5. Die kirchenrechtliche Bedeutung des Bibelkanons

Die Bildung eines Kanons biblischer Schriften hat ebenso einen dogmatischen wir kirchenrechtlichen Charakter. „Die Kirche machte bestimmte Schriften zur Regel und zum Maßstab ihrer Verkündigung, wies andere als unverbindlich zurück und schied sie aus der Sammlung aus.” 32 Der Charakter verbindlicher Entscheidung und damit Rechtsentscheidung ist ohne weiteres deutlich. Wie jede Entscheidung ist auch diese zweiseitig, ambivalent. Die Kirche bindet sich selbst an den Kanon, nimmt seinen Inhalt an und weist anderes ab, auch wenn es nicht einfach verwerflich

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ist, sondern nur einen geringeren Rang, mindere Bedeutung hat, so wie sich etwa der Clemensbrief im Kanon nicht gehalten hat. Von der apostolischen Zeit unmittelbarer Verkündigung der Auferstehungszeugen über die Zeit deren hinweg, welche diese Augenzeugen selbst gesprochen haben, lebt die Kirche noch mindestens ein Jahrhundert ohne ein eigentliches Corpus heiliger Schriften auf Grund wesentlich mündlicher Tradition, wobei freilich der rezipierte Kanon des Alten Testaments vorauszusetzen ist. Zu dem stand in wachsender Verbreitung ein gewisser, noch nicht geordneter und abgegrenzter Bestand von apostolischen Briefen zur Verfügung. Der Vorgang der Kanonbildung hat sich dann mit zwei sehr erstaunlichen Ergebnissen ausgependelt:
1. „Wir müssen nach unserer ganzen Kenntnis der übrigen altchristlichen Literatur sagen, daß keine bessere Auswahl getroffen werden konnte” (Tradition).33
2. Seit dem 4./5. Jahrhundert hat die ganze Christenheit — abgesehen von den Nestorianern — dieselbe Heilige Schrift des NT (Solidarität).34

Es zeigt sich damit, daß in der langen Zeit des im einzelnen sehr problematischen und menschlichen Vorgangs der Kanonbildung die Kirche von einem zielsicheren Unterscheidungsvermögen geleitet worden ist, dessen Ergebnisse sich noch heute mit einer starken Evidenz ausweisen. Dieses Unterscheidungsvermögen war zugleich mit einer gemeinschaftsbildenden Kraft verbunden, welche die Einheit nicht an der Rechthaberei partikularer Theologie und Theologen scheitern ließ. Man stelle sich nur einmal heute den gleichen Vorgang als zu lösende Aufgabe vor!

Der Struktur nach handelt es sich in der Kanonbildung um einen sehr umfassenden, weltweiten Rezeptionsvorgang. Der in der Kirche lebende, ihr verheißene Geist begegnet dem Geist der apostolischen Verkündigung in den zu rezipierenden Schriften, von dem diese Kirche sich selbst gezeugt, erweckt, berufen weiß. Sie erkennt, gleichwie sie erkannt ist. Die Kirche bindet sich deshalb in der Rezeption an die Schrift, indem sie in ihrem Gehalt die verbindliche apostolische Tradition anerkennt. Wenn sie nun später in bestimmten Lektionsordnungen eine sinngemäße Folge der Auslegung herausarbeitet, so kann doch niemand und keine Gemeinde sich beschwert fühlen, wenn ihnen Stücke der kanonischen Schriften in der Verkündigung begegnen. Die rezipierte Schrift bedarf in der Kirche keiner Rechtfertigung. Sie hat sich selbst imponiert — und die Kirche hat sich ihr unterworfen. Seither ist der kanonische Bibeltext ein heiliger berg, von dem die Ströme entspringen, auf den der Fromme zur einsamen Betrachtung steigt, in welchem nach Goldadern geschürft, der aber nicht abgetragen werden darf.

Der Akt der Rezeption als Selbstverurteilung zum hörenden Gehorsam schließt auch die Einheit der Schrift ein. Als Zeugnis des einen Heiligen Geest als Person und nicht einer Summe durch eine apersonale Geistigkeit inspirierter Individualitäten ist sie mit ihren

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Unterschieden und Widersprüchen, die auch den Vätern des Kanons nicht unbekannt waren, eine Einheit und von der Kirche auf Einheit auszulegen. Bezogen auf den einen Grund bildet sie eine Einheit, welcher die Einheit der Kirche entspricht und zu entsprechen hat. Dazu veranlaßt sie nicht die rationale unwidersprüchliche Einheitlichkeit der Schrift, sondern das Bekenntnis zur Personalität des Heiligen Geistes, ohne den die Schrift lediglich ein bedeutendes literarisches Dokument wäre. Wer also in der Schrift nicht ausgleichbare Widersprüche findet, etwa Typologien, die den späteren historischen Kirchenformen einigermaßen entsprechen, der ist nicht veranlaßt, durch eigene Entscheidung für das eine oder andere diesen Widerspruch für sich zu beheben, sondern muß sich sagen, daß das Evangelium eine diese Widersprüche übergreifende Lebenseinheit bezeugt, der er unermüdlich nachzujagen hat, und welche die kontradiktorischen Lösungen als Vereinseitigungen ausweist. „Das Evangelium ist eine Reihe von Gegensätzen, welche durch die Gnade zusammengehalten werden” (Duvergier).

Hinter der Schrift steht eine personale Einheit: sie wird in Eph. 4 beschrieben: „ein Leib und ein Geist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater …” Der Einheit und Einzigartigkeit des Geistes entspricht eine leibhafte Einheit der ekklesia, — der eine Glaube ist die Brücke zwischen der Identität des einen Gottes und der Vergemeinschaftung im Heilsweg der Taufe. Diese Einheit kann nicht in eine Summe widersprechender Theologien aufgelöst werden, ohne daß jede von diesen etwas für sie selbst sachlich Notwendiges verliert. Das verbietet gerade der personale Charakter der im Evangelium geschenkten Gemeinschaft mit Gott und zwischen den Gläubigen.

Die in der Rezeption des Kanons liegende Selbstbindung der Kirche bedeutet auch die Anerkennung der Suffizienz der Schrift. D.h. es bedarf grundsätzlich zum Heil nichts mehr und keiner anderen Offenbarung als der in der Schrift bezeugten. Sie bedarf der Auslegung, nicht der Ergänzung. Die Schrift und die in ihr vereinigten Schriften sind nicht unter dem Gesichtspunkt philologischer Vollständigkeit mit dem Ziele verfaßt, alle in gleichem Grade bezeugten Herrenworte zu sammeln. Ihr kerygmatischer Charakter ist unverkennbar. Die bekannten außerkanonischen Herrenworte könnten also in die Schrift nur einbezogen werden, wenn die Kirche sie vorher konkret geprüft hätte, ob ihre Überlieferung nicht etwa gnostisch überformt und gerade in dem Sinne verändert wäre, welche die Kirche aus Treue gegen die apostolische Botschaft abweisen mußte. Diese rezipierende Prüfung hieße also nicht, daß die Kirche über das Wort des Herrn verfügte, sondern daß sie ihm gehorsam zu sein versucht. Das Interesse an diesen logia ist aber deswegen nicht so sehr groß, weil die Christenheit sich dessen getrösten darf, daß sie bis heute auch ohne diese Sprüche alles im Kanon hat, was sie zum Leben und Sterben benötigt.

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Die Entscheidung zum Kanon aber schließt eine traditio apostolica praeter scripturam nicht nur begrifflich, sondern auch kirchenrechtlich aus. Darin liegt neben der positiven Bindung der gesamten Kirche an das apostolische Kerygma ihre zweite wichtige Bedeutung — und zwar die umstrittene. Mit der Kanonbildung hat sich die Kirche aus guten Gründen entschlossen, der Aufbrechung des apostolischen Zirkels einen Riegel wenigstens nach der einen Seite, vorzuschieben. Wenn in diesem Zirkel das Zeugnis den Zeugen und der Zeuge das Zeugnis legitimiert, so wird jetzt das apostolische Zeugnis zeitlich und dem Umfang nach so festgelegt, daß niemand mehr die Legitimation besitzt, eine außerkanonische apostolische Tradition zu behaupten und zu vertreten. Jene Entscheidung der Kirche ist nicht nur verbindlich, sondern hat zugleich den Charakter ausdrücklicher Öffentlichkeit wie die kanonischen Texte selbst.

Traditionen ohne diesen expliziten Öffentlichkeitscharakter verletzen die in der Rezeption liegende Rechtskraft der konstitutiven Entscheidung, die hier eben Selbstbindung ist, wie das richterliche Urteil immer eine solche Selbstbindung enthält. Was hätte es für einen Sinn, Schriften aus der apostolischen Zeit, die zeitweilig zum Kanon gerechnet werden konnten, wie den Clemensbrief oder den Hirten des Hermas aus dem Kanon auszuschließen, wenn es neben dem Kanon dann doch ganz unbestimmte traditiones mere orales geben könnte, die nirgends konkrete Gestalt gewonnen haben?

Der Kanon ist deshalb nicht nur eine Frucht der Verbindung von Tradition und Solidarität, ist apostolisch und katholisch zugleich, sondern er enthält nach dem Verständnis der kanonbildenden Kirche selbst diese beiden Merkmale: er ist apostolisch, d.h. er gilt, weil (quia) er das Evangelium getreu und vollgültig bezeugt, nicht nur quatenus (soweit) er es nach gewissen Maßstäben tut. Er ist zugleich aber auch eine umfassende und vollgültige, eben suffiziente Bezeugung dessen, was der Christ zum Leben und Sterben braucht. Vermöge dieser Suffizienz ist er im sachlichen Sinne „katholisch”. Die Rationalisierung dieses Tatbestandes in Gestalt einer formellen Inspirationstheologie ist dazu nicht erforderlich, sondern dem Verständnis im Gegenteil hinderlich.

Karl Barth erörtert Schrift und Schriftprinzip auch im Zusammenhang mit dem Gedanken der successio.35 Er meint, wenn Gott die ungeschriebene Überlieferung zum Kanon der Kirche hätte machen wollen, so würde das „Gegenüber” fehlen, an dem das Wort der Verkündigung gemessen werden kann… Ein solches Gegenüber gehöre zum Wesen der Nachfolge im Amte der Verkündigung des Gotteswortes, das die Kirche übernommen hat. Denn für den Begriff einer lebendigen „successio” komme alles „darauf an, daß der antecessor noch lebendig und dem successor gegenüber im Besitz freier Macht gedacht wird. Dies kann aber, wenn der antecessor, wie es hier der Fall ist, ein längst

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Verstorbener ist, nur dann der Fall sein, wenn seine Verkündigung schriftlich fixiert ist und wenn anerkannt ist, daß er eben in diesem seinem geschriebenen Wort heute noch Leben und freie Macht über die Kirche hat.”

Barth verwendet hier natürlich den Sukzessionsbegriff unter sinngemäßer Anpassung an die theologische Fragestellung. Freilich kann er deswegen nicht einfach die Begriffsmerkmale aufheben, die es überhaupt sinnvoll machen, von successio als einem auch in anderen Lebensbeziehungen vorkommenden Geschehen zu sprechen.

Tatsächlich verändert er den Begriff durch Eintragungen. In einem Sukzessionsverhältnis hat auf alle Fälle der ursprüngliche Stifter oder Erblasser eine schlechthin maßgebende und einzigartige Bedeutung. Successio ist sinnlos, wenn sie nicht eine wesentliche Übereinstimmung zwischen ihm und den successoren aller Grade bedeutet. Aber sie setzt andererseits gerade voraus, daß der antecessor nicht mehr eingreifen kann. Lebendige Successio liegt gerade nicht dann vor, wenn der antecessor jederzeit eingreifen kann, sondern wenn die successoren so im Sinn und Geist des Antecessors handeln, daß sein Eingreifen nicht notwendig wird. Damit taucht die Frage auf, wodurch der Antecessor die rechte successio sichert. Der menschliche Antecessor kann dies überhaupt nicht. Er kann einiges testamentarisch ordnen und zuvor die Successoren belehren und erziehen. Aber wenn sie nachher den Verstand und guten Willen nicht haben, hilft ihm dies nichts. Der Antecessor der kirchlichen successio sendet deshalb den Geist, der die Kirche in alle Wahrheit führen wird. Im Geist liegt seine Präsenz.

Die schriftliche Fixierung der apostolischen Tradition läßt sich dagegen aus dem Gedanken der successio gewiß nicht begründen. Die praktische Unentbehrlichkeit der Schrift ist etwas ganz anderes als der theologische Nachweis ihrer Notwendigkeit. Was die Kirche zu tun hat, steht auch in einem sehr unterschiedlichen Verhältnis zur Schriftlichkeit. Taufe und Abendmahl, Herrengebet und Sündenvergebung, Ordination und Krankenheilung könnten sinngemäß auch ohne schriftliche Fixierung tradiert werden. Verkündigung und Lehre sind begreiflicherweise sehr viel mehr auf die schriftliche Festhaltung ihrer Grundlagen angewiesen. Aber alles dies sind praktische Fragen. Es zeigt sich hier, daß
1. Barths aktualistische Theologie den Sukzessionsbegriff, so wie er nun einmal ist, gar nicht aufnehmen kann, ohne ihn umzudeuten,
2. seine Christologie hier keinen Raum für die Pneumatologie läßt,
3. der verallgemeinernde Verkündigungsbegriff den Blick für die unterschiedliche Nähe des geistlichen Handelns zur Schriftlichkeit nimmt.

Alle Religionen, welche die Struktur der Offenbarungsreligion haben, Judentum, Islam und Christentum haben den Weg der maßgeblichen Aufzeichnung der grundlegenden Offenbarung beschritten. Offenbar aus

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innerer Notwendigkeit und gewiß nicht nutzlos, sondern unentbehrlich und heilsam. Aber sie haben damit auch eine nicht ungefährliche Problematik übernommen, die keineswegs mit dem Verhältnis von Geist und Buchstaben allein gekennzeichnet ist. Über diesen Gegensatz hinaus entsteht vielmehr die schwer zu vermeidende Tendenz zu meinen, was der jeweilige Ausleger aus dem Heiligen Buch nicht glaubt entnehmen zu können, sei nicht in der Welt, d.h. nicht in dem hier bedeutsamen Bereich. Und was die Schriftlichkeit dem Traditionswissen der Priester verwehrt, gibt sie dem Zunftgeist und dem Wissenschaftsaberglauben der Gelehrten anheim.

Aber damit ist über die Bedeutung der Schrift für die Kirche gerade noch nicht entschieden. Barth hat mit dem Gedanken des notwendigen Gegenüber deswegen nicht weniger recht. Die Schrift ist das praktisch einzige Mittel, um die Sungularität und Maßgeblichkeit der apostolischen Überlieferung wirksam festzuhalten. Freilich muß man sehen, daß Jesus Christus selbst keine Zeile hinterlassen und mit keinem Worte die Aufzeichnung seiner Taten und Worte veranlaßt hat. Das sollte vor der Überschätzung der Schriftlichkeit warnen. Die Gleichung und zwingende Verbindung Verkündigung—Schrift droht den Herrn selbst zu einem bloßen Verkündiger zu machen. Aber er war selbst, was er verkündigte und verkündigte, was er war. Im Gegenteil: mit der Schaffung des Kanons hat sich die Kirche einer heilsamen Askese unterworfen: sie hat darauf verzichtet, dieses Gegenüber zugunsten der in ihr lebenden Geistpräsenz einzuschränken und in der Konsequenz womöglich aufzuheben. Genauso wie Barth durch sinnwidrige Umbiegung der successio die Pneumatologie durch die Christologie verdrängt, so verdrängt durch die Nebenordnung von traditiones mere orales die Kirche die Christologie durch die Pneumatologie. Die Entscheidung zum Kanon ist eine pneumatische Entscheidung: und das pneuma kann etwas, was die ratio, auch die theologische ratio nicht kann: sich nämlich selbst begrenzen.

Die scheinbar rein innertheologische Frage des Kanons ist nun in mehrfacher Richtung von kirchenrechtlicher Relevanz.
1. geht es im usus scripturae sehr entschieden um die Frage, welches Recht des Gebrauches der Schrift wir beanspruchen, zulassen und annehmen,
2. impliziert und präjudiziert der usus scripturae in hohem Maße und unmittelbar im Bereich des Bekenntnisrechts kirchenrechtliche Entscheidungen und Formbildungen;
3. das auf die Schrift sich gründende dogmatische Urteil der Kirche ist vermöge des dogmatischen Charakters auch der Rechtswissenschaft so sehr der juristischen Urteilsbildung strukturanalog, daß der Vergleich der Erkenntnisprobleme auch für die kirchlich-dogmatische Urteilsbildung von Erkenntniswert ist.

J.R. Geiselmann hat sich um den Nachweis bemüht, das auf dem Konzil

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von Trient die Frage des Verhältnisses von Schrift und Tradition bewußt unentschieden gelassen worden sei.36 Er verzeichnet die überwiegende, aber vom Konzilsbeschluß nicht gedeckte und das Problem vergröbernde Theorie des „partim-partim”, des Nebeneinanders zweier verschiedener, aber grundsätzlich gleichwertiger, sich ergänzender Quellen. Er führt eine beachtliche Zahl von katholischen Theologen an, unter ihnen Newman, welche die Suffizienz der Schrift vertreten haben. Er lehnt eine Art Quantitätsverhältnis beider ausdrücklich ab,37 bekennt sich zur Geschichtlichkeit des Offenbarungsworts, welches (unter Zitat von Max Lackmann) sich sowohl neue Begriffe schaffe, wie auch „neue Sachverhalte des Offenbarungswortes enthülle, die sich explizite noch nicht in der Schrift fänden.” Ist das erstere unbedenklich, so ist das letztere höchst zweideutig, weil der Charakter als Offenbarungswort nur durch Rückbezug auf die ausdrückliche maßgeblich in der Schrift verfaßte apostolische Tradition erweislich ist, nicht aus einem allgemeinen sensus ecclesiae. Aber eben in diesem Stil die Frage weiterzuverfolgen ist nicht Sache des Juristen, der in anderen Richtungen einen Beitrag zur notwendigen Klärung der kirchenrechtlichen Folgen leisten kann.

Der Servitengeneral Bonuccio hat auf dem Trienter Konzil die Suffiziens der Schrift vertreten. „Nach seiner Ansicht ist der Strom der nt.lichen Offenbarung nicht zwischen Schrift und Tradition aufgeteilt, wie … in der großen Debatte alle (mit einer Ausnahme) angenommen hatten, sondern die Schrift ist inhaltlich vollständig und enthält alle heilsnotwendigen Wahrheiten. Tradition ist für ihn wesentlich autoritative Interpretation der Hl. Schrift, nicht ihre Ergänzung.

War diese Auffassung lutherisch? Mitnichten. Sie war der Ausdruck einer Lehrüberlieferung, die mit Vinzenz von Lerin beginnt und sich auch in der Scholastik findet, der es „fernlag, die nur mündlich überlieferten Wahrheiten als eine selbständige Größe und ganz unabhängig von der in der Bibel niedergelegten Offenbarung zu betrachten” (Geiselmann).38

Die weitere Darlegung Jedins zeigt, daß die große Mehrheit der verhältnismäßig simplen additiven Verhältnisbestimmung anhingen, daß aber die Frage infolge verschieden formulierter Minderheitsmeinungen, von denen die klarste die Bonuccios war, nicht im Sinne des vorgeschlagenen partim-partim entschieden, sondern durch das et-et praktisch unentschieden blieb. Jedin bestätigt insofern die Auffassung von Geiselmann. Geiselmann ist in weiteren Untersuchungen39 bis zu dem Satze vorgeschritten:

„So steht am Ende dieser Entwicklung dem partim in libris scriptis — partim in sine scripto traditionibus der nachtridentinischen Kontroverstheologie das totum in sacra scriptura et iterum totum in sine scripto traditionibus gegenüber.”

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Auf die Frage, was vorliegt, wenn Schrift und Tradition sich nicht decken, und die im „partim-partim” wenigstens entschieden ist, bekommen wir hier freilich keine Antwort. Es muß unterstellt werden, daß die die Schrift überschießende Aussage der Tradition „virtuell” in der Schrift enthalten ist — also ein Entfaltungsschema idealistischer Struktur.

Andererseits kann Josef Ratzinger sagen: „In der Kirche gibt es Überlieferung, aber nicht Überlieferungen. Die Idee der Überlieferung ist kirchlich, die der Überlieferungen ist gnostisch.” 39a

Im Grunde ist heute die Lage noch genau so wie in Trient, dieselbe Mehrheitsauffassung, dieselbe Minderheit. Leider ist auf dem Concil der Vorschlag, die praeterkanonischen Traditionen namhaft zu machen, immer abgelehnt worden, weil man begreiflicherweise vermeiden wollte, sie abschließend festzustellen. Dadurch ist bis heute die Prüfung des Problems am konkreten Gegenstand unterlassen worden. Es gelang aber auch nicht, eine saubere begriffliche Trennung der hier allein interessierenden apostolischen Tradition von der Traditionen der Kirche durchzuführen. Man spürte sehr deutlich, daß auch in der Bewertung der kirchlichen Traditionen ein wesentlicher Gegensatz lag, vermochte aber die Felder nicht auseinanderzuhalten. Nachdem einerseits der Traditionscharakter der Schrift erkannt worden ist, andererseits die reformatorischen Kirchen selbst Tradition gebildet haben, stellt sich die Frage heute wesentlich anders dar.

Denn für die kirchenrechtliche Problematik des Kanons, der Bekenntnis- und Dogmenbildung ist die Rückprüfung von den Ergebnissen her wichtig. Mit Recht sagt Lennerz,40 es sei wichtig zu wissen, welche Glaubenswahrheiten denn eigentlich ausschließlich auf mündlicher Überlieferung beruhen. Ohne erschöpfend sein zu wollen, nennt er
Kanon und Inspiration der Schrift
Einsetzung aller Sakramente durch Christus
Kindertaufe
Gültigkeit der haeretischen Taufe
die Lehre vom sakramentalen Charakter
die Jungfräulichkeit der Muttes Gottes
vielleicht auch das filioque und die Bilderverehrung.

Dieser Versuch, die traditiones apostolicae mere orales inhaltlich zu bezeichnen, ist von hohem Erkenntniswert für die Struktur des katholischen Denkens und für die Lösung der Sachfrage selbst. Denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die hier angeführten loci der römisch-katholischen Dogmatik überhaupt nicht geeignet sind, in echte Konkurrenz mit der Schrift zu treten. Es sind dogmatische Interpretationen und kirchenrechtliche Entscheidungen, welche beanspruchen, in Übereinstimmung mit der Schrift zu stehen, welche aber als Aussagen über einen Tatbestand selbst nicht als gesonderte, neue, zusätzliche Tatbestände neben jene treten können.

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1. Die Kanonizität der Schrift beruht auf einer Entscheidung der Kirche zur Schrift; der Glaube an ihre Inspiriertheit ist eine bestimmte Auffassung von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Kirche.
2. Die Fassung der Sakramentslehre in dem Schema der sieben Sakramente beruht auf einer langen, wohlbekannten dogmatischen und terminologischen Entwicklung, die sich aber überall auf im Lauf der Zeit unterschiedlich ausgelegte Schriftstellen gründet.
3. Ebenso wird die Kindertaufe mit der Schrift begründet.
4. Die Gültigkeit der haeretischen Taufe ist in womöglich noch höherem Grade als die Frage der Stiftung der Sakramente eine dogmatische Entscheidung über deren Verwaltung und Wirksamkeit.
5. Nicht weniger ist die Lehre vom character ein historisch erwachsenes Dogma.
6. Erst mit der Frage der semper virgo sind wir an einem Punkt, der in der Sache wenigstens in den Bereich der Schrift gehören könnte. Denn eine apostolische Tradition, die neben der Schrift genannt werden könnte, müßte ja so beschaffen sein, daß sie überhaupt in der Schrift hätte stehen können. Sie ist der Schrift aber deshalb inadaequat, weil die Annahme ihrer Heilsbedeutsamkeit auf einem dogmatischen Urteil beruht. Unter der Voraussetzung, daß die Urkirche dies als Tatsache annahm, hat sie sich doch dafür nicht interessiert, weil sie mit dem apostolischen Kerygma nichts zu tun hat, wie dies im Gegensatz dazu bei der Jungfrauengeburt der Fall ist. Wäre sie als behauptete Tatsache apostolisch bezeugt, so ist sie doch nicht kerygmatischen Charakters. Die kerygmatische Bedeutung hat ihr erst nachträglich die römische Mariologie zugemessen. Etwas ganz anderes ist die in dieser Annahme liegende Bezeugung des Respekts vor dem Geheimnis der Inkarnation.
7. Die hypothetisch genannten Punkte tragen vollends dogmatischen Charakter.

Ein großer Teil der hier angeführten Punkte ist ersichtlich nicht kirchentrennend. Das erleichtert die Erörterung, in der es um die Aussagestruktur, nicht um den Inhalt geht.

Wichtig ist zu allererst und auf alle Fälle, daß die römische Theologie in Verlegenheit ist, echte traditiones mere orales praeter scripturam überhaupt namhaft zu machen.

Grundsätzlich aber geht es um das Verhältnis von Schrift und Dogma.

Nach katholischer Lehre ist „Dogma eine von Gott unmittelbar geoffenbarte Wahrheit, welche vom kirchlichen Lehramt klar und ausdrücklich als verbindliche Offenbarungswahrheit festgestellt und verkündigt ist” (Schmaus 54).

So lautet die feierliche Formel etwa bei der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit: docemus et divinitus revelatum dogma esse definimus” (Denz. 1839). Danach sind Offenbarung und Dogma, unbeschadet der

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Begründung der letzteren in Schrift und Tradition, wesentlich identisch. Die Präzisierung in der Lehrentscheidung bringt lediglich den schon vorhandenen Gehalt der Offenbarung ans Licht und begründet formell seine Verbindlichkeit, indem nun jeder Zweifel behoben ist. Die Dogmatisierung ist nur die Verbindlichkeitserklärung, wie ein Schiedsspruch eine streitige Rechtslage klarstellt.

Für die reformatorische Theologie ist das Dogma ein Relationsbegriff, ein nicht weniger verbindlicher Ausdruck für die in der Schrift bezeugte Offenbarung, die grundsätzlich auf diesen Rückbezug angewiesen und immer in ihm gesehen werden muß. Die katholische Theologie betont die Identität, die reformatorische die Nichtidentität von Offenbarung und Dogma im Sinne der sekundären Bezüglichkeit. Deswegen müsse das Dogma der Kirche immer wieder an der Schrift geprüft werden; es sei eine höchst beachtliche Quelle der Erkenntnis, aus der zu schöpfen ist, ein Tatbestand mit dem man sich auseinandersetzen muß; nicht aber habe das Dogma, so wie es steht, als solches verpflichtende Kraft.

In beiden Anschauungen kommt der Charakter der Geschichtlichkeit zu kurz. Die katholische Lehre behandelt das Dogma als zeitlos-metaphysische Wahrheit, welche in der Epiphanie dieser sich entfaltenden, und dennoch unveränderten Wahrheit allmählich ins Licht tritt. Die reformatorische Relativität des Dogmas auf die Schrift, d.h. seine jederzeitige Nachprüfbarkeit und Prüfungsbedürftigkeit vernachlässigt, daß es sich um verbindliche Entscheidung in der Geschichte handelt, an der sich die Kirche im Jahre 451, 1530, 1619 oder sonstwo konkrete geschieden hat und scheiden mußte — wofern es sich überhaupt lohnte und echte dogmatische Entscheidung war. Dogma, ob echt oder falsch, ist immer kirchentrennender Bekenntnisakt. Wer heute von der Schrift her das ihm zeitlich vorausliegende Dogma in Frage stellt, stellt auch die Kirchengemeinschaft in Frage, die sich an diese Frage einmal konkrete entschieden und geschieden hat. Das Dogma ist deshalb immer ein Entscheidungsakt der Kirche und in Bezug auf die Kirche; die Dogmatik ist eine Sache des theologischen Denkens, der Systembildung. Ein Dutzend vielbändiger Dogmatiken machen noch nicht das kleinste Dogma, sowenig wie viele Lehrbücher des bürgerlichen Rechts noch kein richterliches Urteil machen.

Das Dogma ist immer eine Selbstverurteilung zum Glaubensgehorsam und Fremdverurteilung wegen Ungehorsams. Dogmatische Entscheidung in genere und in specie ist deshalb Jurisdiktion.41

Die Metaphysizierung der dogmatischen Aussagen hat nun dazu geführt, daß die verhängnisvollerweise so entscheidungsfreudige römische Kirche als der Schrift analoge und adäquate Traditionen ihre eigenen (und zum Teil durchaus zu Recht bestehenden) dogmatischen Entscheidungen als Formulierung tradierter Offenbarung versteht. Sie handelt mit größter Unbefangenheit geschichtlich — aber sie versteht sich

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nicht selbst so. Die protestantische Theologie, die heute bis zum Überdruß von Geschichtlichkeit redet, handelt nicht geschichtlich, sondern löst den geschichtlichen Charakter, d.h. die irreversible Verbindlichkeit der Entscheidung in eine jederzeitige Aufhebbarkeit und Nachprüfbarkeit auf. D.h.: sie entscheidet nicht und riskiert nichts, sie dispensiert sich je nach Erkenntnis und Schulmeinung vom Dogma auch der reformatorischen Kirchen — aber läßt es ruhig stehen, ohne sich darum zu bemühen, die etwa unzulänglich erscheinende oder gar als falsch erwiesene Aussage zu ändern und zu bessern. Die einen denken metaphysisch und handeln geschichtlich, und die anderen reden von Geschichte, aber handeln nicht geschichtlich, sondern aktualistisch.

Auf alle Fälle zeigt sich, daß es traditiones mere orales nicht gibt. Die Entstehung dieser Vorstellung erklärt sich aus der Metaphysizierung des Begriffs „Dogma” in der römischen Theologie. Diese führt dazu, für die weiter von der Schriftgrundlage entfernten oder solcher Grundlage überhaupt entbehrenden dogmatischen Aussagen eine Nebenquelle anzunehmen. Der Streit um die traditio praeter scripturam ist deshalb praktisch gegenstandslos. Er ist aber nicht bedeutungslos, weil in ihm die unterschiedliche Auffassung vom Dogma der Kirche deutlich wird.

In Wirklichkeit gibt es gar nicht das Problem Schrift und Tradition als vergleichbarer Größen. Es erweist sich der Begriff der Tradition als ein verhüllendes synonym für Begriff und Anspruch des kirchlichen Lehramtes, welches auf der einen Seite sagen kann, wie Pius IX (apokryph) „die Tradition bin ich”, und welches sich andererseits mit dem sensus ecclesiae einig weiß.

Es ist für die Beurteilung der hier vorgeführten katholischen Stimmen wesentlich, daß Lennerz die heute den schwersten zwischenkirchlichen Anstoß bildenden Dogmen von 1854, 1870 und 1950 — Infallibilität und Marianismus — überhaupt nicht erwähnt.

Alle katholischen Autoren, die sich um die engere Bindung von Schrift und Tradition bemühen, die ausdrücklich die Suffizienz der Schrift bejahen und eine Addition von Schrift und Tradition als unsachgemäß ablehnen, bejahen doch sämtlich entschlossen das unfehlbare Lehramt der Kirche, in welchem letztlich das ganze Problem seine Klärung und Zusammenbindung erfahre.

Lassen sich aber, wie gezeigt, traditiones mere orales jedenfalls in dem von Lennerz erörterten weiten Bereich nicht erweisen, obwohl das so Bezeichnete so verstanden wird, so deutet dies darauf hin, daß es sich um einen anderen Tatbestand handelt, der mit dem Begriff der Tradition nicht bezeichnet und getroffen werden kann.

Beide Kirchen haben bis heute den Kanon nicht angegriffen, nicht verändert. Sie behandeln ihn wesentlich verschieden. Er ist in beiden in ganz bestimmter Weise geöffnet. Auf der römisch-katholischen Seite

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ist er als solcher auf Grund einer massiven Inspirationstheorie grundsätzlich unantastbar. Aber selbst die mildeste Auslegung des Verhältnisses zur Tradition, wie die oben in den Worten von Lackmann wiedergegebene, läßt es zu, daß neben die Schrift Aussagen treten, welche sich, wenn schon nicht der form, so sogar nicht einmal dem Gegenstande, dem Thema nach in der Schrift vorfinden — so die Aussagen der marianischen Dogmen von 1854 und 1950. Demzufolge gibt es einen heilsnotwendigen apostolischen Glauben, welcher den Aposteln und Evangelisten selbst unbekannt gewesen, dessen Gegenstand ihnen, den gerade historisch am nächsten Stehenden ebenso fremd wie uninteressant gewesen ist, da sie sich damit gar nicht beschäftigten. In eindrucksvoller Weise hat Max Thurian gegen das Anathema des Dogmas von 1950 die Überzeugung ausgedrückt, im Consensus der ungeteilten Kirche zu stehen.42

Gibt es einen apostolischen Glauben ohne Apostel, und ist die Schrift auch thematisch nicht suffizient, so sind beide Elemente der Kanonentscheidung, Apostolizität und Katholizität materiell in Frage gestellt, ja aufgehoben.

In entgegengesetzter Richtung verläuft die Öffnung des Kanons auf der protestantischen Seite. Hier gelten freilich nicht humanistisch-philologische Maßstäbe, wie sie Erasmus vertreten hat. Aber Luther hat, weit folgenreicher, theologische Maßstäbe der Kanonkritik eingeführt und legitimiert.43 Luther will bekanntlich Jakobus-, Judas-, Hebräerbrief und Apokalypse nicht als kanonisch ansehen, ohne formell den Kanon deswegen aufzuheben. Seine Begründung ist oft zitiert und bekannt:

„… das Amt eines rechten Apostels ist, daß er von Christi Leiden und Auferstehen und Amt predigt.” „Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wennsgleich Petrus, oder Paulus oder Johannes lehrte. Wiederum was Christus predigt, das ist apostolisch, wenngleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes tät.” 44

Maurer faßt dort den Grund der lutherschen Kritik dahin zusammen:

„Die Kategorie des Apostolischen haftet nicht an bestimmten historisch konkreten Personen, sondern ist gebunden an einen Sachgehalt, der mit dem Heilswerk Christi identisch ist … Und der apostolische Kanon … ist mit jenem Sachgehalt ohne weiteres gegeben, und zwar seinem Wesen, seinem Kern nach und so, daß er an seinem Rande nicht fest umrissen werden kann, sondern nach allen Seiten hin offenbleibt.” 45

Indessen können Person und Sachgehalt ihrer Aussagen hier niemals einander entgegengestellt werden. Sie stehen in einer unauflösbaren Verbindung. Sonst hören die Apostel auf, Apostel zu sein, und die auf Apostel und Propheten gegründete Kirche hört auf, apostolisch zu sein.

Als eine sehr viel radikalere Form der Kanonkritik führt Andersen diejenige von Harbsmeier vor. Diese beurteilt die lukanischen Schriften

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rundheraus als häretisch, sieht die „römische Häresie” durch sie im ganzen gerechtfertigt, und eben darum eine Entscheidung für und wider das Evangelium innerhalb des Kanons erforderlich. Aus diesem, der Haltung der alten Kirche zweifellos konträren Grunde lehnt er eine anderweite Abgrenzung des Kanons ab.

Mit dem Verhältnis von Kanon und Kircheneinheit befaßt sich ein berühmt gewordener Aufsatz von Ernst Käsemann unter dem gleichen Titel.46 Er lehnt ausdrücklich ab, daß der Kanon die Kircheneinheit begründe.47 Die Variabilität des urchristlichen Kerygmas sei so groß, daß wir nicht nur erhebliche Spannungen, sondern nicht selten auch unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren haben.48 Er begründe als solcher (rein historisch betrachtet) die Vielzahl der Konfessionen. Der Exeget müsse den gegenwärtigen, sich auf den Kanon berufenden Konfessionen das sachlich und methodisch fundierte Recht dazu bestätigen … Der Geist widerstreite nicht dem „es ist geschrieben”, sondern manifestiere sich in der Schrift. Die Spannung von Geist und Schrift sei konstitutiv. Der Kanon sei nicht einfach mit dem Evangelium identisch und Gottes Wort nur insofern als er Evangelium sei und werde. Insofern begründe er dann auch die Einheit der Kirche. Denn allein das Evangelium begründe die eine Kirche … Was aber das Evangelium sei, könne nur der Glaubende vom Geist überführt und auf die Schrift hörend, entscheiden, so daß es auch die Einheit der Kirche nie vorfindlich und immer nur für den Glaubenden gebe.

Das Kirchenrecht ist an dieser Frage in zweifacher Weise interessiert, es muß fragen: was besagt die Einheit des Kanons als eine von der Kirche selbst auf dem Wege der Selbstbindung und Eingrenzung geschaffene Größe, in welcher Tradition und Solidarität in einer beachtlichen Weise wirksam werden? Begründet die behauptete Schriftgemäßheit verschiedener (der verschiedenen) Konfessionen auch ein Kirchenrecht dieser Konfessionen, so daß man sich eigentlich immer nur innerhalb dieser Varianten zu entscheiden hätte. Das würde heißen, daß der Glaubenssatz von der einen Kirche grundsätzlich nur in transzendenter Spiritualität Geltung besäße und ein Recht der allgemeinen Kirche bestenfalls noch für einige Fragen und auf gewisse Strecken weit zu erheben, aber sonst grundsätzlich preiszugeben wäre. Es ist freilich verhältnismäßig leicht, sich zu dieser Frage dialektisch zu verhalten: positiv die Kircheneinheit qua Schrift zu verneinen, sie spiritual für den Glaubenden kraft der Singularität des Evangeliums zu bejahen. Polemische Sätze, wie „daß man Gott auch im Kanon nicht dingfest habe” und daß die Einheit der Kirche nicht von den beati possidentes, sondern von den Angefochtenen in und trotz der Konfessionen bekannt werde, entsprechen nicht dem Ernst der Sache. Denn angefochten sind nicht wenige Christen eben gerade durch jene Uneffektivität der Kircheneinheit — mehr noch durch die Sorge, daß eben gerade die von Käsemann

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vorgeführte Argumentation einen grundsätzlich unangemessenen Gebrauch der Schrift bedeute, weil um der Vermeidung des Dingfestmachens Gottes sein Angebot auch in der Schrift nun gerade ausgeschlagen werde. Ist es recht und dann auch rechtens, wenn wir uns wegen angeblich unüberbrückbarer Gegensätze und verschiedener Schichten zunächst für die folgerichtige Begründung der allerdings — so wie sie sind — nicht harmonisierbaren Konfessionen (welcher?) ein gutes historisches Gewissen geben lassen, um  es dann von dem Unter- oder Überbau des einen Evangeliums wieder beunruhigen zu lassen?

Wenn der Kanon, d.h. der Ertrag seiner Auslegung die Einheit der Kirche nicht bezeugt(e), so bezeugt die Kanonbildung selbst die Einheit der Kirche und setzt sie voraus. Mehr noch: die Annahme solcher Gegensätze liegt jenseits der Vorstellungen sämtlicher kanonischer Autoren. Sie bezeugen und intendieren die Einheit der Kirche.

Es ist doch wohl nicht belanglos, daß eben jene, jetzt im Kanon selbst angeblich aufweisbaren Konfessionstheologien weder bei der Kanonbildung selbst noch überhaupt sonst in konkreter und eben darum auch kirchenrechtlicher Repräsentanz im ersten Jahrtausend der Christenheit aufgetreten sind. Die im Kanon — so unterstellen wir — gleichzeitigen Konfessionen treten erst mit tausendjähriger Verzögerung nacheinander auf. Nirgends aber ist auch nur eine Gabelung zu verzeichnen: die alte Kirche macht einen Sprung vorwärts in das Geschichtswagnis der lateinischen Kirche — und bleibt in der orientalischen Kirche fast unverrückt stehen. Die latenische Kirche geht weiter vor in die lutherische und dann in die calvinische Reformation, um dann die strengen konfessionellen Konturen mehr und mehr zu verlieren. Erst in einem geschichtlichen Prozeß werden die — so unterstellen wir — angelegten Gegensätze wirksam, die so lange — unbegreiflich! — gebunden waren. Ist dieser historische Tatbestand nur die Folge unentwickelter Auslegekunst oder womöglich naiver Selbsttäuschungen? Oder ist er umgekehrt die Frucht einer fortschreitenden Rationalisierung des Umgangs mit der Schrift, der Unterwerfung der Schrift nicht unter den verhaftenden Griff einer falschen Sicherheit, sondern viel wirksamer unter die Axiome einer bestimmten Logik? Hat diese Theologie ihre Begriffs- und Erkenntnismittel bis zum Letzten ausgenützt und erschöpft, um eben die Einheit des Evangeliums in der Schrift wiederzufinden? Hat sie sich selbst, womöglich gerade mit ihrer Wissenschaftlichkeit von dieser Schrift radikal in Frage stellen lassen, oder doch nicht ohne unwillkürliche Befriedigung und Selbstrechtfertigung das in ihr wiedergefunden, was sie schon vorher annahm, herantrug und einbrachte? Hat sie auch nur dem, was sie meinte als Gemeindetheologie abheben und ausscheiden zu müssen, die einfachste Gerechtigkeit widerfahren lassen, statt es kurzer Hand wie gefährlichen Atommüll in das Meer des Vergessens zu versenken, aus dem dann die nächste Exegetengeneration

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es wieder ganz oder teilweise hervorholt? Es ist beschämend, daß ein katholischer Ekklesiologe wie Congar in den Konzilsvorberatungen die Frage der Anwendbarkeit des Komplementaritätsbegriffs auf die Konfessionsproblematik öffentlich erwägen kann, während wir ganz selbstverständlich mit den Methoden einer zweiwertigen Logik vorgehen.

Was hier unvereinbar ist, ist offenbar zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden verstanden worden — die Empfindlichkeit für Widersprüche ist zudem offensichtlich mit der Zeit sehr gestiegen. Offenbar kann niemand in der Kirche diese Frage nur einfach dem Spezialismus der Exegeten überlassen. Wie aber dann, wenn zwar nicht die von Käsemann berichtete Fülle der theologischen Konzeptionen schlechthin, aber doch ihre kirchenbildend wirksamen Hauptrichtungen in Gestalt der Konfessionen die Ergebnisse geistes- und sozialgeschichtlicher Entwicklungen im Raum der Kirche sind, beschreibbarer Auflösungsprozesse, die das bis dahin aufeinander Bezügliche trennen und gegeneinander stellen?! Kann dieser geschichtliche Vorgang des zweiten Jahrtausends horizontal auf den in frühen Jahrhunderten textlich abgeschlossenen Kanon aufgetragen werden? Und was hindert grundsätzlich, daß dieser im 1. Jahrtausend sichtbar nicht wirksame, im 2. manifeste Prozeß nach seinem Auslaufen im 3. Jahrtausend eine ganz andere Wendung nimmt? Es spricht manches dafür und kann jedenfalls nicht einfach ausgeschlossen werden, daß wir uns einem solchen Umschlag nähern. Was Käsemann hier meint, ist die Entfaltung nicht mehr einer einzigen einheitlichen rationalen Wahrheit (wie es der Katholizismus proponiert), sondern die gleiche Entfaltung nominalistisch nebeneinander stehender Theologieansätze, die allmählich zur vollen Reife und Sichtbarkeit kommen. Die Vernachlässigung der Zeitdifferenz zeigt eben, daß hier bei ihm von Entfaltung und nicht von Geschichte die Rede ist. Nur in der Geschichte wird der Kanon und die ihm entsprechende Kirche ungeteilt oder geteilt als Einheit begriffen. Tradition ist eben nicht das Weiterschieben eines Gegenstandes auf dem Fließband der Zeit, welcher dann allmählich abgegriffen und umbearbeitet wird: es ist die zugleich kontinuierliche wie differente Lösung gegebener Existenzprobleme. Ist es nicht schon unsere Vorentscheidung, wenn wir die Schrift nicht mehr auf Einheit auslegen?

Vollends ist diese Fragestellung nur möglich durch die stillschweigende Gleichung von Evangelium und Kerygma. Aber von dem in der Schrift bezeugten, auftragsgemäßen Handeln der Kirche ist die kerygmatische Verkündigung nur ein Teil. Taufe, Abendmahl, Sündenvergebung als konkreter Zuspruch, Geistverleihung werden zwar in der Schrift bezeugt und durch sie ausgewiesen und legitimiert, aber sie sind nicht identisch mit den differenten Theologien in der Schrift. Das Reden über sie ist etwas anderes als ihr Vollzug. Sie sind mit dem Kerygma verbunden, stehen niemals im Gegensatz zu ihm, aber sie

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sind eben auch nicht mit ihm identisch. Eben deshalb überfordert die Gleichung Kanon-Kircheneinheit (auch als verneinte Frage) die Intention des Kanons, um ihn dann auch wieder zu unterbieten. Das sakramentale Handeln der Kirche im weitesten Sinne besteht von Anfang an in durchhaltender Identität der Intention und wird nicht in der gleichen Weise wie das Kerygma im Kanon geprägt. Das Sakrament ist eines, und die Sakramentstheologie ist ein anderes. Die Kanonproblematik in diesem Sinne beruht auf den Voraussetzungen einer einseitig kerygmatischen Theologie. Die Kirchenrechtslehre, die kritisch erwägt, was die Kirche mit Recht tut, kann einfach durch die Bindung an ihren Gegenstand dieser Versuchung, den Kanon zu überlasten, nicht verfallen. Genau zu unserer Frage der Konfessionen sagt Wilhelm Maurer als Kirchenhistoriker:

„Gibt es einen gemeinsamen Punkt, an dem die Bekenntnisentwicklung aller Sonderkirchen sich treffen und von dem aus sie in einem gemeinsamen Bette, ohne die verschiedene Herkunft zu verleugnen, weiter fließen kann? Und die Frage lenkt den Blick zurück in die Geschichte: gibt es da ein gemeinsames Anliegen, von dem alle Sonderkirchen in ihrer Auseinandersetzung ausgegangen sind, einen gemeinsamen Ort wo sie alle die Christusoffenbarung auf Erden gesucht haben? Und wenn es ihn gibt, sollte es möglich sein, daß sie an diesem Orte nicht alle dasselbe, nämlich Christus gefunden hätten? Nun aber rufen die einen ,Hier’ und die anderen ,Da ist Christus’. Sollte dieser Widerspruch nicht etwa daher kommen, daß die disputierenden Gegner in ihrer Erregung wohl von demselben Orte ausgegangen, nun aber weggegangen sind, ihn wirklich verlassen haben? … Der gemeinsame Ort, wo die Christenheit von Anfang an der Christusoffenbarung begegnete und zur Antwort darauf herausgefordert wurde, ist das Sakrament. Das Bekenntnis ist die Antwort, die die Kirche dem im Sakrament sich ihr schenkenden und sie in seine Gemeinschaft rufenden Christus gibt. Und das Gesetz der Bekenntnisentwicklung ist das Gesetz des sakramentalen Lebens der Kirche.” 49
„In der Spannung von Wort und Sakrament liegt das eigentümliche Gesetz der Bekenntnisentwicklung innerhalb der abendländischen Kirche beschlossen.” 50

In dem Verlust dieser Spannung, ihrem Nichtmehraustragen, in der Zerstörung der Einheit von Wort und Sakrament sieht er mit der eintretenden Rationalisierung den Grund auch zum Verfall der Bekenntniseinheit.51

Je konkreter die Kirchenrechtslehre sich an das hält, „was die Kirche tut”, wird sie mit der Einheit dieses Tuns auch sich der Einheit der Kirche wenigstens nähern, zu ihr beitragen.

Die Möglichkeit jener Kanonkritik, der konservativeren Luthers und

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Maurers, und der radikaleren von Harbsmeier und Käsemann beruht auf einer gemeinsamen Voraussetzung. Sie können sich zu diesem Umgang mit der Schrift, einer wertenden Unterscheidung innerhalb des Kanons nur dann für berechtigt halten, wenn sie einen Unterscheidungsmaßstab besitzen, den sie maßgeblich anwenden können. Das sagt auch Maurer ausdrücklich. Damit wird aber — vor jeder Bewährung dieser These — grundsätzlich mit der Möglichkeit gerechnet, daß sich innerhalb des Kanons evangeliumswidrige Schriften in einem wesentlichen Ausmaße befinden — Schriften, die das Evangelium verfälschen, verdunkeln, ihm mindestens im Wege stehen, es nicht „treiben”. Die Apostel und Evangelisten freilich würden das mit Entrüstung zurückweisen. Sie hätten also nach unserem Urteil optima fide geirrt.

Maurers Begründung dieser Kritik dahin,52 „daß das Wesen des rechtfertigenden Glaubens nach Luther … weder ein schöpferisches Prinzip noch ein kritisches sei; er könne seinen Gegenstand und seinen Inhalt nicht hervorbringen, und deshalb auch von sich aus auch daran keine Kritik üben, was zu glauben sei und was nicht. Er sei vielmehr ganz an das Wort des apostolischen Zeugnisses gebunden …” überzeugt nicht. Es geht hier nicht darum, was dieser Glaube an und für sich und im dogmatischen System ist, sondern nur darum, wie er in Bezug auf den Kanon gebraucht wird. Das, was Christum treibt, was nicht Rechtfertigung aus den Werken ist, muß begriffen und erfaßt werden, um dann rückwärts wieder auf den Kanon angewendet zu werden. Daher die Zurückstellung des Hebräerbriefs und der Apokalypse, die in solchem Maße christologischen Charakter tragen, daher diejenige des Jakobusbriefes, weil er den Werkgerechtigkeit Raum zu geben scheint. Gewiß wird nicht ein theologisches Prinzip gegen den Kanon ausgespielt, sondern eine aus der Schrift erhobene, an sie gebundene Erkenntnis. Aber von dieser partiellen Schrifterkenntnis wird das Ganze der Schrift her beurteilt. Ich sehe nicht, wie das geleugnet werden kann. Das ist freilich etwas ganz anderes als Willkür und Subjektivität, aber eben doch eine ganz bestimmte auswählende und wertende Vorwegentscheidung.

Diesen Maßstab aber bildet und formuliert der Ausleger selbst. Um aber dem Vorwurf der Subjektivität zu entgehen, behauptet er seine Evidenz — und da auch dies nicht ausreicht, muß er eine besondere Evidenzeigenschaft der Schrift selbst, ihre Durchsichtigkeit, ihre Selbsteröffnung, ihre Perspicuitas behaupten und zum Grundsatz erheben.

Die Lage, die sich so mit der Öffnung des Kanons in beiden Kirchen in beiden Richtungen ergeben hat, kann am ehesten durch den Vergleich mit der Entwicklung des Verhältnisses von Richter und Recht erhellt werden. Beachten wir die schon erwähnte Strukturanalogie der dogmatischen Wissenschaften und lassen wir auch hier die sinnlose Gleichung von Recht und Gesetz beiseite, so erschließen sich sehr merkwürdige Entsprechungen.

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Die Bereitschaft derjenigen katholischen Theologen, welche die Suffizienz der Schrift vertreten, trotzdem der Tradition und dem Lehramt einen solchen Platz einräumen, beruht auf der Ausbildung und Rezeption des Souveränitätsbegriffs. Das (unfehlbare) Lehramt wird mit den gleichen Gründen eingeführt, mit denen (später) auch die Souveränität der Staatsgewalt begründet wird: sie ist die Gewährleistung der jederzeitigen Entscheidungsfähigkeit, welche durch kein vorgegebenes, kein irrationales Moment, aber auch durch kein Interregnum unterbrochen und in Frage gestellt wird. Diese Souveränität ist im Grundsatz über das Recht gestellt, auch wenn sie sich ebenso grundsätzlich rechtsstaatlich verhält.

Der Richter wird zum souveränen Gesetzgeber, der gewiß nicht contra legem gegen das ihm vorgegebene Recht handeln will, der aber durch seine rechtschöpferische Tätigkeit — ohne formelle Aufhebung oder Tangierung des Bestehenden dessen Bedeutung verändert. Die dogmatische Ausbildung etwa der Mariologie verändert und vermindert die zentrale Bedeutung von Trinitätslehre und Christologie.

Jene katholische Haltung entspricht dem Anspruch eines Richters, das Recht dort, wo es ihm keinen Grundsatz an die Hand gibt, frei rechtsschöpferisch zu ergänzen. Er will damit weder willkürlich noch gar widerrechtlich handeln — im Gegenteil: es ist sein Amt und seine Pflicht, die vor ihn gebrachte Klage zu entscheiden. Er kann sich dem nicht mit der Begründung entziehen, daß das aufweisbare Recht ihm keinen Anhalt gebe. Aber eben von hier aus kann er das Recht aus dem Angeln heben. Die Frage, wann diese Ergänzung des Bestehenden notwendig ist, unterliegt seiner pflichtmäßigen Kompetenz. Sie kann ihm nicht abgenommen werden, weil eben dadurch die Wirksamkeit seiner rechtsschöpferischen Tätigkeit am entscheidenden Punkt in Frage gestellt werden würde. Aber freilich setzt dieses Handeln voraus, daß er gefragt ist, daß ein Streit vorliegt. Die Frage der Opportunität, welche auf dem Vatikanischen Konzil und bei den Rundfragen über das Assumptionsdogma von 1950 den Bischöfen vorgelegt wurde, hat nicht nur praktisch-taktische, kirchenpolitisch oder pastoral-pädagogische Bedeutung, sondern auch die Seite, daß mit der Angezeigtheit, der Gebotenheit der dogmatischen Entscheidung zugleich ihr Rechtsgrund in Frage steht. Und es ist mit Recht gegen das Dogma von 1950 angeführt worden, daß eben dieser Entscheidungscharakter und damit diese Angezeigtheit der Dogmatisierung keineswegs gegeben war. Neben der protestantischen Kritik am Dogma, die Heiler53 zusammengetragen hat, sind bei ihm die Stimmen besonders interessant, welche den Gedanken der Assumptio ausdrücklich bejahen, aber die Dogmatisierbarkeit ablehnen. Haben schon einzelne Reformatoren als pia opinio die Assumptio vertreten, so in der Gegenwart einzelne orthodoxe und anglikanische Bischöfe. Aber gerade sie wehren sich gegen die Dogmatisierung,

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und zwar aus dem wesentlichen kirchenrechtlichen Grunde, daß keine echte Entscheidung über eine Frage des Glaubens innerhalb der Christenheit oder zwischen Christenheit und Welt vorliegt, wie einst bei dogmatischen Entscheidungen, sondern eine Darstellung des Selbstverständnisses der Kirche in typologischer Form und dogmatischer Verkleidung. Diese Herausnahme, dieses Heraustreten der dogmatischen Entscheidung aus dem Streitverhältnis, aus dem Bekenntnisprozeß ist nur auf Grund der schon erörterten Metaphysizierung des Dogmenbegriffs möglich.

Die Begründung in der Tradition trifft diesen Tatbestand nicht mehr. Die Tradition ist hier nicht mehr Grund solcher Bildungen, sondern nur noch modus: nicht eine neue prophetische Erleuchtung soll zur Geltung kommen, sondern nur etwas, was sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade in der Glaubensentwicklung, im sensus ecclesiae vorgezeichnet und entwickelt hat. Denn daß diese Lehren den Katholizitätsmaßstäben des Vincenz von Lerinum nicht entsprechen (semper, ubique, abomnibus creditum) liegt auf der Hand. Es ist freilich ein rechtsstaatlicher, sehr sorgfältig mit dem bestehender Recht umgehender und im übrigen aufgeklärter Absolutismus — aber seine Souveränität steht desto fester.

Je mehr dieser Richter supra legem sich stellt, praeter legem entscheidet, desto folgerichtiger ist die protestantische Gegenposition. Die Fülle der Mißbräuche, welche in den lutherischen Bekenntnisschriften ausgebreitet werden und uns zum Teil kaum noch verständlich sind, haben nicht nur eine quantitative Bedeutung. Sie zeigen auch etwas qualitativ Bedeutsames an. Die Fülle der willlkürlichen Bildungen aller Art zeigt an, daß es mit der Abwehr einer Summe von gravamina nicht getan ist, sondern daß die Quelle dieser immer neuen Mißbildungen verstopft werden muß. Was demgegenüber aufgestellt wird, ist rechtlich gesehen, ein richterliches Prüfungsrecht und eine entsprechende Prüfungspflicht, die Lehren und Ordnungen der Kirche auf ihre Schriftgemäßheit zu prüfen, damit er nicht die Gemeinde Gottes durch Menschenwerk beschwere.

Aber um diese richterliche Prüfung vorzunehmen, muß ein Maßstab vorhanden sein, welcher sie ermöglicht. So bedeutet das Schriftprinzip als solches nur eine Limitation der Quelle, auf die sich die Auslegung allein zu beziehen hat. Der mehr allgemeine und wenn man so will formale Grundsatz ist von Luther in dem „Christum treiben” formuliert. Die Ablösung der Aussage von der Person wird in seinem Wort schon in der Gegenüberstellung von Paulus und Judas usf. sichtbar. Denn wenn Judas, Pilatus usf. zu unfreiwilligen Zeugen Jesu werden, so ist doch ihre Stellung und Bedeutung eine andere als diejenige der erwählten und beauftragten Apostel, der Evangelisten, welche bewußt das

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Evangelium verkünden, und eben nicht gegen sie auswechselbar. Präziser ist das generelle Vorverständnis der Schrift in der Rechtfertigungslehre, bekenntnismäßig in Art. IV als dem zentralen Stück der CA formuliert. Der apostolische Zirkel ist auch hier von einer Seite aufgebrochen.

Erst diese — cum grano salis gesagt — rechtsstaatliche Theologie hat nun mit einem Schlage eine Fülle von kirchlichen Traditionen der Lehre und des Kultus nicht ohne Purismus beiseitegetan. Sie ist aber immer noch in hohem Maße konservativ. Im höchsten Rang steht ihr die Schrift als eine Art Verfassungsurkunde. Wird sie auch sub specie justificationis ausgelegt, so doch nicht auf Widerspruchslosigkeit rationalisiert. Erst die moderne historisch-kritische Theologie hat einen grundsätzlich neuen Schritt in der Entwicklung des Prüfungsrechts getan. Sie hat etwas gewonnen, was erst in der rechtsstaatlichen Entwicklung der neuesten Zeit denkmöglich geworden ist: verfassungswidriges Verfassungsrecht — so evangeliumswidrige Schrift. Die Konsequenzen im weltlichen Bereich beschäftigen uns heute. Verfassungswidriges Verfassungsrecht nach richterlichem Urteil: das heißt, daß der Richter einen Teil der Verfassung deswegen außer Kraft setzt und setzen muß, weil er den in anderen Teilen derselben Verfassung ausgedrückten Grundsätzen nicht oder nicht voll entspricht. Regelmäßig handelt es sich um historisch erwachsene Rechtsstände, die eben um dieser Historizität gewissen Allgemeingrundsätzen, wie etwa dem Gleichheitsgrundsatz, demjenigen des Schutzes der Würde des Menschen usf. nicht entsprechen. Die Verfassung in der Verfassung, der Kanon im Kanon ist bedingt durch die vorgängige Reduktion beider auf ein oder mehrere definible Generalgrundsätze. In der Verfassungsgeschichte vollzieht sich hier der Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat: der Rechtsstaat schützt den historisch erwachsenen Rechtsstand einschließlich der Verfassung grundsätzlich ohne einen Ausgleich zwischen den in ihm sehr wohl lebenden und wirksamen Grundsätzen und der geschichtlichen Kontingenz der einzelnen Bildungen und Rechtsstände zu versuchen. Der Justizstaat sieht einen Schutz gegen Willkür und Ungleichheit nur noch in der Unterordnung der Gesamtrechtsordnung unter fundamentale Generalprinzipien und vertraut diesen Schutz letztlich der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrem zentralen Prüfungsrecht an. Das hat die Folge, daß mit mehr oder minder Konsequenz der Richter an die Stelle des Gesetzgebers, der Regierung tritt, der er bis zu einem gewissen Grade sagt, was sie zu tun hat. Das Verfassungsleben vollzieht sich mehr und mehr in einer Fülle justizmäßiger Verfahren. Regierung und höchstrichterliche Rechtsprechung geraten in ein zwielichtiges Verhältnis, in welchem die Regierung ausgehöhlt, die Rechtsprechung überfordert wird.

In einer sehr ähnlichen Lage und Struktur befindet sich die evangelische Kirche und Theologie. Wir wären noch glücklich, wenn wir sie

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gegenüber dem aufgeklärten Absolutismus Roms als polnischen Reichstag einer aristokratischen Gelehrtenrepublik der Theologieprofessoren vorstellen könnten, wo ein jeder das liberum veto hat und den Säbel seiner Exegese schwingt. Die Störung des Verhältnisses von Regiment und Judikatur, ihr Antagonismus ist viel bedeutsamer und beschwerlicher. Sie drückt sich psychologisch in der immer wieder aufbrechenden Gehässigkeit der theologischen Lehre gegen das legitime Kirchenregiment aus, wo immer es sich scheinbar oder tatsächlich eine Blöße gibt. Was hier auseinanderklafft und -bricht, ist im römischen System gewaltsam verbunden, wo die infallible Autorität des Lehramtes die Freiheit des Urteils bricht. So stehen sich in beiden Systemen gegenüber: eine Judikatur, welche an der konkreten Verantwortung des Regiments keinen Teil hat und ein Regiment, welches sich in eigenständiger Letztverantwortung dem Urteil grundsätzlich entzieht.

Aber beides: richterliches Prüfungsrecht, das sich letztlich entscheidend dem Regiment vorordnet wie infallible plenitudo potestatis sind alternative Lösungen des Souveränitätsproblems, welche eben den Souveränitätsbegriff voraussetzen. Sie sind der staatsrechtliche Ausdruck der Aporie des modernen Staates, in dem Macht und Recht in einem prinzipiellen Sinne auseinandergetreten sind. Diese Aporie gehört in die Aporien des modernen, souveränen Denkens hinein, welche Gerhard Krüger54 nüchtern aufgewiesen hat. Wie man auch immer zu den von ihm vorgeschlagenen Lösungen stehen mag: der Tatbestand dieser Aporetik als solcher ist wohl kaum bestreitbar. Liest man seine Darstellung, so sieht man sich geradezu in eine Diagnose der kirchlichen Situation versetzt. Der Auseinanderfall von Seele und Leib, Individuum und Gemeinschaft, von Mensch und Kosmos kennzeichnet auch sie, ausgedrückt und sich ausdrückend in ihren konkreten Rechtsformen. Ihre alternativen Rechtsformen aber durchbrechen diese Aporetik in keiner Weise, drücken sie vielmehr klassisch aus.

Nur die Kirche selbst ist blind dagegen — freilich nicht so blind, um nicht im Auge der anderen Konfessionen den Splitter der Souveränität zu entdecken — und den eigenen Balken zu vergessen.

Der usus scripturae im Raum des Bekenntnisrechts präjudiziert also in radikaler Weise die Verfassungsformen der Kirche. Eine eigentümliche Dynamik aber treibt hier die abendländische Kirche vorwärts: sie begnügt sich nicht mit Acta 2, 42 „in der Apostel Lehre, im Brotbrechen und im Gebet zu bleiben”. Sie würde glauben zu stagnieren, wenn sie bei intaktem Kanon diesem nicht neue Themata der Mariologie als Ausdruck ihres Selbstverständnisses hinzufügte. Und sie würde eben so meinen unfrei zu sein, wenn sie nicht das Evangelium in einem faßte und alles übrige dem zuordnete oder ausschiede.

Zweierlei ist hier deutlich: Verkündigung und Lehre haben sich aus dem in Acta 2, 42 angedeuteten Zusammenhange abgelöst und

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verselbständigt, — und zweitens, ein dynamisches Element existenzialer Interpretation drängt entweder zur Expansion oder zur Restriktion des Aussagebereiches des Kanons.

Die Welt in ihrer Weltlichkeit bekennt sich offen zu dieser Souveränität — die Kirche übt sie gleichermaßen, verdeckt sie aber mit den Begriffen der Infallibilität, der Perspicuitas, der Wissenschaftlichkeit. Menschlich-gesetzliches Herrschen — funktionale Selbstentäußerung — autonome Vernünftigkeit — diese drei Verhaltensweisen, entbunden durch die Auflösung der gottesdienstlichen Einheit,55 scheinen sich hier wiederzufinden. Die Kirche hat darin vor der Welt nichts voraus oder doch eines: daß sie selbst diese Souveränität entbunden, hervorgebracht und in klassischen Rechtsgestaltungen früher, folgerichtiger, prägnanter verwirklicht hat als irgendein Staatswesen.

Immer noch vollziehen sich in ihrem Raum, in den Entscheidungen ihres opus proprium und darum in ihrem Recht auch die wesentlichen Entscheidungen für die Welt. Und darum ist immer noch der so leicht beiseitegeworfene Stein des Kirchenrechts, wenn etwa nicht der Eckstein, so doch ein Prüfstein. Auch in ihrem bewußten Denken wird heute diese Aporetik fortschreitend aufgedeckt, wie in der Philosophie, wenn auch ebenso wenig gelöst. Kein einzelner wird hier eine metanoia, eine Kehre herbeiführen — aber man wird darauf zu bestehen haben, daß dieser Weg heute ungefähr zuendegegangen ist.

Manches bietet sich heute freilich an ersten Schritten an, um den Bruch mit dem souveränen Denken zu vollziehen: so auch in dem zentralen Verhältnis zwischen Person und Sachaussage. Die fruchtbare Analogie zum Problem des Verhältnisses von Richter und Recht trägt auch hier noch etwas aus. Das traditionelle Rechtsdenken, dem Martin Heckel mit so viel Mißtrauen begegent,56 orientierte sich am Vorbild der Vorgänger, in deren Spruch sich personale Weisheit und materieller Rechtsgedanke verbanden. Dieser Traditionalismus stellte sich in die Nachfolge des Vorbilds, legte sich auf Identität aus, ohne zu sehen, daß es nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe tun; er bezog damit unreflektiert die unverwechselbare Neuheit der eigenen Entscheidung mit ein, das frühere fortbildend. So können wir nicht mehr verfahren. Wir sehen heute unsere unverwechselbare und einzigartige Entscheidung ex actu. Tradition ist heute nicht mehr das Vorbild, dasselbe was wir sind, in dem wir uns selbst und unser Eigentlichstes erkennen, wie der Sohn im Vater als Vorbild und antecessor. Tradition ist heute genau das Umgekehrte, nicht das eigentlich Eigene, sondern das ganz andere, das in der Begrenztheit unserer aktuellen Sicht nicht enthalten ist und sein kann, was sich ihr entzieht, ihr entschwindet und entschwunden ist.

Die geistliche Erkenntnisse, um die es hier geht, werden nicht nur gewonnen: sie werden auch wieder verloren. Die restlose Übertragbarkeit der Begriffe, nach Dilthey die konstituierende Voraussetzung der

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Wissenschaftlichkeit, besteht hier nicht. Die Schrift eröffnet sich, aber sie verschließt sich uns auch nach bestimmten Richtungen — oder wir verschließen uns ihr in einer späteren Zeit in oft verwunderlich sichtbarer Weise. Es ist aber kein Apostel und Evangelist, kein Papst, Kirchenvater, kein Reformator, Erweckungsprediger, kein theologisches Schulhaupt oder sonst wer so hochgefürstet, daß er das Evangelium in eins zu fassen imstande und berechtigt wäre, so sehr die Rationalität unseres Denkens und die Notwendigkeit der Entscheidung uns dahin treiben. Es muß vielmehr die unausweichliche Begrenztheit unserer Sicht, unseres aktuellen Urteilens durch die traditio mere explicativa aufgebrochen und aufgefüllt werden. Ist es so schwer einzusehen, daß in der aktuellen Sicht sich zwar alles zusammendrängt, was wir zur Zeit zu sehen vermögen, daß sie aber zugleich die begrenzteste ist? Aber eben dies zeigt zugleich, daß eine Auffassung von Tradition, die in irgendeinem Sinne der „Offenbarung neuer Sachverhalte, nicht nur die von den Aposteln überlieferten Sachverhalte in neuer Weise” als eine noch nicht dagewesene Thematik enthüllt,57 ein Mißverständnis ist. Sie widerspricht dem Begriff und Vorgang der Tradition selbst. Dieser additive Traditionsbegriff ist erst möglich, nachdem die Schrift — als eine abgeschlossene — rationalisiert ist. Der Faden der Tradition geht nur durch die Schrift hindurch.

Gerade die Durchführung der Hauptgegenstände des Kirchenrechts, der einzelnen Handlungen der Kirche und ihre Zusammenhang zeigt sehr deutlich, wieviel geringer der Spielraum der Entscheidungen innerhalb dieser Thematik ist, wie sehr unsere heutigen Entscheidungen bei aller Freiheit in denen der Vergangenheit hängen, ohne durch sie einfach nur determiniert zu sein.

Die apostolische und katholische Kirche hat recht gehandelt, als sie die Tradition des Evangeliums in der Schrift sammelte, indem sie sich und jedem Christen untersagte, dieser abgeschlossenen Thematik etwas hinzuzusetzen, aber auch sich urteilend über den Bestand der Schrift zu setzen.

Sofern das tridentinische Concil traditiones mere orales als praeter-kanonische „neue Sachverhalte” lehrt, sofern eine reformatorische Kanonkritik bestimmte Teile des Kanons außer Kraft zu setzen beansprucht, befinden sich beide in formellem Gegensatz zu der bekenntnisrechtlichen Rezeptionsentscheidung der alten Kirche und stellen beiderseits ihre behauptete Identität mit dieser Kirche in Frage.