr wesentlichen Teil auf solchen Gebieten, wo sie jetzt nicht mehr oder doch in sehr viel eingeschränkterem Maße besteht … Die wesentliche Eigentümlichkeit des modernen Rechtslebens gegenüber dem älteren ist vor allem die stark gestiegene Bedeutung des Rechtsgeschäfts, insbesondere des Kontrakts. … Derjenige Rechtserwerb, welcher dem Erbrecht entstammt, bildet in der heutigen Gesellschaft das wichtigste Überbleibsel jener Art von Besitzgrund legitimer Rechte, die einst — ganz oder nahezu alleinherrschend war. Denn in der Sphäre des Erbrechts kamen … für den Einzelnen Tatbestände zur Geltung, auf welche seine eigenes Rechtshandeln prinzipiell wenigstens keinen Einfluß übt … Nämlich seine Zugehörigkeit zu einem Personenkreis, welcher in aller Regel durch ,Geburt’ als Glied einer Familie, als durch die von ihm von Recht zugerechneten Naturbeziehungen begründet wird und daher … wie eine ihm anhaftende ,Qualität’ erscheint, als etwas was er … originär ,ist’, nicht aber: welche privatrechtlichen Beziehungen er durch Akte der Vergesellschaftung absichtsvoll sich geschaffen hat.14
Der aus den Sühneverträgen der Sippen hervorgegangene Schiedsvertrag, die Unterwerfung unter Rechtsspruch oder Gottesurteil ist Quelle nicht nur allein allen Prozeßrechts, sondern … auch die ältesten Typen der privatrechtlichen Verträge gehen auf Prozeßverträge zurück. … Die Bedeutung des Kontrakts im Sinne freier Vereinbarung der Entstehung von Ansprüchen und Pflichten ist also auch in … frühesten Epochen … der Rechtsentwicklung weit verbreitet. Und zwar auf solchen Gebieten, auf welchen heute die … freie Vereinbarung geschwunden oder weit zurückgetreten ist: dem öffentlichen und Prozeßrecht, dem Familien- und Erbrecht. Dagegen ist von einer Bedeutung des Kontrakts für den wirtschaftlichen Gütererwerb aus anderen als familien- und erbrechtlichen Quellen wie er heute grundlegend ist, … je weiter zurück, desto weniger die Rede … Dieser Wandlung entsprechend … wollen wir jene als ,Statuskontrakte’, die(se) dagegen als ,Zweckkontrakte’ bezeichnen … Jene urwüchsigen Kontrakte, durch welche z.B. politische oder andere persönliche Verbände, … oder Familienbeziehungen geschaffen wurden, hatten zum Inhalt eine Veränderung der rechtlichen Gesamtqualität, der universellen Stellung und des sozialen Habitus von Personen. Und zwar sind sie, um dies bewirken zu können, ursprünglich ausnahmslos entweder direkt magische oder doch irgendwie magisch bedeutsame Akte und behalten Reste dieses Charakter in ihrer Symbolik noch lange bei. Die Mehrzahl von ihnen … sind ,Verbrüderungsverträge’. Jemand soll fortan Kind, Vater, Frau usf. mit dem weitesten Ausdruck ,Genosse’ eines anderen werden. Sich derart miteinander verbrüdern aber heißt nicht: daß man sich gegenseitig für
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konkrete Zwecke nutzbare bestimmte Leistungen gewährt oder in Aussicht stellt, auch nicht nur …: daß man fortan ein neues, in bestimmter Art sinnhaft qualifiziertes Gesamtverhalten zueinander in Aussicht stellt, sondern: daß man etwas qualitativ ,Anderes’ wird als bisher.” 15