Die kirchliche Diskussion über die obligatorische Zivilehe im Jahrzehnt ihrer Einführung
1955
|89|
Von Kurt Dietrich Schmidt
1.
Die „Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat”, die 1848
aufgestellt, aber niemals in Kraft gesetzt wurde, enthält als §
16 die Bestimmung: „Die bürgerliche Gültigkeit der Ehe wird durch
deren Abschließung vor (nicht: durch!) den dazu
bestimmten Civilstandsbeamten bedingt. Die kirchliche Trauung
kann nur nach der Vollziehung des Civilaktes
stattfinden”. Der Verfassungsentwurf von 1850 wiederholte diesen
Gedanken der Zivilehe in § 19 nur in aufschiebender Form: „Die
Einführung der Civilehe erfolgt nach Maßgabe eines besonderen
Gesetzes, was auch die Führung der Civilstandsregister regelt”.
Infolgedessen wurde 1859, 1860, 1862 und 1869 die Einführung der
Zivilehe im Abgeordnetenhaus jeweils erneut beantragt, aber
bekanntlich erst 1873 beschlossen. Die Kirche hatte also seit
1848 Veranlassung, ja die Pflicht, sich über die Zulässigkeit der
Zivilehe klar zu werden, und hätte eigentlich den ganzen
Problemkomplex „Ehe und Eheschließung” theologisch durchdenken
müssen, d.h. die Fragen aufwerfen müssen, die jetzt die
Eherechtskommission der Evangelischen Kirche in Deutschland
beschäftigen:
1. Muß die evangelische Kirche theologisch zwingend die
obligatorische Zivilehe ablehnen? Weil sie etwa das
christliche Verständnis der Ehe oder doch das der
Trauungshandlung gefährdet?
2. Kann die Ehe unter Christen allein bürgerlich-rechtlich
geordnet sein oder fordert sie eine Ergänzung, ohne die
sie nicht volle Ehe wäre? Bzw. muß die Trauung gerade von
bürgerlich-rechtlichen Wirkungen freigehalten werden, damit keine
falsche Vermengung von Gesetz und Evangelium entsteht?
3. Muß die evangelische Kirche sich theologisch zwingend
für die obligatorische Zivilehe einsetzen? Weil sie, wie der
Liberalismus zum mindesten meinte, die genuin-protestantische,
nämlich antisakramentale Form der Eheschließung ist?
4. Ebenso wäre die Frage der fakultativ nur-kirchlichen Trauung,
mit bürgerlicher Rechtswirkung also, systematisch zu durchdenken,
vor allem auch das Verhältnis von Staat und Kirche bei dieser
Konstruktion zu analysieren.
|90|
Dem Verfasser dieses Aufsatzes ist eine Stellungnahme, die so theologisch-systematisch vorginge, für die ganze Zeit von 1848 bis 1880 nicht zu Gesicht gekommen1. Das muß vorweg festgestellt werden. Sofort nach 1848 erfolgten freilich die Proteste der Gemeinden, teils mit teils ohne Unterschriftensammlung2. Die „Abteilung für Geistliche Angelegenheiten” im Innenministerium, aus der später das Kultusministerium wurde, erklärte 1849, sicher mit Recht, daß die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung den Wunsch habe, daß die obligatorische Zivilehe nicht eingeführt werde. Wenn der Verfassungsentwurf von 1850 diese nicht mehr fordert, dann ist das also auf diesen Widerstand zurückzuführen.
Am 10. Mai 1849 stellte das Konsistorium von Stettin aber auch schon in einem Schreiben an das Ministerium fest, daß „die obligotirsche Civilehe in keiner Weise die Glaubensgrundsätze der evangelischen Kirche verletzt und sehr wohl vereinbar ist mit der Bedeutung, welche die Trauung bisher in religiöser Beziehung in ihr (der Kirche) gehabt hat”. Das Konsistorium freut sich, daß es sich willig fügen kann, wenn die Zivilehe eingeführt werden sollte. Jegliche Begründung für diese bedeutsame Stellungnahme fehlt leider in dem Schreiben.
Schon bald tauchte aber als Beweismittel dafür der Hinweis auf die Bekenntnisschriften auf. Luthers „Traubüchlein” ist ja ein Bestandteil seines „Kleinen Katechismus” und damit also der Bekenntnisschriften. Gerade in ihm nennt Luther aber die Ehe „ein weltlich Geschäft”; wörtlich: „Demnach, weil Hochzeit und Ehestand ein weltlich Geschäft ist, gebührt uns Geistlichen oder Kirchendiener nichts, darin zu ordenen oder regieren, sondern lassen einer iglichen Stadt und Land ihren Brauch und Gewohnheit, wie sie gehen . . . laß Herrn und Rat schaffen und machen, wie sie wollen, es gehet nicht nichts an”3. Und Melanchthon überweist in Conf. Aug. XXVIII, sowie in „De potetate papae” die Ehegerichte den Fürsten; die Bischöfe haben sie nur aus Kraft menschlichen Rechtes4.
Daß es ein arges Mißverständnis ist, aus diesen Worten Luthers ein profanes Verständnis der Ehe herauszulesen, wie es seit der Aufklärung immer wieder geschehen ist, sei freilich betont. Ausgerechnet in demselben Traubüchlein, in dem die Ehe ein weltlich Geschäft genannt ist, nennt Luther sei einen „göttlichen Stand”, ja, im
1 Als Ausnahme wäre vielleicht das Werk von
Hermann Cremer, Die kirchliche Trauung, 1875, rühmend zu
erwähnen.
2 Viele in den Akten des Evangelischen Oberkirchenrats
Berlin, Generalia Abt. X Nr. 8 Vol. I. Dem Herrn Präsidenten des
Evangelischen Oberkirchenrates danke ich herzlich für die
Überlassung der Akten und auch vieler einschlägiger Bücher aus
der Bibliothek des Evangelischen Oberkirchenrates.
3 Ausgabe von 1930, S. 528f.
4 Ebenda S. 125 bzw. 494.
|91|
Vergleich mit Mönchen und Nonnen, „wahrhaft
geistlich”5. Auf jeden Fall las die evangelische
Kirche aus den erstangeführten Worten der Bekenntnisschriften und
aus dem Fehlen jeglicher Anordnung für die Form der Eheschließung
in der Bibel das Recht des Staates heraus, die Ehegesetzgebung zu
handhaben und über die Eheschließungsform frei zu bestimmen. Erst
ganz spät und auch nur ganz vereinzelt tauchen andere Stimmen
auf6. Zunächst ist man einhellig dieser Meinung. Von
da aus war allen Protesten gegen die Einführung der Zivilehe
natürlich von vornherein die Spitze abgebrochen. Das wird etwa
klar ersichtlich, wenn Generalsuperintendent Möller am 13.
Oktober 1871 im Evangelischen Oberkirchenrat als Referent für
eine Beratung über die Zivilehe votierte: „Handelt es sich um
Einführung der Civiltrauung, so hat sie (die evangelische Kirche)
dieselbe weniger an sich, als um der Verhältnisse
willen7, also wegen der Gesinnung, aus welcher
sie geforderte wird, und wegen der Folgen, die von ihr zu
erwarten stehen, zu bekämpfen.
Sie hat dabei schärfer gegen die fakultative als gegen die
obligatorische und schärfer gegen diese als gegen die
Nothcivilehe anzukämpfen.
Ist die Civilehe in irgendeiner Form gesetzlich geworden, so darf
sie (die Kirche) dem Vorurteil, als sei dieselbe ein Concubinat,
keinen Raum geben.” Eine Begründung dieser Thesen enthalten die
Akten nicht. Aber die fakultative Zivilehe wurde damals allgemein
schärfer abgelehnt als die obligatorische; teils weil eine
Diskriminierung derer befürchtet wurde, die sich mit dem
bürgerlichen Akt begnügen würden, und die wollte man nicht; teils
weil sie der privaten Eheschließung zu viel Raum lasse, die
Religion insbesondere der privaten Entschließung preiszugeben
schien, und das wollte man auch nicht. Stimmungsmäßig spräche
dies letzte Argument heute sicher mehr für als gegen die
Alternativmöglichkeit der Trauung vor dem Standesbeamten
oder vor dem Geistlichen.
Es sollen nun nicht alle Argumente einzeln angeführt werden, die in der Diskussion vor 1870 auftauchen. Wir beschränken uns, unserem Auftrag gemäß, und weil es auch sachlich berechtigt ist, auf einen Bericht über die Zeit von ca. 1870 bis ca. 1880. Das Material, das sich da bietet, ist freilich fast unübersehbar. Jede Zeitschrift berichtete über diese Frage, fast jede sogar mehrmals; jede nahm Stellung. Eine Fülle von Broschüren ist erschienen. Die Debatten der Parlamente kommen hinzu; dazu zum Teil umfangreiche historische Untersuchungen über die Trauungsfrage von Juristen (Sohm,
5 Ebenda S. 529.
6 Vgl. unten S. 104.
7 Im Original nicht gesperrt.
|92|
Friedberg, von Scheurl seien genannt8) und von Theologen (Dieckhoff wäre vor allem zu nennen9). Das Faktum dieser historischen Untersuchungen ist übrigens hervorzuheben, ja geradezu bezeichnend: dem Geist des 19. Jahrhunderts entsprach die historische Durchleuchtung des Problems; die systematische Durchdenkung nahm nicht entfernt den gleichen Rang ein. Hier, in der Bereitstellung des historischen Materials, ist aber auch Hervorragendes geleistet. Die Behauptung, die man vielfach hören kann und die auch der Berichterstatter persönlich bejaht hatte, man habe nach 1870 in bezug auf die Ehefrage es sich leicht gemacht und das Problem gar nicht ernsthaft durchdacht, ist keinesfalls zu halte. Die allermeisten Einzelvorschläge, die heute gemacht werden, sind vielmehr damals auch schon aufgeklungen. Daß das Ergebnis, nicht nur nach unserem heutigen Urteil, so unbefriedigend war, lag auf jeden Fall nicht an mangelnden Fleiß oder mangelnder Sorgfalt, sondern einmal an der mangelnden Schärfe der systematischen Fragestellung, zum anderen an zeitgeschichtlich bedingten Faktoren, die gleich heraustreten werden. Aber auch die fehlende systematische Schärfe ist ja zeitbedingt.
2.
Überblickt man die innerkirchliche Diskussion um die obligatorische Zivilehe in dem Jahrzehnt zwischen 1870 und 1880, d.h. in dem Jahrzehnt, in dem sie in Preußen (1874) und Deutschland (1875) offiziell eingeführt wurde, so heben sich deutlich drei Perioden gegeneinander ab, nämlich:
1. die Zeit vor 1874 bzw. 1875, also die Zeit vor der Verabschiedung der Zivilstandsgesetze in Preußen bzw. Deutschland. In dieser Zeit ist die Stellung der evangelischen Kirche, der Kirchenleitungen sowohl wie auch der breiten Masse der kirchlichen Kreise, so gut wie einheitlich und zwar gegen die obligatorische Zivilehe gerichtet. Eine Notzivilehe hält man freilich, so wie die Verhältnisse nun einmal geworden sind, für unausweichlich. Angehörigen von Kirchen, die nicht Körperschaften öffentlichen Rechtes sind, und Dissidenten muß die Möglichkeit gegeben werden, eine bürgerlich gültige Ehe zu schließen, ohne von einem evangelischen oder katholischen Geistlichen getraut zu werden; das erfordert die Toleranz und auch die Würde des Trauaktes. Aber auf keinen Fall eine staatliche
8 Rudolf Sohm, Das Recht der
Eheschließung, 1875; ders., Trauung und Verlobung, 1876;
Emil Friedberg, Das Recht der Eheschließung in seiner
geschichtlichen Entwicklung, 1865; ders., Verlobung und
Trauung, 1876; A. von Scheurl, Die Entwicklung des
kirchlichen Eheschließungsrechts, 1877; ders.,
Bürgerliche Eheschließung und Trauung, 1878.
9 August Wilhelm Dieckhoff, Die kirchliche
Trauung, 1878; dazu eine Aufsatzreihe in der Allg. Ev.-Luth.
Kirchenzeitung; ders., Civilehe und kirchliche Trauung,
1880; Hermann Cremer, Die kirchliche Trauung, 1875, muß
hier auch noch einmal angeführt werden.
|93|
Eheschließungsform, der auch die treuen Glieder der Kirchen unterworfen sein sollen. Als Hauptgründe gegen die Zivilehe werden angeführt10:
a) Die obligatorische Zivilehe würde die evangelische Kirche bis ins Mark bedrohen, ja, sie in einen direkten Kampf um ihre Existenz hineinnötigen. Denn wenn der Staat die kirchliche Trauung als nicht mehr notwendig erkläre, werde auch die Bevölkerung sie als nicht mehr notwendig ansehen und also als überflüssig oder wohl gar als unerwünscht, und sie deshalb meiden. So hatte schon die Abteilung für Geistliche Angelegenheiten 1849 votiert: Das Ansehen der Kirche müsse leiden, wenn die Trauung mit einem Male ein rechtlich unwirksamer Akt werde. Und die Abteilung hatte von daher schon eine böse Prognose gestellt: „eine unbedingte Einführung der Civilehe in den östlichen Provinzen des Landes und in der Provinz Westfalen” — im Rheinland bestand sie schon seit der napoleonischen Zeit! — werde „unter den gegenwärtigen Umständen für das sittliche und religiöse Leben des Volkes in Kirche und Staat (!) Bedenken und Gefahren haben”. Ebenso hatte schon das Konsistorium in Münster am 10. 7. 1849 mit ungünstigen Prognosen gegen die Zivilehe argumentiert. Solche tauchen seitdem immer wieder auf, in privaten Schriften wie an offizieller Stelle. Oberhofprediger Hoffmann votierte etwa im Evangelischen Oberkirchenrat im Oktober 1871: nach Einführung der Zivilehe würde bald ein Drittel aller Ehen nur noch zivil geschlossen werden. Präsident Hegel stimmte dem bei: in Berlin würden dann nur 50 Prozent der Ehen kirchlich getraut werden. Diese Argumente wurden auch nicht durch den Hinweis auf die günstigen Erfahrungen des Rheinlandes zum Schweigen gebracht. Das sei eben das kirchliche Rheinland! Aber im Osten werde es ganz anders gehen. — Prognosen sind nun ein schlechtes Argument, da die Zukunft dunkel ist. Auf jeden Fall berührt dieser Teil des damaligen Gesprächs uns heute nicht mehr.
b) Auf jeden Fall, hieß es weiter, sei die Zivilehe eine Versuchung für das christliche Volk, für die Halben und Lauen in ihm; und eine solche sei unerwünscht. Die Kirche habe immer auch eine Erziehungsanstalt zu sein. Für die Masse sei das Christentum väterliche Sitte und von da aus das Gebot unmittelbar als heilig und göttlich anerkannt. Fortan werde alles auf die schwankende Macht der persönlichen Überzeugung gestellt sein. Rudolf Sohm formulierte diese Ansicht wenige Jahre später; hier sei geradezu die sozialdemokratische
10 Eine „Denkschrift” des preußischen Evangelischen Oberkirchenrates von 1872 gegen die Ziviltrauung lag mir nicht vor, da der Band II (1872-1874) der Akten des Evangelischen Oberkirchenrats betr. die Zivilehe mir leider nicht zugänglich war; doch wird oft auf sie Bezug genommen. Auch die Eingabe der Generalsuperintendenten an den Kaiser fehlte mir so.
|94|
Doktrin, daß Religion Privatsache sei, bejaht11. Dies zweite Gegenargument ist also deutlich die Bejahung der christlichen Sitte; sie soll unangetastet bewahrt bleiben12. Auch dies Argument hatte die Abteilung für Geistliche Angelegenheiten schon 1849 geltend gemacht.
c) Mit ihm hängt eng das dritte Motiv zusammen, das gegen die obligatorische Zivilehe geltend gemacht wurde: Die Bejahung der Volkskirche. Da man von der Richtigkeit der düsteren Prognosen überzeugt war, mußte man sie in Gefahr sehen. Da man sie aber grundsätzlich, ja, zum Teil leidenschaftlich verfocht, mußte man gegen die Zivilehe votieren.
d) Gleich daneben steht das Argument des „christlichen Staates”, das besonders in Preußen jenseits der Elbe eine große Rolle spielte. Mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe war in Preußen die Abschaffung der Zwangstaufen verbunden; säumige Eltern — betroffen waren vor allem uneheliche Mutter — konnten bis dahin durch Vormund oder Vormundschaftsgericht gezwungen werden, ihre Kinder zur Taufe zu bringen. So wurde sichergestellt, daß das ganze Staatsvolk christlich war bzw. wurde und blieb. Das eben hörte mit dem Zivelstandsgesetz auf. Damit was aber für sehr viele Augen der Verzicht auf das Ideal des christlichen Staates in dem Gesetzentwurf klar ausgesprochen. Ihr Ja zum christlichen Staat nötigte diese also zu einem Nein gegen das Gesetz, das oft sogar sehr leidenschaftlich vorgebracht wurde. Von da her hatte auch Bismarck 1849 die Zivilehe abgelehnt und das durch eine flammende Rede im Abgeordnetenhaus öffentlich kundgetan, was ihm natürlich jetzt vorgehalten wurde.
e) Das sich hier aussprechende Mißtrauen erhielt eine starke Stütze aus der ja auch unleugbaren Tatsache, daß die Zivilstandsgesetze aus einer kirchenfeindliche Atmosphäre stammten. Die Aktion war nach 1870 zwar primär gegen die katholische Kirche gerichtet; aber der Gedanke der Zivilehe kommt überhaupt aus einer kirchenfeindlichen oder doch kirchenkritischen Einstellung und ist auch in Deutschland von einer solchen 1848 aufgegriffen worden. Diese Tatsache hat 1849 schon das Konsistorium zu seinem großen Einspruch veranlaßt. Zudem hat die freie Presse den Kulturkampf in einem Maß zum Kampf gegen Christentum und Kirche
11 Rudolf Sohm, Die obligatorische
Civilehe und ihre Aufhebung, 1880, S. 12. In späteren Jahren ist
derselbe Sohm freilich sehr energisch für die obligatorische
Zivilehe eingetreten, vgl. sein „Kirchenrecht” Bd. 11, 1923, S.
129.
12 Vgl. Heinrich Röpe, Das
Reichs-Civilstandsgesetz, 1879, S. 28; A. von Oettingen,
Obligatorische und fakultative Civilehe nach den Ergebnissen der
Moralstatistik, 1881, S. 2 f.; Rudolf Sohm, Zur
Trauungsfrage, 1879, S. 38 („eine Versündigung der Gesetzgebung
an den Bedürfnissen des christlichen Volkslebens”).
|95|
überhaupt benutzt, der heute immer wieder unser Staunen erregt. Johannes Kißlings „Geschichte des Kulturkampfes”13 vermittelt davon einen lebendigen Eindruck. Von daher ist es wirklich verständlich, daß manche die Entstehungssituation der Gesetze absolut setzten und in ihnen also nichts als „Institutionen eines widerchristlichen Geistes” sahen14. Sie schlössen eine Schließung der Ehe vor und mit Gott aus und ständen daher im Widerspruch mit der Frömmigkeit (Dieckhoff).
f) Sehr stark wurde immer wieder auf die Unbequelichkeiten und auf die Kosten hingewiesen, die für die Bevölkerung wie für die Gemeinden aus den Gesetzen entstehen müßten: doppelte Wege, zum Standesamt und zum Pastor, bei Geburt, Hochzeit, Tod, dazu bei der Besorgung von Scheinen; doppelte Kosten: Geburts- und Taufscheine usw. Außerdem müßten die Gemeinden die Standesämter neu einrichten. Und endlich ergebe sich ein Unsicherheitsfaktor: wo bekomme man jeweils den richtigen Schein? Auch diese „Last und Beschwer” hatte die Abteilung für die Geistlichen Angelegenheiten schon 1849 hervorgehoben.
g) Diese hatte auch betont, daß keineswegs in jedem Dorf sich ein geeigneter Zivilstandsbeamter finden werde. Auch dieses Argument kehr immer wieder.
h) Man befürchtete einen Konflikt zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Eherecht. Bisher gingen beide praktisch konform. Jetzt war der Staat im Begriff, ein eigenes Eherecht aufzustellen, das, z.B. in der Frage der Wiederverheiratung Geschiedener, laxer war als das bisherige Recht. Aber schon rein prinzipiell ging man von verschiedenen Grundlagen aus. Die Divergenz, die hier drohte oder sich jedenfalls erheben konnte, scheute man.
i) Eine fast peinlich große Rolle spielte, auch in der Denkschrift des Evangelischen Oberkirchenrats, die Frage des Einkommens der Geistlichen. Freilich bildeten die sogenannten Stolgebühren, die Gebühren für die einzelnen Amtshandlungen, damals noch einen erheblichen Teil des Bareinkommens. Die Eheschließung vor dem Standesamt war nun aber umsonst. Die Prognosen für das fernere Begehren der kirchlichen Trauung waren sowieso schon trübe. Sollte sie gar noch gebührenpflichtig bleiben, wurden die Aussichten noch trüber. Der Gehaltausfall drohte von daher erheblich zu werden. Schon seit 1849 hatte dieser Hinweis ein erhebliches Gewicht, z.B. in einem Rundschreiben des Ministeriums an die Konsistorien. Der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats befürchtete 1871 sogar den „Banquerot der Pastoren”. Preußen suchte dies Argument
13 3 Bände, 1911 ff.
14 So Aug. Wilh. Dieckhoff b. Alex v.
Oettingen a.a.O., S. 9; Dr. Brüel am 13. 12. 1873 im
Abgeordnetenhaus; Generalsuperintendent Möller 1871 im
Evangelischen Oberkirchenrat.
|96|
dadurch zu entkräften, daß es eine Entschädigung aus der Staatskasse für diesen Ausfall vorsah. —
Alle Argumente, die bisher angeführt sind, sind kaum von theologischer Relevanz. Die Motive, z.B. des verabsolutierten Volkskirchenideals oder des Ideals eines „christlichen Staates”, sind für uns brüchig geworden. Und die praktischen Gegengründe sind, obwohl die Doppelheit der Wege usw. noch heute besteht, doch „praktisch” überwunden und also hinfällig geworden, insbesondere auch das finanzielle Argument.
Von erheblich größerer Tiefe ist die Rede, die der Abgeordnete von Sybel als Berichterstatter der betreffenden Kommission 1869 im Abgeordnetenhaus hielt. Er, oder Mitglieder seiner Kommission, haben erkannt, daß die kirchliche Trauung durch den Geistlichen erst im 18. Jahrhundert, in der Aufklärungszeit, an Stelle des consensus matrimonialis, der es vorher war, ehekonstitutiv geworden ist. Von Sybel sieht das als eine Wirkung absolutistischen Geistes an. Denn der Geistliche handelt kraft staatlicher Ermächtigung, wenn er traut; der Absolutismus sah in der Tat die Kirche als Staatsdepartement! So sei die Ehe im eigentlichen Sinne schon damals Staatssache geworden, was die Trauungsform nur verdeckt habe. Da die Kirche nun erklärt habe, daß die bürgerliche Ehe der kirchlichen Lehre nicht widerstreite, sei die Kommission in ihrer Mehrheit für die Einführung der Zivilehe.
Eine besondere Erwähnung verdient auch noch das vorhin schon kurz berührte Votum des Stettiner Konsistoriums vom 10. Mai 1849. Die Trauung, hieß es dort, widerspreche nicht den Glaubensgrundsätzen der evangelischen Kirche. Aber daraus zog das Konsistorium nun den bedeutsamen Schluß, daß die Kirche, wenn sie eingeführt werde, die Selbständigkeit bekommen müsse, ihre Angelegenheiten von sich aus zu ordnen. Offenbar meinte man, daß die Trennung von Staat und Kirche nicht nur partiell durchgeführt werden könne. Generalsuperintendent Möller nahm dies Postulat in der Beratung des Evangelischen Oberkirchenrates 1871 auch wieder auf. —
Man sieht, fast alle Argumente, die nach 1869 vorgebracht wurden, waren durch die Überlegungen, die seit 1848 gepflogen waren, schon bereitgestellt.
(Am Rande sei vermerkt, daß die Gegner des Gesetzes es auch an Hohn nicht fehlen ließen. So spottete Graf von Limburg-Stirum im Preußischen Abgeordnetenhaus: Bei der kirchlichen Trauung müsse der Mann die Frage des Geistlichen: „Willst du die hier gegenwärtige N.N. zur Frau?” mit Nein beantworten, denn sie sei ja schon seine Frau.)
Für das Gesetz waren auf kirchlicher Seite eigentlich nur die liberalen Theologen. So begrüßte von liberalen Voraussetzungen aus Dr. Richter-Sangerhausen im Abgeordnetenhaus die Aufhebung des Taufzwanges; ebenso aber auch die Tatsache, daß die evangelische Kirche fortan vielleicht um ihren Bestand werde kämpfen müssen,
|97|
obwohl er lebhaft bestritt, daß die Ehe durch das Gesetz entchristlicht werden solle. Er polemisierte auch gegen die Hineinbeziehung etwaiger finanzieller Verluste in die Debatte; das sei der Kirche nicht würdig. Er hatte auch erkannt, daß Luther die öffentliche und die kirchliche Trauung geschieden hat. Der eigentliche Grund für sein Ja zum Gesetzentwurf war aber die Rücksicht auf die moderne Staatsverhältnisse; sie erforderten nach ihm die obligatorische Zivilehe. Ähnlich argumentierte Professor D. Baumgarten im Reichstag 1875 (Januar).
Für die Einführung der obligatorischen Zivilehe setzte sich 1871 im Evangelischen Oberkirchenrat außerdem der rheinische Generalsuperintendent Eberts ein, der sie ja von dorther kannte. Die fakultative Zivilehe öffne nur eine Nebentür, sei also nichts Halbes und nichts Ganzes. Er blieb mit seiner Befürwortung aber allein.
Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Argumente, die vor 1873 bzw. 1874 gegen die Einführung der obligatorischen Zivilehe erhoben worden sind, so bestätigt sich die oben ausgesprochene Meinung, daß sie eine ernsthafte systematisch-theologische Besinnung nicht erkennen lassen. Der Mangel einer biblischen Weisung (negativ) und (positiv) der Wortlaut einiger — isolierter! — Äußerungen der Bekenntnisschriften haben von vornherein dazu geführt, schon 1848/49, sie prinzipiell für möglich zu erklären. Dabei blieb es. So sind die Gegenargumente fast alle zweitrangiger Natur. Sie bedeuten deshalb für unsere heutige Besinnung wenig. Denn die Prognosen sind für uns überholt. Die Geldfrage scheidet aus. Die christliche Sitte ist natürlich wertvoll; aber wenn sie nur durch eine staatliche Stützungsaktion aufrechterhalten werden kann, ist sie auch schon in sich fraglich geworden.
Auf jeden Fall steht, das muß noch einmal festgestellt werden, die Kirche in der Zeit vor dem Erlaß der Zivilstandsgesetze in ihrer überwältigenden Mehrheit der Zivilehe ablehnend gegenüber. Nur die Notzivilehe wird geschlossen bejaht.
3.
Die zweite Periode, die nur etwa die Jahre 1874 bis 1876 umfaßt, ist gekennzeichnet durch ein, wieder fast vorbehaltlos gesprochenes, Ja der evangelischen Kirchen zur obligatorischen Zivilehe. Re publica locuta causa finita, so könnte man das Ergebnis zusammenfassen. Eine solche Haltung forderte die evangelische Staatsethik von damals. Ein evangelischer Christ hat nach ihr nur noch die Möglichkeit zu gehorchen, wenn das Gesetz erlassen ist. Das ist das A und O aller Stimmen, die laut werden. Daß die Liberalen sogar innerlich zustimmten, war selbstverständlich; sie hatten es schon vorher getan. Auber auch Theodor Kliefoth erklärte in einem Aufruf an die evangelisch-lutherischen Gemeinden, mit „diesem Gesetz werde nichts von uns gefordert, was uns Christen zu thun beschwerlich”
|98|
wäre15. Und die Allgemeine Lutherische Kirchenzeitung urteilte noch 1880: die Gesetze enthalten nichts, was der Christ um Gottes willen verweigern müßte. Die Allgemeine Lutherische Konferenz hatte schon vorher (1874) in einer Denkschrift erklärt: Wenn auch in lutherischen Landen das Eherecht Kirchensache geworden sei — durch die Kirchenordnungen geregelt, durch die Konsistorien und nicht durch die weltlichen Gerichte judiziert —, so könne die Kirche das doch fahren lassen. Die staatliche Trauung konstituiere eine gültige Ehe; also bestehe die Parole, die Kirche solle überhaupt keine Rücksicht auf diese nehmen, nicht zurecht. Sogar Theodor Harms in Hermannsburg, unter dessen Führung es bekanntlich um der Traufrage willen zur Bildung der „Hannoverschen Lutherischen Freikirche” kam, hat das Recht des Staates, die zivile Eheschließung zu fordern, ohne weiteres anerkannt. Nur sollte die Trauliturgie, an die er sich durch seinen Ordinationseid auf die Lüneburger Kirchenordnung gebunden fühlte, nicht angetastet werden16.
Die Frage war immer nur, welche Folgerungen sich für die Kirche und insbesondere für die kirchliche Trauung daraus ergeben sollten. Über die Diskussion dieses Problems unterrichten klassisch die Verhandlungen, die auf der eigens zu diesem Zweck einberufenen außerordentlichen Tagung der Eisenacher Konferenz der Kirchenregierungen 1875 gepflogen worden sind. Der Berichterstatter, Geh. Justizrat Vollert, Weimar, schilderte auf ihr zunächst die Lage. Im Reichstag (oder Bundesrat) hatte der Präsident des Reichskanzleramtes am 31. Januar 1876 eine mecklenburgische Stellungnahme: die Kirche brauche in ihrer Agende nichts zu ändern, gegen Anfechtungen zwar gedeckt17, aber der preußische Kultusminister Falck hatte Änderungen von Staats wegen verlangt18. Sie waren auch sonst mancherorts sofort vorgenommen. Folgende Typen ergaben sich:
Baden (schon 1870 eingeführt):
Traufrage: „N.N. Ich frage euch im Namen Gottes: wollet ihr mit dieser hier gegenwärtigen N.N. als mit eurer Ehefrau nach Gottes Befehl leben, Glück und Unglück in Gottesfurcht mit ihr tragen und alle Liebe und Treue ihr erzeigen, bis Gott durch den Tod euch scheidet? so antwortet: Ja!” (Ehefrau entsprechend.)
15 Nach von Oettingen, a.a.O., S.
9.
16 Vgl. Georg Haccius, Hannoversche
Missionsgeschichte Bd. III, 1914, S. 71ff.
17 Nach Rudolf Sohm, Zur Trauungsfrage, S.
8.
18 Übrigens nur für den Bereich der evangelischen
Kirchen! Um die katholisch-kirchliche und die jüdische
Trauungsform kümmerte er sich ebensowenig wie die Presse, die
auch nur die evangelischen Trauungsformulare unter die kritische
Lupe nahm.
|99|
Trauformel: (Auf die verbundenen Hände seine rechte Hand legend spricht der Geistliche): „Auf dieses Versprechen, das ihr vor Gott euch gegeben habt, bestätige ich, als ein verordneter Diener der christlichen Kirche, euren Ehebund im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden etc. Der Herr segne euch usw.
Die Traufragen enthalten also nur ein Gelübde für die Eheführung; die Trauformel bestätigt den Ehebund im Namen Gottes; die Segnung schließt ab.
Württemberg:
Traufragen: „Wollt ihr N. die hier gegenwärtige N. zu eurer christlichen Ehegattin haben (statt vorher: „zu eurer Ehegattin nehmen”), sie treu und herzlich lieben, in Freud und Leid nicht verlassen und den Bund der Ehe mit ihr heilig und unverbrüchlich halten, bis der Tod einst euch scheiden wird?”
Trauformel (unverändert): „Weil ihr denn einander feierlich eheliche Liebe und Treue gelobt habt, so bestätige ich, als ein verordneter Diener der christlichen Kirche, hiermit diese eure ehelichte Verbindung als eine nach Gottes Ordnung unauflösliche Verbindung, im Namen Gottes usw. Was Gott zusammengefügt hat, usw.”
Es handelt sich also um die Schließung einer christlichen Ehe, die bestätigt und eingesegnet wird. Württemberg argumentierte: Der Sinn der kirchlichen Trauung ist jetzt „ein vor Gott sich zu eigen geben” und „Zusicherung des göttlichen Segens”.
Preußen (noch Vorschlag, zwei Formulare):
A. Traufragen: „Vor Gott dem Allwissenden und in Gegenwart dieser Zeugen frage ich dich N.N., ob du diese N.N. als deine christliche Gattin haben und halten und sie lieben willst in Leid und Freude, bis daß der Tod euch scheide?”
Trauformel: „Was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden. Da nun N.N. und N.N. entschlossen sind, ihre Ehe nach Gottes Wort christlich zu führen und solches hier öffentlich vor Gott und der Welt bekennen und sich darauf die Hände gegeben, auch die Trauringe gewechselt haben, so segne ich, als ein verordneter Diener der Kirche, hiermit ihren ehelichen Bund usw.”
Also ein Gelübde, die Ehe christlich zu führen, ein Bekenntnis dazu vor Gott und der Welt und eine Segnung. Jegliche Konjunktionsformel fehlt!
B. Traufragen: „Vor Gott dem Allwissenden und in Gegenwart dieser Zeugen frage ich dich, ob du diese deine Gattin vor dem Herrn und dieser seiner Gemeinde als dein christliches Eheweib anerkennen und sie als solches haben, halten und behalten und sie lieben willst in Leid und Freude, bis daß der Tod euch scheidet.”
Trauformel: „Was Gott zusammenfügt, usw. Da nun diese gegenwärtigen Ehegatten hier öffentlich vor Gott und der Welt
|100|
bekennen, daß sie entschlossen sind, ihre Ehe nach dem Worte Gottes christlich zu führen und sich hierauf die Hände gegeben, auch die Trauringe gewechselt haben, so segne ich, als ein verordneter Diener der Kirche hiermit ihren ehelichen Bund usw.”
Also nur Bekenntnis zur christlichen Eheführung und Segnung! Auch hier fehlt jede Andeutung einer Konjunktion.
Der Evangelische Oberkirchenrat argumentierte: alles, was auf Eingehung der Ehe deutet, muß um des Bekenntnisses der Kirche willen wegfallen. Die Ehe ist Sache des Staates. Vor dem Standesamt entstehe volle Ehe, unter Christen volle christliche Ehe. Weiter muß die Agende wahrhaftig und eindeutig sein. Deshalb darf die Trauung keine Konjunktionsformel enthalten; sie kann nur das Gelübde christlicher Eheführung und die Segnung umschließen.
Ebendasselbe forderte der Berichterstatter, nämlich:
a) die Anerkennung, daß die Ehe vor dem Standesamt geschlossen
ist. Die Ehe ist nach Luther und der Apologie Teil der
Natur-Ordnung. Die Ehe ist auch als solche heilig und
braucht nicht erst durch einen kirchlichen Akt geheiligt zu
werden,
b) volle Wahrhaftigkeit und Eindeutigkeit der Liturgie.
Die Vorschläge Vollerts — fünf für die Traufragen, drei für die Trau-, nein: Eingegnungsformel — enthalten alle nur ein Gelübde für die Eheführung, einer mit dem Zusatz „als deine christliche Gemahlin”, bzw. nur eine Segnung, ohne Zusammensprechen oder -geben; auch die Bestätigung lehnte Vollert ab, wie übrigens Preußen auch.
Der Berichterstatter, unterstützt von Preußen, nahm so die weitestgehende Rücksicht auf die Zivilehe. Eine gemilderte Haltung meinte: die bürgerliche Ehe werde vor dem Standesamt geschlossen, die kirchliche (christliche) Ehe durch die Trauung. So Württemberg, so aber auch die Allgemeine Lutherische Konferenz. Die Trauung erst statuiert also den Beginn der christlichen Ehe.
Eine dritte Gruppe glaubte, daß für Christen die Ehe erst durch die kirchliche Trauung zustandekomme, so gewiß der Staat den Zivilakt fordern könne. Sie lehnte deshalb jegliche Änderung der Liturgie ab. So auf jeden Fall die separierten Lutheraner Hannovers, auch wohl Mecklenburg. (Die freilutherische Immanuelsynode hat die Gesetze, umgekehrt, geradezu begrüßt, weil sie ihr nämlich die Möglichkeit eigener Trauung gaben.)
Die Fragen, welcher Geistlicher für die Trauung zuständig sei, wie nunmehr das Aufgebot zu gestalten sei, und ähnliches, können wir übergehen. Bedeutsam ist nur noch das Problem der kirchlichen Ehehindernisse. Der Berichterstatter schlug vor, sie stark einzuschränken. Staatliche Ehe sei Ehe im Sinne der Ordnung Gottes. Die Kirche wirke also nicht mehr dabei mit, daß solche Ehen, die bisher als kirchlich untragbar galten, entstünden — sie seien entstanden —; so solle sie sie auch segnen. Ähnlich urteilte der Evangelische Oberkirchenrat. Daß sich hier ein Dissensus zwischen dem
|101|
kirchlichen Urteil und dem Staat ergeben könne, gab aber auch Vollert zu. In solchem Falle habe die Kirche nach ihrem Recht zu entscheiden.
Aus dem Korreferat des Berliner Generalsuperintendenten Brückner ist nur sein Hinweis auf die Praxis des Rheinlandes ergänzend noch anzuführen, weil er im übrigen dem Referenten zustimmte. Dort war das Trauformular nach Einführung der obligatorischen Zivilehe nicht geändert worden. Warum müsse das jetzt mit einemmal geschehen? Das war die Frage, die sich von da aus ergeben hatte. Brückner antwortete: Die Rheinprovinz habe die Zivilehe aus der Hand des Feindes bekommen; unter diesen Umständen habe das nationale Empfinden geboten, die heimische Sitte (!) zu wahren. Jetzt verbiete die evangelische Staatsethik, in gleicher Weise zu verfahren. (Dies Argument findet sich auch schon in der Denkschrift des Konsistoriums Münster vom 10. Juli 1849.)
In der Debatte wurde aber deutlich, daß keineswegs alle evangelischen Kirchen Deutschlands genau so urteilten wie die Berichterstatter. Der Jurist Dove (Göttingen) hielt die Bestätigung der Ehe durch den Geistlichen für unbedenklich; Solemnisierung eines schon perfekten Rechtsgeschäftes gäbe es auch sonst; selbst Kultusminister Falk habe die „Bestätigung” in dem Gesetzentwurf für die hannoversche Landessynode unbeanstandet gelassen. Der mecklenburgische Oberkirchenrat Kliefoth wollte sogar die Trauung nicht zur bloßen Benediktion absinken lassen; sie sollte Trauung bleiben, d.h. Übergabe aus der Hand Gottes, dazu Bezeugung und Handlung des Wortes Gottes und Segnung; ausgeschieden solle nur werden, was früher als Teil der bürgerlichen Eheschließung in den kirchlichen Akt hineingekommen sei. Außerdem legte er großen Wert auf ein Bekenntnis der Nupturienten zur kirchlichen Gemeinschaft; er wollte also den Bereich des dritten Artikels in der Liturgie gewahrt wissen. Von da aus glaube er die Konsensusfragen aber nicht entbehren zu können. Oberkonsistorialpräsident Harleß (München) wollte die Konjunktionsformel ebenfalls nicht missen, eventuell genügte ihm aber ein Zusammensprechen „zur Führung eures Haushaltes im Sinne Jesu Christi”. Auch Abt Uhlhorn, Hannover trat für sie ein, nämlich für ein Zusammensprechen „als christliche Eheleute”; als wesentlichen Inhalt der Traufragen sah er ein Geloben „von ehelicher Liebe und Treue vor Gottes Angesicht” an. Professor Dorner (EOK) betonte dagegen wieder: Der Mann habe die Frau schon, so sei die Konjunktion hinfällig; die Heiligung der Ehe durch Gottes Wort und Gebet könne künftig nur noch der Sinn der kirchlichen Trauung sein. Auch Oberhofprediger Schwarz, Gotha war gegen ein Zusammensprechen, wie auch gegen das Bestätigen.
Die Debatte, von der nur die wesentlichsten Gedanken skizziert wurden, zeigt also klar, wie unsicher die leitenden Männer der Kirchen damals der Aufgabe gegenüberstanden, den Sinn der Trauung nach Einführung der obligatorischen Zivilehe, d.h. nachdem die
|102|
Trauung ihre ehekonstitutiven Charakter verloren hatte, neu zu bestimmen. Allerdings, alles, was eine Trauung sein bzw. enthalten kann, wenn sie keine Eheschließung bedeutet, das ist in dieser, in ihrer Art ohne Frage guten, Debatte angeführt worden. Nur: eine überzeugende und deshalb alle einende Meinung gab es nicht. Daß sie sich nicht ergab, wird wenigstens zum Teil freilich auch damit zusammenhängen, daß z.B. nach dem Sinn der kirchlichen Konjunktion und also nach dem Sinn der kirchlichen Trauung qua Trauung nicht ausdrücklich gefragt wurde; sie wurde ohne weiteres als ehestiftend angesehen, was sie seit dem 18. Jahrhundert ja auch gewesen war. Der — bejahte! — Grundsatz „consensus facit nuptias” machte es nur um so schwieriger, den Sinn der Konjunktionsformel noch zu verstehen.
Beschlossen ist schließlich mit allen gegen eine Stimme (die
Kliefoths?):
„1. Von der evangelischen Kirche ist rückhaltlos anzuerkennen,
daß mit der nach staatlichem Gesetz erfolgten Eheschließung, was
die Form der Eingehung betrifft, eine vollgültige Ehe
entsteht.
2. Mit den bisherigen Trauungsformularen sind diejenigen
Veränderungen vorzunehmen, welche vorstehender Grundsatz
erfordert; im übrigen sind dieselben unverändert zu belassen.
3. Die Veränderungen in den Trauungsformularen sind so zu fassen,
daß sie jede Zweideutigkeit ausschließen, zugleich aber sind
dieselben mit schonendster Berücksichtigung der bestehenden
Volkssitte auf das Unerläßliche zu beschränken.
4. Der Akt der kirchlichen Trauung besteht, außer der
einleitenden freien oder formulierten Ansprache aus den Lektionen
des göttlichen Worts, dem Gelöbnis der neuen Eheleute, der
Trauungsformel, dem Gebet und Segen.
5. Die Trauungsfragen sind so einzurichten, daß sie die Ablegung
des Gelübdes christlicher Eheführung18a
hervorrufen, ohne auf eine Erklärung des Willens, die Ehe zu
schließen, abzuzwecken.
6. Eine verschiedene Fassung der Trauungsfragen, je nachdem die
Trauung sofort dem bürgerlichen Eheschließungsakt folgt, oder
nicht, ist berechtigt.
7. Die Trauungsformel hat jedenfalls die
Segnung18a der geschlossenen Ehe im Namen des
dreieinigen Gottes zu enthalten. Wo nach den geschichtlichen oder
sonstigen besonderen Verhältnissen an der Zusammensprechung oder
Bestätigung festgehalten werden muß, ist darauf zu achten, daß
diese Formel im Zusammenhang und übrigen Inhalte des
Trauungsformulars die genügende Erläuterung finde und wo nöthig
durch sonstige Belehrung vor Mißverständniß bewahrt bleibe.
8. Auch in den Landeskirchen, wo bisher bestimmte
Trauungsformulare nicht eingeführt waren, werden, um der Willkür
zu wehren,
18a Im Verhandlungsprotokoll nicht gesperrt.
|103|
solche Formulare für die kirchliche Einsegnung der Ehe einzuführen sein.”
Das ist ein klarer Kompromiß, der jeder Kirche die Möglichkeit ließ, das zu tun, was sie für recht hielt. Faktisch blieb es denn auch bei großen Unterschieden. —
Man kann die Frage aufwerfen, ob dies einhellige Ja, das die
Kirchen nunmehr auf jeden Fall zur obligatorischen Zivilehe
sprachen und das das einhellige Nein ablöste, nicht ein
erschreckendes Dokument für eine verzweifelte Staatshörigkeit
sei, die damals die evangelischen Kirche also gefangen hielt. Es
gibt in der Tat Stimmen, die dahin gedeutet werden
müssen. So wenn es einmal heißt: die Trauung dürfe keine
Konsenserklärung, nur eine Segnung enthalten; das sei die
evangelische Kirche dem Staate schuldig. Oder wenn in einem
Flugblatt zur Aufklärung an die Breslauer Gemeinden der Staat
als eine Schöpfung Gottes wie die Familie und die
Kirche bezeichnet wird. Aber man wird demgegenüber sagen
müssen:
a) Die — ohne Frage vorhandene — Staatshörigkeit wirkt sich hier
doch graduell sehr verschieden aus. Ein Nein konnte, wo die
obligatorische Zivilehe von vornherein und für alle als
theologisch möglich galt, nur mit sekundären Gründen gestützt
werden; Inopportunität, Gefährdung der christlichen Sitte, des
christlichen Staatscharakters usw. Mit solchen Gründen ließ sich
aber nicht einmal ein passiver, geschweige denn ein aktiver
Widerstand gegen die Gesetze rechtfertigen.
b) Man war genötigt, schnelle Entscheidungen zu treffen;
ein langes Sichbesinnen war jetzt nicht mehr möglich. Was
geworden wäre, wenn nicht die Debatte seit 1848 vorausgegangen
wäre, ist überhaupt nicht auszudenken. Offenbar hat man
kirchlicherseits aber auch jetzt noch nicht mit der Einführung
gerechnet gehabt.
c) Angesichts dessen ist der Widerstand, der gegen ernsthafte
Eingriffe in die Trauliturgie geleistet worden ist, sogar
erstaunlich. Daß er mehr einem konservativen Sinn als einer
theologisch klaren Einsicht entsprang, muß allerdings gesagt
werden.
4.
Die dritte Periode. Schon sehr bald nach 1875 erhob sich ein neuer Sturm gegen die obligatorische Zivilehe, so energisch, daß die Stellung zu ihr geradezu zum Maßstab christlicher oder unchristlicher Gesinnung gemacht wurde19. Und das, obwohl man die Befreiung vom Zwang zu einer kirchlichen Handlung an sich guthieß und eine einheitliche Regelung für ganz Deutschland begrüßte20. Die wesentlichsten Gründe für ihre erneute Bekämpfung sind jetzt — die
19 Vgl. den Bericht von Oettingen’s
darüber, a.a.O., S. 9f.
20 Vgl. Röpe, a.a.O., S. 8.
|104|
praktischen Gegengründe wie doppelte Wege, verringerte Stolgebühren usw. tauchen natürlich auch wieder auf; sie übergehen wir jetzt —:
a) Die Wirkung ihrer Einführung. Die düsteren Prognosen schienen sich in der Tat zu bewahrheiten. In Berlin z.B. wurden nach Stöcker 1875 80 Prozent der Ehen nicht mehr kirchlich getraut und nur noch 52 Prozent der Kinder getauft21. Erst allmählich nahm die Zahl der Trauungen spürbar wieder zu.
b) Das Ende des Kulturkampfes, d.h. der Abbau der Maigesetze. Die obligatorische Zivilehe war im Kulturkampf als Waffe gegen die katholische Kirche eingeführt worden; die evangelische Kirche war nur aus Paritätsgründen miteinbezogen, aber nicht eigentlich gemeint gewesen. So hoffte man jetzt, die obligatorische Zivilehe wieder beseitigen zu können.
Das sind klar zeitgeschichtlich bedingte Gründe.
c) Etwas weiter greift schon die Entrüstung über die Diffamierung der Pastoren, die das Gesetz enthält, wenn ein Standesbeamter, der dagegen verstößt, im Höchstfall mit einer Geldstrafe von 600,— Mark belegt werden kann, einem Geistlichen aber drei Monate Gefängnis angedroht werden. Hier hat die antikirchliche Kulturkampfstimmung deutlich Pate gestanden22.
d) Der eigentliche Grund war aber der, daß die kirchlichen Kreise nach wie vor die kirchliche Trauung als den eigentlichen ehekonstituierenden Akt ansahen. Die ziemlich radikalen Änderungen der Trauliturgie, die der Evangelische Oberkirchenrat und andere Kirchenbehörden vorgenommen hatten, haben den Unterschied von vorher und nachher auch allen bewußt gemacht. So erhob sich gegen sie in Preußen der erste Widerstand. Eine Fülle von Einzeleingaben befindet sich in den Akten des Evangelischen Oberkirchenrats23. Die Synode der Provinz Sachsen beschloß z.B. im April 1875 eine Eingabe an den König, er solle den Trauungserlaß des Evangelischen Oberkirchenrats abändern lassen. Die westfälische Synode hatte schon im Oktober 1874 moniert, daß zuviel geändert sei. Namhafte Mitglieder der preußischen Generalsynode, darunter mehrere Generalsuperintendenten, baten am 1. Februar 1876 ebenfalls den Kaisere, die Konjunktionsformel zu gestatten. Der Evangelische Oberkirchenrat hatte außerdem die Trauung Geschiedener, da sie nun ja verheiratet seien, verfügt. Auch dagegen wurde Sturm gelaufen. Der Evangelische Oberkirchenrat hatte nun seinerseits schon 1874 alle Kreissynoden aufgefordert, Stellung zu nehmen. Die Konsistorien haben jeweils zusammenfassend darüber berichtet. In Schlesien wollten 38 Synoden die bisherige Praxis beibehalten, 8 Synoden wollen dagegen das „bestätigen” nicht, nur „weihen” oder „segnen”.
21 Statistische Angaben etwa bei Röpe,
a.a.O., S. 33f., 56ff. und kritisch in dem oben S. 94
Anm. 12 genannten Buch von Oettingen’s.
22 Vgl. Röpe, S. 48.
23 Generalia, Abt. X Nr. 8 Vol. IV.
|105|
In Posen faßten 13 Synoden denselben Beschluß, hier wollten nur 4
keine Änderung der Agende, 5 setzten sich für ein
„Zusammensprechen als christliche Eheleute” ein. In
Sachsen war die Hälfte (44 Synoden) für eine nur geringfügige
Änderung der Agende (nur in der Anrede des Brautpaares!), die
andere Hälfte für den Vorschlag des Evangelischen
Oberkirchenrats. In Brandenburg wollten 10 Synoden das
Zusammensprechen zu christlicher Ehe, 10 nur weihen oder
segnen. In Westfalen erklärten 11 Synoden jede Änderung für
unnötig, alle übrigen ein Zusammensprechen zu
„christlicher” Ehe erwünscht. Der Evangelische
Oberkirchenrat blieb aber auch weiterhin bei seiner Meinung. Er
hat es am 25. November 1874 zwar selbst ausgesprochen, daß manche
Pastoren den Erlaß, die Trauung betreffend, einfach nicht
befolgten, sich sogar über „Gewissensnot” beschwerten, der
Trauung Geschiedener wegen. Das Zusammensprechen erschien ihm
auch an sich möglich, nur war es ihm zu sehr
Mißverständnissen ausgesetzt. Deshalb hatte er auch schon am 16.
Oktober bei Kultusminister Falk dagegen protestiert, daß dieser
die Formel des Zusammensprechens als christliche Eheleute für
Hannover genehmigt habe24. Der Minister wies den
Einspruch unter dem 18. Dezember zurück. Auch als der
Evangelische Oberkirchenrat vom Kaiser auf die vorhin genannten
Eingaben hin durch den Minister zum Bericht aufgefordert wurde,
wobei dieser wieder bemerkte, daß er nichts gegen das
Zusammensprechen habe, blieb der Oberkirchenrat bei seiner
Haltung, schlug aber vor, die Generalsynode solle über die Agende
entscheiden. Vorher erfolgte eine neue Befragung der
Provinzialsynoden. Der Evangelische Oberkirchenrat schlug dabei
vor, daß die Trauung enthalten solle:
a) eine Proklamierung, d.h. eine Eingliederung der geschlossenen
Ehe in die Gemeinde;
b) eine Art Zusammensprechen zu unauflöslicher
Gemeinschaft. (Gibt es aber auflösbare Ehe?)
Zwei Formulierungen wurden angeboten, eine, die nur eine Weihung enthält, eine zweite, die lautete: „Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden. Da nun N.N. und N.N. entschlossen sind, ihre Ehe nach Gottes Wort christlich zu führen und solches hier öffentlich vor Gott und den Menschen bekennen . . ., so verkündige ich als ein verordneter Diener der Kirche vor dieser Gemeinde ihre eheliche Verbindung, spreche sie zusammen in Christo Jesu zu unauflöslicher Lebensgemeinschaft und weihe und segne ihren Ehebund im Namen Gottes . . .” Das Ergebnis der Befragung war: keine Provinzialsynode billigte die Vorschläge. Westfalen erklärte, die provisorische Regelung der Evangelischen
24 Die erste hannoversche Fassung der Konjunktionsformel hatte gelautet: „so spreche ich aus Ordnung und Befehl der Kirche sie ehelich zusammen”. Das hatte der Minister abgelehnt, dafür die neue Fassung selbst vorgeschlagen.
|106|
Oberkirchenrats ginge weit über das vom Gesetz Erforderte hinaus; das Volk der Provinz sehe in der kirchlichen Trauung nach wie vor eine wirkliche Trauung, nicht nur eine Segnung. Pommern: Die Nupturienten wollen bei der Trauung nicht zur Führung, sondern zur Schließung der Ehe etwas. — Die Stimmung der Synoden hat sich gegen 1874 also deutlich in ablehnender Richtung verschärft.
Die Generalsynode beschloß in Abänderung eines neuen Vorschlages
des Evangelischen Oberkirchenrats ein Parallelformular.
Traufragen: a) Willst du diese N.N. als deine Ehefrau aus
Gottes Hand hinnehmen, sie lieben und ehren usw.,
b) . . . als deine Ehefrau nach Gottes Wort und Willen haben
und halten usw.
Trauformel: a) . . . spreche ich sie zusammen in den heiligen
christlichen Ehestand im Namen Gottes . . . Was Gott
zusammengefügt hat . . .
b) . . . so segne ich hiermit euren ehelichen Bund im Namen
Gottes . . . Was Gott zusammengefügt hat . . .
Der erfolgreiche Kampf der preußischen Kirche für das „Zusammensprechen durch den Pastor” zeigt, wie sehr den Pastoren und Gemeinden an ihm lag. Jetzt kamen Stimmen auf: Da ein Christ in der kirchlichen Trauung den ehekonstituierenden Akt sehe, sei der Zwang zur Zivilehe (eben weil sie ehekonstitutiven Sinn, nicht nur den einer Registrierung habe) gegen das Gewissen25. Rudolf Sohm stützte diese Meinung; auch er vertrat die These, daß Trauung und Zivilehe sich gegenseitig ausschlossen, weil sie beide Eheschließungsakte seien; auch er forderte damals die fakultative Zivilehe25a. Auf theologischer Seit kamen A.W. Dieckhoff und Hermann Cremer zu derselben Ansicht26.
e) Vereinzelt ist auch erkannt, daß der Gedanke der Staatsomnipotenz hinter den Zivilstandsgesetzen stehe27.
Auf jeden Fall forderten nicht kleine Kreise nun die Abschwächung der Gesetze zur fakultativen Zivilehe28; einzelne wollten nur die Notzivilehe wieder zugestehen. —
25 Vorsichtiger hieß es auf der Gnadauer
Konferenz 1879: Der evangelische Geistliche könne, ob zwar
bekümmerten Herzens, doch unverwundeten Gewissens mit dem
Civilstandsgesetz amtieren. Doch wurde hinzugefügt: es sei ihm
„täglich unbequem und so wehetuend”. Die Konferenz forderte von
daher die fakultative Zivilehe.
25a Vgl. oben S. 92 mit Anm. 8.
26 Vgl. oben S. 92 mit Anm. 9.
27 W. Rathmann, Zehn Jahre Civilstandsgesetz
in Preußen, 1886, S. 35.
28 Der „Verband konservativer Männer” nahm
1880 in einer Petition an den Reichstag die Wünsche auf die
fakultative Zivilehe auf. Seine Gründe sind uns schon bekannt:
Die Bedeutung der Religion sei herabgesetzt, da das Volk den
Eindruck habe, daß von oben kein Wert mehr auf die Religion
gelegt werde. Auch sei das Gesetz gegen das Gewissen, da das
Gesetz die Zivilehe, das Gewissen die Trauung als ehekonstitutiv
ansehe.
|107|
Der neue Kampf gegen die obligatorische Zivilehe ist bekanntlich ergebnislos im Sande verlaufen. Als Gründe dafür lassen sich, soweit ich sehe, anführen (ganz klar ist es mir nicht geworden, warum der Kampf dann schon bald wieder abflaute):
a) Die Sprache der Statistik. 1879 wurden schon wieder 36,93 Prozent aller rein evangelischen Ehen getraut29. Damit entfielen alle Argumente, die aus der christlichen Sitte, der Volkskirche usw. gegen die obligatorische Zivilehe genommen waren. Es war inzwischen aber auch klargeworden, daß das Sichbegnügen mit der Zivilehe nur ein die Entkirchlichung offenbarendes Symptom, nicht aber ihre Ursache war.
b) Es gab doch wachsende Gruppen, die die Zivilehe bejahten; mochte es nun durch Liberale geschehen, die in ihr die ideale evangelische Eheschließungsform sahen, mochte es aus Staatshörigkeit erfolgen30, oder weil man, wie z.B. Generalsuperintendent Braune, Gotha, gelernt hatte, den Eheschließungsvorgang in mehrere Akte zu zerlegen, und so die Möglichkeit gewann, zur obligatorischen Zivilehe als zu einem unter mehreren Akten ja zu sagen31.
c) Da nach wie vor so gut wie alle — die Ausnahmen sind eben (S. 106) schon genannt — die Zivilehe als mit dem Worte Gottes vereinbar ansahen, war der neue Kampf gegen sie eigentlich auch schon verloren, ehe er begonnen hatte.
5.
Die Uneinigkeit der Kirche über die Grundfragen und die verschieden starke Rücksichtnahme auf das Empfinden des Volkes bei der Neugestaltung der Liturgie haben also damals zu dem bunten und unklaren Ergebnis geführt, das zutage liegt. Es wäre ein Jammer, wenn die liturgische Neubesinnung von heute, der eine politische Notwendigkeit, die Eheschließungsprobleme neu zu durchdenken, parallel geht, wieder erfolgen würde, ehe die Grundfragen theologisch wirklich geklärt sind. Gott schenke es uns, daß wir uns dabei schließlich größerer Einigkeit erfreuen können, als es unsere Väter gekonnt haben. Auf jeden Fall gilt: emotional begründete Entscheidungen helfen in dieser Frage nicht weiter. Hier muß volle theologische Klarheit geschaffen werden, ehe gestaltet wird. Die Diskussion, die über den zeitlichen Vorrang von Standesamt oder Trauung im März 1954 öffentlich geführt wurde, macht, weil sie so wenig fundiert war, diese Mahnung doppelt ernst.
29 Der Reichsbote wertete das freilich als ein
Plebiszit gegen die obligatorische Zivilehe und forderte
deshalb ihre Aufhebung!
30 So der (freisinnige) Kirchliche Verein
Liegnitz in einer Petition an den Reichstag: Die Ehe gehört ihrer
Natur nach dem Staate allein (!) (Protestantische
Kirchenzeitung 1881 Sp. 333f.).
31 Karl Braune, Zur Trauungsfrage (Halte, was
du hast, Jg. 1878 S. 289ff.). Ähnlich auch schon Hermann
Cremer.